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worden war, aber es musste genügen. „Verschwindet von hier“, sagte er und beugte sich nach seiner Tasche. Mit einem Ächzen fischte er nach dem Butterflymesser und überreichte es dem Blutenden mit einer formvollendeten Verbeugung. Der Junge schrak vor der Bewegung zurück und schaute mit wilden Augen auf das Messer. Er hielt sich den Arm. Von der Hand lösten sich Blutstropfen und sprenkelten die vernachlässigte Grasnarbe.

      „Wenn ich wiederkomme, muss ich dir wehtun.“ Der Mann schickte seinen Lieblingssatz hinter dem Davonstolpernden her. Er entfernte sich rasch, ohne sich um die Gruppe Jugendlicher zu scheren, die den Verletzten verschluckt hatte. Sie würden sich zerstreuen, denn er hatte sich mit seiner unbegreiflichen Aktion außerhalb ihres Begriffsradius begeben und bedrohte ihre Welt aus Männlichkeitsritualen und kalkulierbaren Abläufen. Er war ein Perverser, den man mit verächtlichen Ausdrücken belegte, um das eigene Selbstwertgefühl zu päppeln und dann zufriedenließ.

      Die Haltung des Mannes hatte sich merklich gestrafft. Er strich mit weit ausholenden Schritten an einer dicht ineinander verwachsenen Gruppe Sträucher vorbei, die ohne den Beistand eines Gärtners konturlos wucherten. Sie trugen gelbe Dolden und lappiges Blattwerk. Insekten tanzten in aufgeregten Wolken. Der betäubend schwere Blütenduft war ebenso undefinierbar wie die Gattung der Pflanzen. Ein festgetretener Trampelpfad führte wie eine braune Wunde über die Böschung zu dem nächsten Wohnblock. Bröckelnder Hundekot und zerfetzter Müll häuften sich an den Stellen, wo verbrannte Flächen die bevorzugten Grillplätze der Bewohner kennzeichneten. Ohne innezuhalten, kickte der Mann gegen eine grüne Plastikflasche. Er war sich sicher, dass neugierige Augen ihn verfolgten und widerstand dem Impuls sich umzuschauen. Die Balkone hatten Augen und die Augen hatten Langeweile. Er packte die Tüte fester und überschritt den Kamm der Böschung.

      Zwei feiste Frauen in langen Mänteln verließen einen der Blocks. Sie hatten bunt gemusterte Kopftücher straff um ihre Haare gebunden. Ihre braunen Gesichter waren mondförmig und lebhaft. Ihre kugeligen Leiber zeichneten sich mit praller Fülle unter den Stoffmänteln ab. Es war unmöglich, das Alter der Frauen zu schätzen. Auch sie trugen Tüten, die ihre Arme merklich nach unten zogen. Eine der Frauen trug zusätzlich einen Kanister mit Speiseöl, der schwer gegen ihre Beine schlug. Der mühsam watschelnde Gang hatte etwas Ansteckendes, sodass auch der Besucher seinen Schritt zügelte und bei dem Anblick der Frauen eine gewisse Kurzatmigkeit zu spüren glaubte.

      Als sie ihn entdeckten, brach das hell zwitschernde Gespräch der Frauen ab. Er nickte in ihre Richtung und ging mit gesenktem Kopf weiter. Das Geräusch des Busses wehte den Hügel hinauf und brach sich zwischen den Häusern. Es war ein Lärm, der störend wirkte. Hinter einem der Fenster plärrte ein Radio los, als ob es durch den Bus aufgeweckt worden sei. Die Frauen beschleunigten ihre Schritte zu einem wogenden und prustenden Walzen. Sie wollten den Bus erreichen, der sie in die Stadt bringen sollte.

      Der Besucher wusste genau, was zu tun war. Er steuerte auf einen Haufen Bauschutt zu, der mit beständiger Regelmäßigkeit um zerborstene Plastikeimer, gierig greinende Toilettenschüsseln und ausgediente Geschirrleichen bereichert wurde. Hartnäckige Quecken und Löwenzahn begannen bereits, den Müll zu überwuchern und zarte Florfliegen wiegten sich über keck aufragendem Rittersporn. Der Mann bog nach links ab. Ein Hund bellte mit überschnappender Stimme und warf sich krachend gegen die Plastikumrandung des Balkons. Der Besucher lächelte. Er tastete nach der Schnauze des Hundes, die sich seiner Hand entgegen schob. Eine schwere Kette rasselte und spannte sich. Die Hundeschnauze schnüffelte und erkannte mit einem zufriedenen Winseln die Hand. Es war die Hand eines Freundes. Er beleckte sie. Sein Besitzer würde ihn am Abend losketten und ihn auf der Wiese laufen lassen, wenn es ein guter Tag war. Vielleicht würde er ihn aber auch beschimpfen und treten, wenn es ein normaler Tag war. Das Jahr hatte für alle Bewohner der Siedlung mehr normale als gute Tage.

