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Er antwortete spontan und ernsthaft. Seine Augen glitten an den eifrig ankreuzenden Fingern hinunter zu den Füßen der Fragerin. Ihre Zehen waren für offene Schuhe ungeeignet. Er war für einen Moment abgelenkt und blickte sich hastig um. Der Bärtige kam den Gang herunter. Der Besucher glaubte, dass er eine Tüte in die Außentasche seines Parkas gesteckt hatte. Ein anderer Kunde mit lauernden Augen und einem merkwürdigen Dauerinteresse für Tiefkühlware starrte ebenfalls auf den Trinker. Dann wandte er sich abrupt ab und verließ die Zone, ohne seinen Einkaufskorb eines Blickes zu würdigen.

      Die Interviewerin schrieb das Desinteresse des Mannes ihrer Stimmlage zu und redete laut und hastig auf ihn ein. Er begriff, dass seine Kundentypologie zwischen der eines Hedonisten und eines Genießers lag. Das Ergebnis war durchaus annehmbar. Er wischte den Arm des Mädchens unwirsch beiseite, als sie versuchte seine Aufmerksamkeit durch Zupfen an seinem Ärmel zu erhöhen. Mit einem höflichen Dank und dem Hinweis, dass er es eilig hatte, versöhnte er die Frau. Er griff sich einen Werbezettel und begann ihn aufmerksam zu studieren. Wenn er richtig beobachtet hatte, konnte es zu einem unangenehmen Zwischenfall kommen. Beschwörend schaute er zur Kassenzone. Er hatte Glück. Zwischen die Männer, die von ihren Einkaufszetteln zu Sklaven degradiert worden waren, hatte sich ein Mutter-Tochter-Paar fortgeschrittenen Alters geschleust, von denen er sich eine Störung des Ablaufs erwartete, die es ihm ermöglichte, seine Notstrategie umzusetzen. Er wurde nicht enttäuscht.

      Die ältere der beiden Frauen musterte die Kassenzone mit einem geschulten Blick. Mit einer herrischen Handbewegung dirigierte sie ihre Tochter zu der unwesentlich längeren Schlange, nachdem sie die Wartenden und ihre Einkäufe kritisch begutachtet hatte. Sie war ein Alphatier mit einem auftoupierten Haarschopf, signalroten Lippen und einem Kugelbauch in knallengen Leggins, die im Bereich ihrer knochigen Knie jeden Dehnungswiderstand aufgegeben hatten. Die Tochter stand optisch im Begriff, in wenigen Jahren zu einem Klon der Mutter zu mutieren. Noch war sie weicher und ansehnlicher, aber ihre gebeugte Haltung mit dem nach links gewinkelten Hals verlieh ihr die gleiche raubvogelartige Ausstrahlung. Auch sie verriet einen wenig schmeichelhaften Hang zu protzigem Modeschmuck und unpassender Kleidung.

      Mit einem geschickten Manöver stach das Alphatier den gefüllten Einkaufswagen in eine Lücke und behauptete mit einer kaum verhohlenen Gebärde der Herablassung einen Raum, der es ihr ermöglichte, jederzeit auch die andere Schlange an gesicherter Position zu erreichen, falls sich ihre Überlegungen als falsch herausstellen sollten. Die Tochter folgte mit gelangweiltem Gesicht. Ihre Augen fixierten den Zigarettenspender. Der Trinker blieb in respektvoller Entfernung stehen. Er war nicht auf eine Auseinandersetzung aus. Alles, was er wünschte, war ein baldiges Rendezvous mit der ersten Flasche. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Die freien Flächen seines Gesichtes waren aufgedunsen und bläulich.

      Der Besucher drängte sich unter dem missbilligenden Blick einer alten Dame durch eine der nicht besetzten Kassen in den Verkaufsraum zurück. Inzwischen waren die Anstehenden nach vorne gerückt. Drei Jugendliche verschwanden lärmend durch die Glastür, um ihre unappetitlichen Gedanken in einer unappetitlichen Umgebung auszuleben. Die blasse Kassiererin zog verbissen Angebotsware über den Scanner. Routiniert zählte sie Geld, hantierte mit Kundenkarten und nannte Beträge, ohne jemals aufzusehen.

      Mutter und Tochter hatten in schweigender Eintracht ihre Einkäufe auf das Band getürmt, als es passierte. Mit einem herrischen Klingen ihrer Armreifen wies die Mutter die gelangweilt dastehende Tochter an, noch eine Schale Speisequark zu besorgen. Die Stimme verriet den exquisit erstickten Tonfall einer langen Raucherkarriere. Die gebräunte Tochter setzte sich schlendernd in Bewegung. Die bedachten Bewegungen ließen den Rückschluss zu, dass die beiden in ein lieb gewonnenes Ritual verfallen waren, das bei einkaufenden Frauengruppen des Öfteren zu beobachten war.

      Wahrend Männer mit verbissener Effizienz vorgefertigte Aufgabenzettel abarbeiteten, verstanden sich Frauen auf die Inszenierung einer nonchalanten Ablaufstörung, begegneten geplant ausgelösten Missstimmungen unter Miteinkäufern mit hochnäsiger Gleichgültigkeit und brachten Kassenaktivitäten durch immer neue Manöver zum Erliegen. Die Geübtesten unter ihnen vollzogen ein zusätzliches Abschlussritual beim Bezahlvorgang, indem sie umständlich nach einer Geldbörse kramten, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit Fächer öffneten und mit gerunzelter Stirn Kleingeldbeträge umher schoben, bevor sie nach einem Zeitraum schier unerträglicher Spannung und einem entschuldigenden Seufzen einen größeren Geldschein hervornestelten und mit kleinlauter Boshaftigkeit bekannten, dass sie den Betrag doch nicht passend zur Hand hätten.

