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vorlagen. Eilig herbeizitierte Experten überschlugen sich in Wertungen und Kalkulationen, stellten für die Kameras tödlich wirkende Medikamentencocktails zusammen und schwelgten in der Motivsuche, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass man es mit einem Monster in Engelsgestalt zu tun habe.

      Der Todesengel stritt nicht ab, die Demenzkranken, die Hinfälligen und Bettlägerigen besonders intensiv betreut zu haben. Gefasst schilderte sie ihre Zuneigung zu ihren Schutzbefohlenen, die umso mehr zunahm als sie hilfloser und schwächer wurden.

      Was blieb ihr anderes übrig als die körperlich agile Alzheimer Patientin mit Gummischläuchen an ihr Bett zu fesseln, die beständig auf der Wanderschaft war, medizinische Geräte mit der immer gleichen Bemerkung „Geht nicht, geht nicht!“, ausschaltete, auf Notknöpfe drückte und sich in fremde Flure verlief, bevor sie mit einem markerschütternden „Geht nicht, geht nicht!“, schluchzend in ihr Zimmer abgeführt wurde.

      Wer konnte eine bessere Lösung für die Gehbehinderten und durch Dekubitus Geschädigten finden als das Anlegen von Windeln, in die sie sich erleichtern konnten, so oft sie wollten, bis die richtige Zeit gekommen war, die besudelten Beweise ihrer Inkontinenz in Reichweite moderner und heller Bäder von den nörglerischen Alten zu reißen und fahlgelbe, rissige Haut und wund gescheuerte Stellen mit Schwämmen und Tüchern zu reinigen. Man hatte die Handgriffe perfektioniert, packte Gelenke, drehte Extremitäten und ignorierte das undankbare Gejammer der infantilen Alten, die zappelten und strampelten wie ungehorsame Kinder.

      Wie konnte man individueller auf unbotmäßiges und aufsässiges Verhalten reagieren, als die Schnabeltasse mit Tee außerhalb der Reichweite der dehydrierten Rollstuhlfahrerin zu stellen, die mit zeternder, durchdringender Stimme zur Unzeit forderte, dass man ihr Kissen aufschüttele, das sie als Rückenstütze benutzte, dabei aber die Agilität besaß, jeden erreichbaren Gegenstand mit ihrem Kot zu beschmieren, um ihren Standpunkt zu untermauern.

      Wie anders war ein geregelter Ablauf möglich, als die besonders Aufsässigen mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie von geifernden, nach Menschenmüll stinkenden Ungeheuern zu verzückt sabbernden fügsamen Alten zu machen, denen man nicht gram war und die man frisierte, wusch und fütterte, wie es der Plan vorsah.

      Was war dagegen einzuwenden, den Widerstand der fetten Cholerikerin mit der Magensonde durch das Anlegen von Bauchgurten zu brechen, die mit hervorquellenden Augen und Wahnsinn in der überschnappenden Stimme ihre Obszönitäten herausschrie und erst aufhörte, ihr Geschlecht zu stimulieren, wenn man ihr einige Ohrfeigen zur Ernüchterung verabreichte.

      Der Todesengel war viel zu klug, um sich in diesem Sinne zu äußern. Eine zu große Dosis Wahrheit macht unsympathisch und nutzte niemandem. Besser war es, die in der Hauptverhandlung gezeigte Haltung zu perfektionieren und trotz offenkundiger depressiver Kraftlosigkeit die volle Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

      All das kam in dem einen von ihr selbst geäußerten Satz in der Filmsequenz aus der Waschküche der Haftanstalt zum Ausdruck. Ihre Haltung straffte sich und ihr entschlossener Mund schloss einen Pakt mit ihren Augen, die ihre nachdenkliche Sanftheit verloren hatten. Ihre Hände verbarg sie auf dem Rücken. „Ich weiß jetzt, dass meine Art der Hilfeleistung gegen das Gesetz war, aber von einem moralischen Standpunkt aus würde ich es noch einmal tun.“ Der Todesengel trat zur Seite und wurde von der Kamera verfolgt. Noch einmal nahm die Frau Stellung. Dieses Mal schoss eine gerötete Hand nach vorne und stach mit dem Zeigefinger zu. „Wer tatenlos zusieht, wie Menschen unrettbar leiden, handelt verwerflich.“ Die Frau machte eine effektvolle Pause. „Mein Leben ist verpfuscht – wenn es aber den Sinn gehabt haben sollte, dass über die Erlösung als Akt der Barmherzigkeit ernsthaft nachgedacht wird, bin ich gerne bereit, den Preis zu zahlen.“ Der Mund schloss sich und wirkte zufrieden. Die Augen nahmen den gewohnten sanften Glanz an und über das Gesicht breitete sich Melancholie.

      Genau diese Szene war es, die den Briefpartner von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatte. Wie oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass die mobilen Pflegekräfte, die er für seine Mutter engagierte, überfordert waren. Es hatten sich die Vorkommnisse gehäuft, bei denen fremde Menschen mit einem verlegenen Lächeln oder die Polizei mit einer markigen Ermahnung zu mehr Sorgfalt seine hohlwangige, gebeugte Mutter von einem ihrer Ausflüge zurückbrachten und sie ihn zitternd in die Arme schloss wie einen verloren geglaubten Schatz, um kurz darauf mit Argwohn in der Stimme zu fragen, ob er auch in diesem Haus wohne. Er ahnte wie ein Mensch an einer Aufgabe, die sich täglich vor ihm auftürmte wie ein unüberwindliches Hindernis, zerbrechen konnte.

