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konnte. Nichts war mit der Niedergeschlagenheit vergleichbar, die den Träumer ergriff, wenn er die Qual des Aufstiegs ohne Hoffnung auf Absolution in Angriff nahm, denn der Traum entließ ihn nicht aus der unerbittlichen Schleife, bis sich die Route nach endlosen Anläufen nicht mehr aufrollte, weil sich der Träumer das Erwachen mit knirschenden Zähnen und einem Tribut an Angstschweiß in den Morgenstunden erkämpft hatte.

      Es machte den Mann missmutig, dass er sich selbst nach dem Erwachen von diesen Schimären der Nacht den Atem rauben ließ. Hastig fuhr er in seine Pantoffeln, denn mit einem Mal war ihm klar, was das Geräusch zu bedeuten hatte, das er mit dem Aufrollen des Bergpanoramas in Verbindung brachte. Er seufzte und fuhr sich durch die Haare. Vom Treppenabsatz aus spähte er vorsichtig auf die zerbrechliche Gestalt hinunter, die mit monotoner Gleichmäßigkeit die Klinke der Eingangstür herunterdrückte, losließ, einen Trippelschritt zurückwich und mit irritierender Präzision wieder die Klinke ergriff, die klickte und quietschte, so wie es ihrer Natur entsprach.

      Das zwergenhafte Wesen stak in einem überdimensionierten Morgenmantel, der die Konturen zu einem buckligen Etwas bauschte, das ständig in Bewegung war. Am linken Arm hing ein Flechtkorb von immensen Ausmaßen, dessen signalrotes Futter eine Reihe deplatziert wirkender Gegenstände präsentierte. Am auffälligsten war die lange Reihe von Buntstiften, sorgfältig angespitzt und einsatzbereit nach Farben und Härtegraden sortiert. Ihre geschlossene Reihe hatte etwas soldatisch Arrogantes. Wahrscheinlich war das der Grund, dass sich eine altehrwürdige Kaffeemühle mit Drehkurbel in die Ecke gedrückt hatte, als wolle sie sich jeder Aufmerksamkeit entziehen. Ein Satz Damenunterwäsche schmiegte sich entschlossen an ein braun und gelb marmoriertes Kuchenviertel, dessen Flanken unorthodox geplündert waren. Man konnte deutlich erkennen, wo die Fingerkuppen gegraben hatten und fündig geworden waren. Es waren die Finger, die die Kuchenkrümel auf den Fliesen und Teppichen des Hauses in gewundenen Ameisenpfaden fallen ließen. Aus dem ersten Stock betrachtet erschienen die Kuchenspuren wie schmale Narben auf dem Gewebe des Hauses. Sie verwandelten eine ordinäre Eingangshalle in ein futuristisches Stillleben, das sich jede Einmischung verbat.

      Mit vorsichtigem Tritt ging der Mann die Treppe hinunter. Es wäre zu einfach gewesen, seinen Traum für die Szene verantwortlich zu machen. Unleugbar aber waren die Träume ein Spiegelbild für die Mühsale, die er sich mit der Pflege seiner Mutter aufgeladen hatte. Die Demenz war eine anfänglich zart knospende Abweichung vom gewohnten Verhalten gewesen und verschlang sie beide nach kurzer Zeit mit ihrem unersättlichen Hunger nach Orientierungslosigkeit, Depression und Vergessen.

      Noch bevor er sie erreichte, hörte er ihr aufgeregtes Gemurmel, das in dem Quietschen der Türklinke untergegangen war. Auf die marmorweißen Haare, deren sorgfältig gekämmte Lockenpracht mit einem Stirnband gezähmt war, hatte die alte Frau einen Hut gesetzt. Es war ein keckes lila Teil, das sich mit schiefer Nonchalance in den Hinterkopf der Greisin krallte, das Designerstück einer Putzmacherin aus den Hochzeiten des Swing, des schwarz-weiß Fernsehens und der Erdbeerbowle. Sein sinnlicher Schnitt wippte im Takt der Trippelschritte. Es war ein Hut für eine junge Frau in einem eng anliegenden Kostüm mit provozierenden Netzstrümpfen und schimmernden braunen Augen über einem karmesinrot geschminkten Mund. Der Hut verlangte nach einer unbändigen Fülle brauner Locken und einem verschmitzten Lachen, das unschuldig und zugleich sexy war. Das Modell ‚Summer in the Town‘ zog die Aufmerksamkeit der Männer mit den weißen Hemden und den schmalen Krawatten auf die herzförmigen Gesichter ihrer Trägerinnen und befeuerte das Interesse füreinander.

      Es war das Lieblingsmodell der Alten geblieben, die nie ohne den Hut angetroffen wurde, der die Erinnerungen an die Vergangenheit lebendig erhielt und über dem greisen Gesicht mit den verstörten Augen anrührend und lächerlich zugleich wirkte. „Ich muss doch dem Jungen das Frühstück machen“, flüsterte die Frau in einem fort und gab auch die Versuche, die Tür zu öffnen, nicht auf, als der Mann sie an sich zog. Sie flatterte in seinen Armen wie ein verängstigter Vogel, bevor sie zur Ruhe kam.

