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Müdigkeit holte ihn ein wie eine vernachlässigte Geliebte, die energisch ihr Recht einforderte. Vom Rausch der vergangenen Nacht blieben nur ein wattig gedämpfter Nachhall und ein Frösteln, das ihn immer überkam, wenn eine nicht genau zu bestimmende Unzufriedenheit in ihm nagte. Es war eine Art Zweckpessimismus, den er pflegte wie einen willkommenen Gast und der ihn vor künftigen Enttäuschungen bewahren sollte. Bei seiner Rückkehr hatte er noch immer beschwingt einige Minuten über den Schlaf seiner Mutter gewacht und ihr leises Schnarchen verfolgt, wie eine vertraute Melodie. Bevor er die aufgenommenen Sequenzen ins Netz stellte, fotografierte er das Usambaraveilchen auf exakt der Stelle seines Schreibtisches, die immer zur Präsentation der Trophäen diente. Anders als andere strebte er nicht nach sperrigen Gütern oder verräterischen Artefakten, die ihn in Schwierigkeiten bringen konnten, denn die Schwierigkeit des Wegschaffens oder der Marktwert der Stücke zählte nicht mehr für die Wertung. Es ging lediglich um die Verifizierung der Aktion durch ein Beweisstück, nicht um eine narzisstische Selbstdarstellung oder einen artistischen Schlussakkord.

      Die meisten ihres kleinen Zirkels verstanden das und alle waren mit den Spielregeln einverstanden gewesen, als die letzte Revision anstand. Einige jedoch stellten die Geduld der Wertenden auf eine harte Probe, indem sie halsbrecherische Manöver wagten, bei Tageslicht an Hauswänden emporkletterten, sich in aberwitzigen Verkleidungen und mit versteckter Kamera Zutritt zu Wohnungen verschafften oder Spuren legten, die weit über die gesiegelten individuellen Zeichen hinausgingen.

      Erst vor einer Woche hatte ein Südamerikaner, der nahe daran war, die Höchstschwierigkeit zu bewältigen, mithilfe eines als ahnungsloses Werkzeug eingesetzten Speditionsunternehmens ein Klavier aus dem Zielbereich schaffen lassen und die Hausbesitzer mit der Nachricht überrascht, sie hätten in der nationalen Lotterie gewonnen, die außer einem stattlichen Geldbetrag auch das Musikinstrument und das bejahrte Auto des Paares gegen neue Stücke tauschte. Bedenken mochten den Geschmeichelten erst gekommen sein, als sie der falsche Sendbote des Glücks mit seinem Zeichen konfrontierte. Es war zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, als die Jury die Aktion als nicht regelkonform ansah und wegen der offensichtlichen Gefährdung der gesamten Mitwirkenden eine Rüge aussprach.

      Was er in dieser Nacht zu sehen bekam, nachdem er sich mit seinem Passwort eingeloggt hatte, beruhigte ihn ein wenig. In zwei Fällen war er selbst dazu bestimmt, eine Wertung abzugeben. Das tat er gewissenhaft und ohne Parteilichkeit. Knapp zwei Drittel der Besucher hatten die kurzen Videobotschaften korrekt entschlüsselt und ihr Ziel identifiziert. Das war ein annehmbarer Wert, wobei es einem der Engländer gelungen zu sein schien, die lückenlose Videoüberwachung der Städte anzuzapfen und Gesichter mit einem biometrischen Abgleich zu scannen. Die Kehrseite war natürlich, dass man sich selbst ständig im Fokus der Kameras befand und höchste Vorsicht walten lassen musste, um nicht aufzufallen.

      Die weitaus höchste Wertung erzielte ein Beitrag aus Schweden, in dem es einer noch jungen Besucherin gelungen war, ihre Zielperson in einem Kaufhaus zu stellen und ihr zu den Umkleidekabinen zu folgen. Ihre Flüsterstimme erzählte in mühsamem Schulenglisch die Vorgehensweise. Die Handkamera zoomte auf die Rückwände der Kabinen und verharrte auf einem Schraubenzieher mit buntem Griff, der sich unter eine dünne Holzplatte bohrte. Ein Mädchen mit sonderbar abstehenden blonden Zöpfen kam aus einem steilen Winkel ins Bild. Der automatische Zoom hatte Mühe das Wackeln der Filmenden auszugleichen. Immer wieder huschte das Auge der Kamera hinter das öde Braun der Abdeckung, wenn sie eine vorzeitige Entdeckung befürchten musste. Das erläuternde Raunen setzte kurzzeitig aus. Die Tonspur füllte sich mit dem metallischen Scharren von Kleiderbügeln. Dann richtete sich die Linse steil nach oben. Angestrengtes Atmen. Bilder von Deckenplatten und grelles Licht, bevor die Aufnahme nach unten stieß und die Zöpfe einfing.

      Die Aufnahme glitt über kleine, unregelmäßige Brüste und einen von Schwangerschaftsstreifen übersäten Bauch. Der erste oberflächliche Eindruck hatte getäuscht. Die Zöpfe wippten über einem faltigen Hals, der das wahre Alter der Frau erahnen ließ. Ein MP3-Player jagte undefinierbare Beats durch die Kopfhörer. Das hochgeraffte seidene Unterkleid reichte bis zum Ansatz der Beinprothese. Das linke Bein war am Oberschenkel amputiert. Die Kamera machte den Farbunterschied deutlich. Das echte Bein war blasser und unregelmäßiger im Muskeltonus. Zarte blonde Härchen am rechten Unterschenkel bewegten sich im Rhythmus des Turnschuhs.

