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berührt wandten sich die meisten Kunden von der Szene ab. Ein erneutes „Alles bezahlt“ prallte in ihre Rücken und blieb unwidersprochen. Ein distinguiert wirkender Mann mit schütterem Haar half dem Malträtierten auf die Beine und begann, die gekauften Spirituosen in Plastiktaschen zu verpacken, während er begütigend auf ihn einredete. Der Detektiv war wortlos davon gestolpert, ohne sich zu entschuldigen. Der Zipfel einer Packung Karamellbonbons lugte aus einem Stapel Pralinenschachteln. Der Besucher hatte das Handgemenge mit ausdruckslosem Gesicht verfolgt. Niemand hatte das Recht, die Beute zu verscheuchen.

      Er musste noch einmal zu dem Hund des Trinkers, der vor dem Supermarkt angeleint war. Der Hund war von Anfang an ein Unsicherheitsfaktor gewesen. Andererseits hatte er sich den Schwierigkeitsgrad selbst ausgewählt. Er drehte sich um. Er musste sich beeilen.

      IV.

      Die Kommune hatte den Hügel am nördlichsten Kamm der Stadt schon lange aufgegeben. Er rückte in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn die sommerliche Nachrichtenflaute die Pöbeleien zwischen Aussiedlern und Asylbewerbern und dem Drogenhandel jugendlicher Banden berichtenswert erscheinen ließ. Zu allen übrigen Zeiten dämmerten die ehemaligen Kasernen wie abgetakelte Relikte einer wehrhaften Vergangenheit auf den kahl geschorenen Flächen dahin. Aus ihren ockerfarbenen Flanken wuchsen Wälder von Satellitenschüsseln, die die Balkone zu futuristischen Installationen verfremdeten. Die in verwirrenden Mustern gespannten Wäscheleinen, die selbst bei winterlichen Temperaturen und in strömendem Regen mit Bettwäsche und Kinderkleidung reich bestückt waren, milderten die Trostlosigkeit des Anblicks nur vorübergehend.

      Was fehlte, waren die Menschen. Die Bewohner verschanzten sich hinter ihren privaten Träumen, an denen sie mit Hilfe von Alkohol und Drogen verzweifelt festhielten. Sie öffneten ihre Türen und Fenster nicht mehr und holten sich die Welt nur noch über ihre Fernseher in die Wohnung. Nur die Jugendlichen zeigten sich mit harten Gesichtern und martialischem Gehabe auf den trostlosen betonierten Flächen. Sie zündeten Holz in Metalltonnen an und warfen den Vorbeigehenden finstere Blicke zu. Es gab nichts mehr, was sie zerstören konnten. Die Bushaltestelle war ein Haufen verbogenen Gestänges und an den umgestürzten Spielgeräten des Kinderspielplatzes hatten sie schon lange das Interesse verloren. Für kurze Zeit hatten sie sich in der Stadt zusammengerottet, aber die Stadt hatte sie mit harschen Methoden auf ihren Hügel zurückgetrieben, wo man sie gewähren ließ. Besuch erhielten sie nur von einem Abgesandten einer rechtsextremen Gruppierung, der T-Shirts mit eindeutigen Aufdrucken verteilte.

      Der Mann hatte sich auf eine der Bänke gesetzt. Ein Teil der Sitzfläche war herausgerissen und der traurige Rest mit silbrigem Graffiti verunstaltet worden. Der Mann hatte die verbliebenen Bohlen sorgfältig mit einem Taschentuch abgewischt, bevor er sich setzte. Er hielt eine Einkaufstüte in seinen Händen, die er zwischen seinen Beinen pendeln ließ. Er war gerade so weit von den Jugendlichen entfernt, dass sie ihn nicht als Provokation empfanden. Sein Blick war gesenkt. Unter der blauen Baseballkappe heraus beobachtete er den rechten Bau der kleinen Siedlung, der aus dem Areal hervorstieß wie ein steinerner Rammbock. Er hatte die aufmerksamen Jugendlichen und die körperlosen Augen hinter den Fenstern allmählich an seine Anwesenheit gewöhnt. Dabei hatte er mehr Zeit investiert, als er ursprünglich veranschlagt hatte. Er zuckte mit den Achseln und griff in die Tüte. Langsam holte er eine Flasche heraus und trank.

      Seinen Wagen hatte er auf einem Forstweg am Fuß des Hügels abgestellt. Die Waldpfade waren ungepflegt und selten begangen. Farne griffen beherzt nach seinen Hosenbeinen und die stachligen Ranken von Brombeersträuchern wippten unschuldig vor seinem geröteten Gesicht. Er hasste diese Aufstiege, aber seine Intuition sagte ihm, dass diese Form der Annäherung empfehlenswerter war als die Fahrt mit dem Bus, der seine Ladung, so schnell er konnte, in der Siedlung absetzte und ratternd das Weite suchte.