      Ein unterdrücktes Stöhnen aus der Mitte der Wartenden zeigte, dass man die Finte der beiden Frauen erkannt hatte. Das Alphatier nahm die Würdigung hoch erhobenen Kopfes entgegen und zündete sich zum Unterstreichen ihrer Vormachtstellung direkt unter dem ‚Nicht Rauchen‘ Hinweis eine Zigarette an. Die Kassiererin hatte jede Bemühung eingestellt und starrte graugesichtig auf ihre Fingernägel.

      Der Besucher hatte den Moment des Stillstandes genutzt, um sich in den Rücken des Trinkers zu begeben. Aus dem geringelten Pullover des Mannes drang ein muffiger Geruch nach Tabak und Fett. Der Pullover hatte die Form verloren und schien ohnehin für einen wesentlich korpulenteren Mann gemacht. An einem Bund war er ausgefranst und schlotterte um eine ausgediente Jogginghose, die ebenfalls bessere Tage gesehen hatte. Nur die Schuhe waren neu und ließen den gichtigen Gang des Trinkers unbeschwerter aussehen, als er war. Ihre leuchtend orangen Wangen entlarvten den gesamten Aufzug als clowneske Hommage an die Hoffnungslosigkeit, die dem Träger anhaftete wie eine Klette.

      Der Trinker schlurfte einen weiteren Schritt nach vorne. Er bemerkte nicht die Hand, die in die rechte Tasche seines schweren Mantels kroch, der angesichts der milden Witterung ein unangenehmer Ballast sein musste. Der Besucher schleuderte in die aufkeimende Empörung der Wartenden ein halblautes „Unverschämtheit“ in Richtung der rauchenden Rothaarigen und zog die Packung mit Karamellbonbons aus der Tasche, die der Trinker eingesteckt hatte. Rasch entfernte er sich zur Seite und ließ das Päckchen unbemerkt zwischen zwei Stapel Pralinenpackungen gleiten. Der Kopf des Trinkers hatte sich gedreht, konnte aber die Stimme nicht ausmachen. Er verlor das Interesse und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Flaschen. Sie alleine waren wichtig. Das waren sie gestern und das würden sie auch zukünftig sein.

      Der Detektiv des Supermarktes griff den Bärtigen nach dem Passieren der Kasse auf. Er machte sich nicht die Mühe verbindlich zu sein. Er hielt den Widerstrebenden mit einem Klammergriff fest, obwohl dieser keine Anstalten machte, handfesten Widerstand leisten zu wollen. In einem bizarren Ringkampf zerrte und schob sich das ungleiche Paar bis zu einer Backwarentheke, vor der säuberlich aufgereihte Käufer ängstlich auf die Keuchenden starrten und in Unordnung gerieten, sobald die Körper eine Variante vollführten, die sie näher als bisher an die Wartenden heranbrachte. Ein Prospektständer wurde das Opfer des eigentümlichen Ringkampfes und polterte nach einer heftigen Drehbewegung zu Boden. Ein schwergewichtiger Mann, der seinen Bauch kaum bändigen konnte, schnaubte wütend wie ein erschrecktes Flusspferd und stieß die Taumelnden mit einer jähen Bewegung seiner keulenartigen Arme von sich. Sie gingen zu Boden und setzten ihre Vorführung mit unverminderter Heftigkeit fort, der eine, um sich zu befreien, der andere, um seine Trophäe nicht entkommen zu lassen.

      Schließlich gelang es dem Detektiv, sich quer über den Oberkörper des Bärtigen zu legen. Mit triumphierender Stimme fuhr er in die Manteltasche: „Was haben wir denn da?“, rief er aus und wiederholte die Prozedur mit unverminderter Lautstärke an der anderen Manteltasche, die ebenso unergiebig war. Seine Rechtfertigungsgeste verhungerte in der Luft, schwankte ein wenig und zog sich unschlüssig zurück. „Wo hast du es hingetan?“, fragte er, ohne von dem Stöhnenden abzulassen, der die Arme abwehrend vor seinen Körper geschlagen hatte. „Sie tun mir weh“, protestierte der Bärtige mit klagender Stimme. „Sie tun ihm weh, Sie ungehobelter Mensch“, keifte die Rothaarige unter eifrigem Kopfnicken ihrer Tochter aus der Bäckereischlange.

      Mit hochrotem Kopf drehte sich der Detektiv von dem Liegenden weg und warf die Arme in die Höhe. Mehr zu sich selbst gewandt murmelte er: „Ich bin mir sicher. Irgendwohin wird er es getan haben.“ Seine unruhigen Augen schweiften über den Boden. Seine Hände wühlten in den Einkäufen des Bärtigen. Abscheu sprach aus seiner Miene, als er die Flaschen unsanft zur Seite schob. Der Trinker robbte heran und hielt mit zitternden Fingern einen Kassenzettel wie einen Ablassbrief vor sich. „Sehen

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