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Füße mit Zehennägeln in der Farbe reifer Pflaumen balancierten über den Körper. Die Füße stampften auf den Rippenbögen mit der gleichen militärischen Präzision, wie sie zuvor durch die Straßen gelaufen waren. Man konnte sehen, dass der Atem aus den Lungen des Mannes entwich. Die Füße trampelten wie auf einem Blasebalg in einem unbarmherzigen Takt. Der Weißhaarige warf den Kopf zur Seite. Eine senkrechte Ader auf der Stirn schwoll bedenklich an. Der Kopf schnellt nach vorne und der Oberkörper bäumte sich auf, ohne die routinierten Füße abschütteln zu können. Wie bei einem gefangenen Karpfen öffnete sich der Mund des Mannes und schnappte nach Luft. Seine Arme zerrten an der Fesselung. Die Augen traten aus den Höhlen und glotzten ungläubig ins Nichts. Speichelfäden hingen aus dem Mundwinkel. Keiner der beiden hatte einen Ton von sich gegeben.

      Der Junge auf dem Holzstapel spürte die Holzsplitter in seinen Händen nicht mehr. Er nahm die Spinne nicht wahr, die sich in seine Haare verkroch. Er hatte keinen Durst mehr. Er war ein Gefangener der beiden Menschen in dem nahen Wohnzimmer, ein stiller Teilhaber einer unerhörten Begebenheit, ein Voyeur ohne eigenen Willen. Sein Gesicht verzerrte sich in einer Spiegelung der Verzückung des Weißhaarigen. Der Junge litt und imitierte, drückte seine Wange dicht an die Scheibe und hielt den Atem an, bis ihm schwindelte.

      In einer graziösen Bewegung wie eine Zirkusartistin hatte die Zwergin ihren verwachsenen Oberkörper nach hinten gebeugt. Ihr altes Gesicht verschwand zusammen mit den Unterarmen hinter dem Türrahmen, während die Füße mit den Fersen auf das Zwerchfell des Mannes trommelten. Ihr ungestalter Körper wand sich wie eine Spirale. Der Kopf des Weißhaarigen schlug mehrfach hart auf dem Boden auf. Verzweifelt änderte der Junge seine Position, zerschrammte sich den Knöchel bei dem Versuch nach ganz rechts außen zu kriechen, um doch noch einen größeren Ausschnitt des ungleichen Paares zu Gesicht zu bekommen.

      Das Brüllen des Mannes kam unerwartet und brachte den Jungen dazu, sich heftig auf die Zunge zu beißen. Es war ein pfeifendes, röchelndes Brüllen in einer erstickten Tonlage, wie es der Junge noch nie vernommen hatte. Es brach mehrfach ab, um dann mit einer heulenden Ouvertüre wieder aufgenommen zu werden, sich in einem dauerhaften Crescendo zu steigern und nach einem Fortissimo zu ersterben. Erst jetzt sah der Junge, dass die Füße mit den pflaumenfarbenen Nägeln verschwunden waren. Ein winziger Rest des roten Kleides blitzte neben der Barriere des Türrahmens auf. Es bewegte sich in typischer Manier über hart arbeitenden Zwergenhüften. Die Füße vollendeten ihr Werk an einer anderen Stelle und überließen den malträtierten Oberkörper des Mannes dem Brüllen. Als die Beinkolben der Kleinwüchsigen ihre Anstrengungen verlangsamten, ging auch das Brüllen des Mannes in ein Schluchzen und Gurgeln über, begleitet von einem Tränenstrom und einer Ladung Rotz, der ungehindert aus der Nase lief. Dann rollte sich der Körper des Mannes zur Seite.

      Der Junge hockte wie in Trance auf dem Holzstapel. Er nahm nicht wahr, dass er seine rechte Hand zwischen seine Beine gekrallt hatte, wo eine pochende Erektion seine Unaufmerksamkeit schmerzhaft bedauerte. Er war nicht mehr daran interessiert, wie die Zwergin nach getaner Arbeit mit geblähten Wangen die Fesseln des Mannes löste und ihm mit einer linkischen Geste das Badetuch reichte, damit er sich reinigen konnte. Es war für ihn nichts Aufregendes an dem Gedanken, dass das Paar in Kürze das Badezimmer aufsuchen würde, um sich frisch und präsentabel zu machen. Sein einziger Gedanke war, sich kletternd und rutschend davonzumachen und so schnell zu laufen, wie es seine Füße vermochten. Blind für seine Umwelt überquerte er Straßen und Plätze, erntete missbilligende Blicke von Passanten und animierte einen bulligen Rottweiler zu einer halbherzigen Beißattacke. An einer modernen Installation, die aus rostfreien Stahlporen Wasserfontänen in ein Kiesbecken spie, hielt er schwer atmend inne und trank mit gierigen Zügen.

      Was ihn verstörte, war nicht das Gesehene, sondern die Tatsache, dass er etwas über sich gelernt hatte. Ganz ohne eigenes Zutun hatte das Abnorme der Situation die Erregung bei ihm ausgelöst, nach der er seit geraumer Zeit auf der Suche war. Es war die komplexe Mischung aus Furcht, Selbstekel und der Gewissheit einem abseitigen Akt beizuwohnen, die ihn lähmte durch das unergründliche Verlangen eines geborenen Voyeurs, das ihn innerlich vibrieren ließ.