      „Kennen Sie meinen Sohn“, fragte sie mit kläglicher Stimme und stemmte sich mit kleiner Kraft aus seiner Umarmung. Aus dem runzligen Gesicht blickten ihn zwei braune Augen an, die desorientiert hin und her sprangen. Sie formte den eingefallenen Mund zu einem Trichter und nickte in Richtung Korb. „Ich war einkaufen und jetzt muss ich dem Jungen Frühstück machen – aber ich habe den Schlüssel vergessen und komme nicht ins Haus. Nicht ins Haus …“ wiederholte sie mit resigniertem Flüstern und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Sohnes. Er strich ihr begütigend über die Haare.

      Noch immer hatte er in solchen Situationen einen Kloß im Hals. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie gewütet und getobt hätte, wie sie es manchmal tat, wenn der Nugatbrotaufstrich unauffindbar war oder sie das Licht in der Toilette nicht finden konnte. Dann warf sie ihm und den wechselnden Betreuerinnen Verschwörung und Mordabsichten vor, schäumte vor Wut und Abscheu und kritzelte mit den Stiften ihre Zahlenkolonnen nicht mehr auf Papierblöcke, sondern auf die Tapeten, die bald über und über mit der Magie der alten Frau bedeckt waren. Ihre Ausbrüche weckten seinen Widerstandswillen und stählten ihn gegen die Angriffswellen der Krankheit, die von seiner Mutter Besitz ergriffen hatte. Er stemmte sich mit Autorität gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe und aktivierte die in zahlreichen Schulungen gelernten Gegenstrategien.

      Die Momente stiller Verzweiflung allerdings überwältigten ihn noch immer und barscher, als er es geplant hatte, drehte er sie herum und sagte: „Du bist zuhause.“ Ohne auf ihr Sträuben zu reagieren, ging er an der Krümelspur entlang, die zur Küche führte. Er setzte sich auf die Kante der Eckbank und platzierte den Korb auf dem Tisch. Mit beiden Händen wies er theatralisch auf die Küchengeräte. „Das ist deine Küche,“ intonierte er in einem beschwörenden Tonfall, der dazu dienen sollte, ihren Geist wieder an die Gegenwart zu binden.

      Die Augen der alten Frau nahmen einen anderen Ausdruck an. Sie lächelte und rückte ihren Hut zurecht. In ihrem geschrumpften Gesicht kam die tatentschlossene Frau von früher zum Vorschein, die ihren Nonkonformismus in jeder Lebenssituation kultiviert hatte. Ein magerer Finger berührte die Nase und kleine Füße tasteten sich begreifend in das Zimmer vor. Der Kopf nickte wissend und belustigt, während die alte Frau ihren Sohn musterte.

      „Mark, so habe ich dich nicht erzogen“, sagte sie mit gespielter Strenge. „Dass du erst jetzt nach Hause kommst – und dazu noch in einem solchen Aufzug. Glaubst du nicht, dass du für Pyjama Partys ein wenig zu alt bist?“

      Die Konzentration auf sein Tagesgeschäft erkaufte sich Mark mithilfe geschulter Pflegekräfte, denen er in gleichem Maße dankbar war, wie er ihnen misstraute. Es war eine kostspielige Angelegenheit, sich ein gutes Gewissen zu leisten und die Arrangements funktionierten niemals, wenn man detailorientiert war, wie der Bewohner des adretten Einfamilienhauses an der Peripherie der Stadt. Die beängstigenden Träume und der Selbstbetrug, der darin lag, dass er sich mit peinlicher Sorgfalt ankleidete wie ein geckenhafter Stutzer, nur um bis zum Verlassen des Hauses Zeit zu schinden, hätten ein Warnsignal sein müssen. Mit etwas Courage wären die immer länger werdenden Verweilzeiten vor dem Computer nicht als wertvolle Umstrukturierungsmaßnahmen in der geschäftlichen Kommunikation gewertet worden, sondern als Resignation vor der krankhaften Erfindungsgabe der Mutter, die in immer neuen Kombinationen gefährliche Situationen mithilfe heißen Wassers, Gas und Bestecken heraufbeschwören konnte.

      Das Haus war mittlerweile zu einem raffinierten Demenz-­Abwehrbollwerk ausgebaut, in dem abschließbare Schubladen und Fenster dominierten, Küchengeräte ihren eigenen Zahlencode besaßen und die Toilettentür nach einer genau bemessenen Zeit aufsprang, um einen Blick auf den zu lange verweilenden Insassen zu erlauben. Türspione blickten mit staunender Vergrößerung in Zimmer hinein und Rauchmelder paarten sich mit roten Warnlampen, die unter Sirenengeheul blinkten, wenn ein Sicherheitsmechanismus überwunden wurde.

      Trotz alledem war der Mann nicht davon abzuhalten unter dem Vorwand, wichtige Unterlagen vergessen zu haben, überfallartig nach Hause zurückzukehren, um nach seiner Mutter zu sehen, denn er bestand darauf, dass die Pflegekraft ihr die Menschenwürde zurückgab, die ihr die Krankheit stückweise entriss. Immer aufs Neue bestätigten sich seine Verdachtsmomente und er fand die alte Frau eingepfercht in einem verschlossenen Zimmer ohne Ansprache oder alleine gelassen mit einer Ansammlung von Essen, in das sie mit gekrümmtem Finger ihre Zahlen schrieb. Die Pflegedienste wechselten

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