      Der Besucher glitt an der rissigen Fassade des Wohnblocks vorbei. Kinderstimmen hallten über die Fläche. Ein betrunkener Mann blökte heiser von einem Balkon. Die kleine Prozession der Busfahrer näherte sich den Behausungen. Nach wenigen Schritten sah er sie in einiger Entfernung auf die Bauten zugehen. Die meisten von ihnen waren Frauen, die sich mit Tragetüten plagten und Kinder, die die Ruhe störten. Der Bärtige schlurfte als einer der Letzten über den Asphalt. Er folgte dem mageren Hund, der ungeduldig an der Leine zog. Sein Gang hatte sich verändert. Er schien weiter geschrumpft zu sein. Was er an Länge eingebüßt hatte, machte er mit einer ballerinahaften Gestik wett. Seine Arme beschrieben unvollendete konzentrische Kreise und rissen den Hund aus seinem Vorwärtsdrang. Das Tier quittierte die unangemessene Behandlung mit dem Gleichmut der Gewohnheit.

      Der Besucher setzte den Feldstecher an. Der Mund des Trinkers bewegte sich unablässig und die scharfen Schatten von Mann und Hund mühten sich, die Pantomime in der schräg stehenden Sonne nachzuvollziehen. Wiederholt sackte der Bärtige in die Knie, ohne sein Gespräch zu unterbrechen. Er hielt die Tüte mit den Flaschen wie einen Schatz unsicher in die Höhe und starrte ungläubig auf die Hand, mit der er sich abfing. Der Besucher seufzte. Alles war, wie er es erwartet hatte. Er suchte die Flächen zwischen den Häusern nach herumlungernden Jugendlichen ab. Sie waren verschwunden.

      Obwohl er die Augen des Trinkers nicht deutlich erkennen konnte, war er sich doch sicher, dass dieser ein ordentliches Quantum Alkohol zu sich genommen hatte. Der Besucher hatte ihm den Weg freigemacht, sodass es nicht zu einer dieser unschönen Begegnungen mit den Jugendlichen kommen würde, wie er sie vor einigen Tagen beobachtet hatte. Mit aufreizender Lässigkeit hatten sie den Alkoholisierten eingekreist, den wütend kläffenden Hund mit Fußtritten verscheucht und ihren Tribut gefordert. Der Trinker hatte stieren Blickes eine Tüte Süßigkeiten aus seiner Manteltasche gefingert und sie übergeben. Die Tüte war unter Hohnlachen von Hand zu Hand gewandert und unter Stiefeln zertreten worden. Dann hatte man dem hilflos Heulenden die Flaschen aus der Hand gewunden. Wankend hatte sich der Angetrunkene auf scharfen Befehl mit ungelenken Bewegungen ausgezogen, den Blick auf die Flaschen geheftet, deren wertvoller Inhalt sich aufreizend langsam auf den Boden ergoss. Schmalbrüstig und weißhäutig war er vor den Jungen auf und ab gegangen, so gut er es vermochte. Er hatte gegackert und auf Kommando uriniert, was ihm spöttischen Beifall einbrachte. Schließlich waren sie ihres Spielzeugs überdrüssig geworden und hatten ihm die Flaschen zugeworfen. Brabbelnd und schwankend hatte er mit heruntergelassener Hose die Flaschen untersucht und an sich gedrückt wie lange vermisste Kinder.

      Der Besucher zog sich von seiner Position zurück und schlüpfte in den Hauseingang, dessen einladend offen stehende Tür kein Zeichen besonderer Gastfreundschaft, sondern ein Signal gleichgültiger Vernachlässigung war. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass jedes Haus einen anderen Geruch besaß. Gleich war allen Bauten der Übelkeit erregende Gestank nach Urin, der in den Ecken eintrocknete und sich an die Schuhsohlen klebte, wenn man nicht stur geradeaus ging. Der Besucher ging die drei Stockwerke nach oben, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er kannte die vertrockneten Topfpflanzen und den verstaubten Puppenwagen und er war nicht mehr neugierig, wem die wechselnden Männerschuhe vor der Tür der Frau gehörten, die eine farbenfrohe Auswahl offenherziger Nachthemden ihr Eigen nannte. In einem der Obergeschosse hallten streitende Stimmen in das Treppenhaus. Eine Tür wurde aufgerissen und ins Schloss geworfen. Dann war Ruhe. Der Besucher beeilte sich. Er konnte den Vorsprung gut nutzen.

      Die unattraktive braune Wohnungstür begrüßte ihn wie einen guten Freund. Sie würde der Plastikscheibe in seiner Hand keinen ungebührlichen Widerstand entgegensetzen. Das hatte sie auch vorher nie getan. Mit einem leisen Klicken schob er die Tür nach innen. Er hatte sich Handschuhe übergestreift und wappnete sich gegen die beißende Geruchsattacke, die im Flur auf ihn wartete.

      Der muffige Kohlgestank des Treppenhauses befehdete sich für einen kurzen Schritt mit der Geruchswelt im Inneren der Wohnung und kollabierte bedingungslos vor dem Ansturm einer schimmeligen Fäulnis, die von einer Lage künstlichen Fichtennadeldufts überlagert wurde. Der Besucher hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, das er mit einer Pfefferminzlösung tränkte. Er war schon zweimal in der Wohnung gewesen und die intensive Minzausdünstung hatte die schlimmsten Übelkeitsanfälle verhindert. Mit einem Fuß schob er die Reklameblätter und ungeöffneten Briefe vieler Tage zurück zur Tür, wo sie einen losen Haufen bildeten, der bald mächtig genug sein dürfte, um ein Öffnen der Tür völlig unmöglich zu machen.

      Der schmale, dunkle Flur war kärglich

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