      Der junge Mann hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl, der so kalt war, dass die Haut ertaubte und kümmerte sich nicht um die missbilligenden Blicke der Passanten. Er rubbelte sich mit den Händen durch das Haar und sah die Welt durch die verzerrende Perspektive der Wassertropfen auf seiner Brille. Er fühlte sich leicht und befreit, weil er sich über einen Teil seines Selbst klar geworden war. Jetzt war es nur noch ein kleiner Schritt bis er mit sich auch im Reinen sein würde. Er schlenkerte mit den Armen und spürte die unangenehmen Stiche der Holzsplitter. Seine Mutter würde sie mit einer Pinzette entfernen und mitfühlend seiner Geschichte lauschen, wie es zu dem Vorfall gekommen war. Natürlich würde er ihr die Wahrheit ersparen.

      Er hatte ihr gegenüber auch nichts davon erwähnt, was der Auslöser war, der ihn mit nach vorne geneigtem Oberkörper und verzerrtem Gesicht am Sarg seines Vaters taumeln ließ, sodass die wenigen Trauergäste herbeistürzten, um ihm Beistand zu gewähren und die Mutter mit dem Hausarzt schuldbeladene Blicke tauschten. Niemand, der den folgsamen blonden Jungen mit den guten Manieren und dem offenen Blick kannte, hätte vermutet, dass sein Zusammenbruch mit dem Wiederkäuen der letzten Stunden des Verstorbenen zusammenhing. Die graue, klamme Haut, die seine duldsame Mutter mit einem in Franzbranntwein getränkten Schwamm abrieb. Die Koliken, die den selbstgerechten Mann zu Boden zwangen und ihn um den Tod als Erlösung flehen ließen und die Lippen, die in einem fort bebten, ohne Vergebung zu erlangen.

      Unendliche Erleichterung, Genugtuung und das Wissen, an einem düsteren Geheimnis teilzuhaben, ohne sich jemals jemandem offenbaren zu können, hatten den sexuellen Höhepunkt ausgelöst. Noch Tage danach hatte sich der Junge vor seinem eigenen Spiegelbild geschämt. Doch jetzt war ihm klar geworden, dass kein Fluch auf ihm lastete. Er war frei von den fruchtlosen Versuchen, sich in eine normale Beziehung einzupassen. Er sparte sich den demütigenden Gang zu den Prostituierten in dem Viertel, das die Stadt zum Straßenstrich auserkoren hatte und von wo er mit dem Gefühl der Niederlage heimkehrte, weil es auch die mütterlich verständnisvollen Huren mit all ihrer Kunst nicht vermochten, seinen Körper dauerhaft zu erregen.

      Er akzeptierte die Tatsache, dass gegen die eigene Natur nichts zu erzwingen war und machte sich auf die Suche. Er suchte in winkligen Straßen, an verschwiegenen Plätzen, in den dunklen Nischen vollgestopfter Buchhandlungen und mit den Jahren auch im Internet, das zu seinem persönlichen Messias wurde. Er goutierte Porträts ausgesucht hässlicher Menschen, las mit glühenden Ohren die Ergüsse eines Otto Weininger über das gänzliche Unvermögen der Frauen zur Wahrheit, erschauerte bei dem Gedanken an das Ausweiden der Verstorbenen durch die Geier in der zoroastrischen Religionsmythologie und tat jedes Mal freudig überrascht, wenn ihn das Schicksal mit einem orgiastischen Gefühl belohnte. So war er nach und nach von einem unbedarften Voyeur zu einem geachteten Besucher geworden.

      Die Briefe der inhaftierten Frau allerdings mochten sein geordnetes Dasein in andere Bahnen lenken. Er war sich noch nicht schlüssig, welche Rolle ihr zufallen könnte.

      Gedankenverloren fuhr er mit dem Zeigefinger liebkosend über den Griff des Teppichmessers. Die Klinge war dunkel und stumpf von geronnenem Blut. Er legte die Briefe aus der Hand und begann das Werkzeug zu säubern. Der nächste Einsatz war nicht fern und nur eine perfekt präparierte Schnittfläche brachte perfekte Ergebnisse.

      VII.

      Sie hatte die Hände brav gefaltet und korrigierte ihre Position auf der grauen Tischplatte noch einmal mit einem Seitenblick, um sicherzugehen, dass das Arrangement nicht zu künstlich wirkte. Als Beigabe versuchte sie sich an einem scheuen Lächeln, denn er war blond und blond und Lächeln passten sehr gut zusammen.

      Die Korrespondenz zwischen ihnen war schnell vertraulicher geworden, überschritt aber nie das schickliche Maß an Distanz, das zwei Werbende halten sollten. Bei seinem ersten Besuch trug er eine ordentlich aufgebügelte Cordjacke und einen schüchternen Gesichtsausdruck, der gut zu seinem karierten Hemd passte. Seine hellen Augen blinzelten hinter der Lausbubenbrille und der runde Schädel mit dem blonden Haarfilz ruckte entschuldigend zur Seite als er umständlich erklärte, das Konfekt, welches er mitgebracht habe, sei von der Anstaltsleitung nicht freigegeben worden.

      Sie

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