      Der Ankleideprozess war ein mühsamer Vorgang. Die Kamera zog sich vorübergehend hinter den Rand der Kabine zurück und tastete sich durch dunkel erscheinende Stoffe und eine winzige Aussparung, in der zwei abgewetzte Sessel und ein Wasserkocher standen. Die Sequenz endete mit einer Nahaufnahme eines satt roten Textilstreifens. Die Stimme erläuterte mit merklicher Aufregung, dass es sich um den Trennvorhang zu der Umkleidekabine handele. Eine Hand schoss nahe an der Kamera vorbei. Ein leichtes Klirren und die undefinierbare Nahaufnahme einer Metallstange wurde sichtbar. Schritte und Stimmen nahten. Die Aufnahme fing ein Stück grauen Boden ein und zeichnete die hektischen Geräusche einer Flucht auf. Der fragende Ruf einer Frau. Dann Stille und ein unterdrücktes Keuchen. Noch einmal ein Ruf, dieses Mal weniger überzeugt. Der Bildausschnitt brav auf den Boden gerichtet. Wartend.

      Erneut der Schraubenzieher. Ein verräterisches Knacken, aber kein Innehalten. Die Stimme jetzt kühl und selbstbewusst. Ein Spalt neben dem Rücken der Zopfträgerin. Die Kamera dokumentiert die letzten Handgriffe vor dem Verlassen der Kabine. Zwei sommersprossige Hände schließen einen Reißverschluss. Ein Fuß in einem flachen Schuh schiebt eine bauchige Handtasche mit bunten Applikationen zur Seite. Es ist eine flüssige, geschickte Bewegung, die die Prothese ausführt. Sie verrät Übung und die Versöhnung mit einem harten Schicksal. Die Stimme hatte in der üblichen Kurzbiografie erwähnt, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte, war aber nicht näher auf die Umstände eingegangen.

      Zwei Schritte und der Griff zum Vorhang. Ein Straffen des Oberkörpers und das Ratschen der Messingringe. Der Aufschrei paarte sich mit dem Vornüberfallen der Frau, als der schwere Stoff über die Schiene hinausfuhr und zu Boden glitt. Die Prothese machte eine steife Verbeugung und zog eine abgeknickte Hüfte mit sich. Eine Hand schlug mit einem hohlen Geräusch gegen die Trennwand. Die Frau fiel nach links und kollidierte mit dem Hocker, der nach vorn geschleudert wurde. Das rechte Bein hatte die Situation nicht mehr retten können und ragte angewinkelt in die Luft. Die Arme der Gestürzten tasteten nach ihrem Kopf.

      Der Schraubenzieher hatte die Rückwand aufgerissen. Die Prothese hatte sich von dem Beinstumpf gelockert und war durch das Hosenbein nach vorn geschlüpft. Der Winkel des Beines war bizarr und der Anblick unerträglich. Aufgeregte Stimmen und ein trockenes Schluchzen der Frau.

      Ein Arm wand sich durch den Spalt und führte aus dem Handgelenk präzise Bewegungen aus. Der längliche Gegenstand in der Hand setzte die Bewegungen in Muster um, die im Rücken der Liegenden in Rot erblühten. Der Körper der Frau erschauerte. Geschminkte Münder herbeigeeilter Verkäuferinnen kreischten im Quartett. Eine kräftige Frau im himmelblauen Kostüm hatte die Prothese in dem Versuch, die Gestürzte aus der Enge der Kabinen zu zerren vom Beinstumpf gerissen und hielt das Bein mit weit aufgerissenen Augen auf Armeslänge von sich. Selbst als sie in Ohnmacht fiel, hielt sie das Bein umklammert, als sei sie für dessen Wohlergehen persönlich verantwortlich.

      Die Rückwand war in ihre ursprüngliche Position zurück geschnappt. Die Kamera entfernte sich rasch und umkurvte ungeduldig Kleiderstangen, um hoch aufgerichtet in der quer zum Tatort liegenden Herrensektion aufzutauchen. Noch einmal flüsterte die Stimme. Man konnte ihr die Mischung aus Triumph und Erleichterung anhören. Das Auge der Kamera war schräg nach unten gekippt. Die Aufnahmen konnten sich nicht zwischen den vorbeilaufenden Schuhpaaren entscheiden. Kurz vor der Rolltreppe wagte die Kamera einen letzten verstohlenen Blick. Er verharrte auf einem zierlichen silbernen Entenkopf, der als Knauf eines eleganten Gehstocks diente. Die Frau in der Kabine würde ihre Gehhilfe nicht vermissen.

      Wie jeder ambitionierte Mitbewerber verglich auch Mark das Gesehene mit den Früchten seiner eigenen Anstrengung. Er bemühte sich um Fairness und eine Abwägung nach objektiven Gesichtspunkten. Der Schwierigkeitsgrad und die Originalität des Projekts waren unleugbar hoch, die Umsetzung etwas unelegant, aber immer spannend und von einer atmosphärischen Dichte, die der Improvisiertheit der Situation entsprang. Schweren Herzens wertete er den schwedischen Beitrag höher als er seine eigene Performance einschätzte und sandte das verschlüsselte Raster an den Server

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