      Früher war hinter dem verlassenen Spielplatz ein Kiosk gewesen. Er hatte seinen Betrieb wohl schon vor einiger Zeit eingestellt. Eine hellblaue Jalousie hing schief an dem Schaufenster herunter. Aus Neugierde hatte er sich nachts den ehemaligen Kiosk mit der verblassten Reklametafel genauer angesehen und bemerkt, dass hinter dem Fenster Menschen wohnten. Bläuliches Geflimmer und das Gemurmel von Stimmen drangen nach draußen. Wer immer den Kiosk aus seinem Wohnzimmer heraus betrieben hatte, tat dies nicht mehr. Die Bewohner verzichteten auch auf Tageslicht, denn der Rollladen bewegte sich nie. Er zeigte der Welt sein schiefes Grinsen und beschränkte sich auf seine neue Rolle als der Hüter von Geheimnissen.

      Der Besucher konnte sich gut vorstellen, wie der Kiosk floriert haben mochte, wie Kinderlachen über die Vorhöfe schallte und die ganzen unerlässlichen süßen, salzigen und fettigen Kleinigkeiten den Besitzer wechselten. Später mochte im Sortiment der Schwerpunkt auf Bier, Spirituosen und Zigaretten gelegt worden sein und sich Männer in Unterhemden und Sandalen rauchend und räsonierend vor dem Fenster versammelt haben. Mit schwergewichtigen Gesten und erhobener Stimme hatte man sich der Weltprobleme angenommen und sie in der Vielfalt angetrunkener Meinungen gelöst, denn Alkohol machte rechthaberisch.

      Der Besucher verstaute die Flasche vorsichtig in der Tüte und rückte die Kappe zurecht. Damals hätte er sich mit Leichtigkeit in die Phalanx aus Weltverbesserern und Melancholikern, Maulhelden und Schlägern einreihen können. Er hätte weit weniger Vorsicht walten lassen müssen als in der exponierten Lage, in der er sich gegenwärtig befand.

      Es war später Nachmittag. Er zog ein abgenutztes Notizbuch aus einer Innentasche des Blousons und machte sich Notizen. Es war wichtig, dass er jeden seiner Schritte dokumentierte. Von der Qualität der Dokumentation hing die spätere Bewertung ab.

      Er schaute auf die Uhr. Der Bus würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nervös befeuchtete er die Lippen. Die Rap-Musik der Jugendlichen war lauter geworden. Die aggressive Sprachmelodie und die Bässe mischten sich zu einem Klangbrei. Der Besucher stand mühsam auf und stützte sich schwankend auf seinen Knien ab. Er durfte nicht durch unbedachte Aktionen aus seiner Rolle fallen, bevor er nicht näher an die jungen Männer herangekommen war. Mit der linken Hand griff er nach dem Werkzeug in seiner Jackentasche, das er gleich brauchen würde. Geistesabwesend streichelte er über den geriffelten Griff. Das vertraute Gefühl an seinen Fingerspitzen beruhigte ihn. Zwei der großspurigen Jungen hatten sich aus dem Kreis um den Gettoblaster gelöst und schauten ihm entgegen. Es waren die bekannten schmalen Pickelgesichter mit den langen Hälsen, um die sie Goldketten gehängt hatten.

      Er bemühte sich, das Butterflymesser zu ignorieren, das der schlaksige Junge mit kunstvollen Bewegungen immer neue Figuren ausführen ließ, bevor es die nackte Klinge zeigte. Er ignorierte auch die schnoddrige Bemerkung in dem eigenartigen Jargon, der offensichtlich aus einem Jungen einen Mann machen sollte. Breitbeinig stand der Junge vor ihm. An den Fingern trug er protzige Ringe. Mit abgewandtem Gesicht kam der Mann zum Stehen und setzte klirrend seine Plastiktasche ab. Er sah kurz nach oben und betrachtete den schnell dahin ziehenden Wolkenschaum.

      „Tannenzapfenechsen haben es im Unterschied zu uns außerordentlich schwer“, sagte er mit halblauter Stimme an dem Kopf des Jungen vorbei. „Sie gebären Nachwuchs, der ein Drittel ihres Körpergewichtes ausmacht und in der letzten Phase der Tragezeit das Atmen, Fressen und Laufen nahezu unmöglich macht.“

      Der Jugendliche hatte das Messer sinken lassen und die Zuversicht war aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte verwirrt.

      Ansatzlos packte der Mann die Messerhand und bog sie mit einer schnellen Drehung im Gelenk. Mit einem überraschten Schrei ließ der Jugendliche das Messer fallen. Noch immer war die Stimme des Mannes sanft und unangestrengt. Er führte ein unscheinbares Instrument mit raschen Strichen über den Unterarm des Jungen. Blut quoll aus den Schnitten und bildete ein geometrisches Muster, bevor es an der Innenfläche des Unterarms herunterrann und in die Handfläche floss. Der Junge starrte mit vor Schreck geweiteten Augen auf seinen Arm. Er wurde bleich und seine Augenlider flackerten. Der Mann stützte ihn mit einfühlsamer Vorsorge. Mit prüfendem Blick schaute er auf die blutigen Linien, die er mit dem Teppichmesser gezeichnet hatte. Er konnte keinen Makel erkennen. Ein weißer Schmetterling taumelte vorbei. Das war ein gutes Zeichen. Er war zufrieden.

      „Die Belohnung für die Qual der Echse ist es, dass sie sich um die Jungen nicht mehr kümmern muss. Sie sind voll lebensfähig und für sich alleine verantwortlich.“ Nach einer kurzen

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