      Die Dokumentation des Fernsehsenders hieß „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ und verkürzte die Tötungen zu der von Mitleid getragenen, aus einer tiefen seelischen Erschöpfung geborenen Euthanasie. ‚Burn-out‘ war das Modewort der Saison, lediglich überflügelt von ‚Stress‘. Die Dreharbeiten wurden in dem Bewusstsein genehmigt, dass man mit dem Aufdecken alltäglicher Gewalt gegen Ältere ein dringend der Lösung harrendes Problem identifiziert habe. Der Todesengel war eine bestens geeignete Person die Mischung aus emotionaler Leere, täglich neu erlebten Frustrationen und kaum kontrollierbarer Gereiztheit zu verkörpern. Natürlich konnte man die Handlungsweise nicht für Gut heißen, aber verstehen, ja verstehen konnte man sie. Wieder ein Täter, der zugleich Opfer war. Wieder ein Schlachtopfer herzloser Abläufe, diktiert von Einsatzplänen, Pflegehandbüchern, Uhren, Vorgaben und Verwaltungsarbeit.

      Niemand wusste von den verschwundenen Gegenständen, die die attraktive Pflegerin mit geduldigem Lächeln oder einem verstohlen zugefügten Schmerz von den Pflegebedürftigen erpresste. Uhren, Geld und Wertpapiere. Es gab nichts, was sie verschmäht hätte, denn sie hatte Zukunftsvisionen, für die sie Geld benötigte. Niemand schenkte den weinerlichen Geschichten der Alten Glauben, die in Angstzustände verfielen, wenn sie der Pflegerin ansichtig wurden und erstarrt verstummten, wenn sie ihnen begütigend über die fahlen Wangen strich, während ihre Augen ihnen den nahen Tod verhießen.

      Sie achtete sorgfältig darauf, sich vor dem Verabreichen der Todesspritzen eine Unterschrift unter vorbereitete Dokumente geben zu lassen, die Vermächtnisse für sie aussetzten. Unglück­licherweise konnte sie davon nie Gebrauch machen, da die Erben eine listige Bande raffgieriger Erbschleicher waren, die unter dem Deckmantel familiärer Fürsorge Nachtschränkchen und Schubladen durchwühlten und jeden Ring und jede Brosche beim Namen riefen.

      Mehrfach erregte sie den Argwohn spitzzüngiger Verwandter, die mit immer neuen Forderungen das Personal piesackten und sich mit der verschwörerischen Übergabe einer Packung Kaffees oder einer Schachtel Pralinen der besonderen Dienstfertigkeit einer Fachkraft versichern wollten.

      Neulich habe die Großmutter noch eine größere Geldsumme in ihrem Nachttisch verwahrt, äußerte eine picklige Göre mit abgeknabberten Fingernägeln und einem penetrant brombeerfarbig geschminkten Mund. Sie riss die Augen auf und ließ die unausgesprochene Anschuldigung im Raum schweben. Wo denn wohl die Brosche abgeblieben sei, fragte zögernd ein wohlerzogener Mann, der älter wirkte als seine Mutter, die zu jedem seiner Besuche ihrer Fesseln entledigt und frisiert wurde. Seine Finger beschrieben einen Halbkreis und er erläuterte umständlich die Porzellanarbeit, die seiner Mutter so viel bedeutete. In Wirklichkeit bedeutete die Brosche dem Wrack aus gelblichen Hautfalten und porösen Knochen nichts, denn sie hatte sich in bunten Träumen verloren, in Welten, die nur Psychopharmaka auslösen konnten, in weit entfernten Welten, die ein Lächeln auf ausgetrocknete Lippen zauberten. Lange nachdem sich der Sohn mit einer liebevoll hilflosen Geste verabschiedet hatte, würde die alte Frau wieder fahrig und verwirrt in die Realität eintauchen, mit welken Händen um sich tasten und kleine Schreie ausstoßen, weil sie sich erinnerte. Dann wurde es Zeit für die Gurte und die erzieherischen Mittel, um sie in den Griff zu bekommen, denn die Abläufe durften unter keinen Umständen gestört werden.

      Der Todesengel hatte die Pose der hoffnungslos Überlasteten perfektioniert und schenkte den Angehörigen, die Ihre Unsicherheit hinter einer Mischung aus Aggressivität und Hilflosigkeit verbargen, achselzuckende Sympathie. Sie entkrampfte deren schlechtes Gewissen mit beruhigenden Bemerkungen, die sie mit Anteil nehmender Schwermut und einer Portion Fachbegriffe würzte. Wie ein verständiger Dozent berührte sie verspannte Arme und drehte starre Rücken in die Richtung eines Zimmers, in denen Bewohner wie mumifizierte Puppen saßen und lagen, einige geschäftig murmelnd, andere

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