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einsilbig und nichtssagend, wenn jemand das Wort an sie richtete. Nach ihrer Inhaftierung war sie von einer schlanken Frau zu einer hageren mutiert, die außer einer unparfümierten Fettcreme keine Kosmetika benötigte. Dennoch war sie von einer unterschwelligen Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschloss, wenn ihre schwarzen Haare einen langen Hals freigaben oder ihr abgewandtes Gesicht ein Profil offenbarte, das man bei vielen Mannequins schon einmal gesehen zu haben glaubte.

      Wäre ihre Beckenpartie nicht eine Spur zu breit gewesen, um den knabenhaften Modelmaßen zu entsprechen, wäre sie geradezu perfekt gewesen. Eine Vorsehung hatte für die Frau einen solchen Weg nicht im Sinn und so kam es, dass sie vor einigen Jahren nach einer großen Tasse Kakao ihre erste alte Frau umbrachte.

      Als der zweite Brief des gleichen Absenders eintraf, erwartete sie ihn mit einer scheinbar ruhigen Gelassenheit. Lediglich ihre Hände, die für den gesamten Rest des Körpers Strafarbeit zu verrichten schienen, verknoteten sich ineinander und straften ihre stoische Ruhe Lügen. Aus der kargen Auswahl potenzieller Brieffreundschaften war niemand verblieben, der ihr Schweigen als Aufforderung zu einem erneuten Versuch begriff. Alle hatten kapituliert bis auf den einen, der sein erstes Anschreiben mit einer selbst gemalten, unbeholfen wirkenden Lakritzschnecke verziert hatte. Neben wohlgesetzten höflichen Worten, die weder in ihren Intimbereich drängten, noch abgedroschen oder mitleidig wirkten, teilte er nur mit, dass er seine demenzkranke Mutter pflege und seine wahre Berufung nach frustrierenden Studien- und Berufsjahren in der Süßwarenindustrie gefunden habe.

      Die Lakritzschnecke verbarg sich am oberen Rand des Briefes unter einem Passbild, das einen gutmütigen Blonden mit Nickelbrille und wachen Augen zeigte. Die vollen Wangen lächelten gehorsam dem Objektiv der Kamera entgegen und gehörten sicher zu einem wohlgenährten Körper, der eher vordergründigen Vergnügungen nachging als sich asketisch zu kasteien. In einer ersten Reaktion schlug die Frau eine Hand vor ihren Mund und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als sie die Zeichnung unter dem Bild entdeckte. Ihre hohen Wangen glühten und die dunklen Augen flogen über die Zeilen des Briefes bis zu der Stelle, an der der Mann schrieb, die Schnecke sei ein Ersatz, falls das Bild abhanden gekommen sei. Er offerierte keine weitere Erklärung für seine sonderbare Auswahl und Handlungsweise, sondern schilderte mit viel Enthusiasmus seine Hingabe an die immense Vielfalt von Süßigkeiten und deren segensreiche Gabe, das Glück in die Gesichter von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu zaubern.

      Ohne sie wie die meisten anderen aufzufordern, bestimmte weitere morbide Details über ihre Karriere als Mörderin preiszugeben oder stark verfrühte Hingabegelübde vor ihr auszubreiten, ihren straffen Körper betreffend, schloss er seinen Brief lediglich mit dem Satz: „Ich kann Sie verstehen. Meine Mutter leidet an Alzheimer. Bestimmt verstehen Sie auch mich.“

      Sie hatte dem Impuls widerstanden, über die Herstellung von Lakritz nachzudenken oder dem Geheimnis des bittersüßen und auch salzig herben Geschmacks der schwarzen Delikatesse mithilfe der beschränkten Mittel der Leihbücherei nachzugehen. So war sie schon immer gewesen und sie hatte bereits als Kind gelernt, diesen Hang zur Besserwisserei zu bedauern.

      „Das Mädchen ist verrückt“, seufzte die Mutter, wenn sie Fragen über den Inhalt der Höcker der Kamele stellte. „Das Kind ist verrückt“, zuckte der Vater mit den Achseln und bediente sich aus einer Flasche Korn, die so unweigerlich zu ihm gehörte wie seine übrigen Gliedmaßen. Auf die eindringliche Frage, wie wohl der Mond rieche, wusste er keine Antwort. „Da kommt die Verrückte“, unkten die Schulkameraden, wenn das hoch aufgeschossene Mädchen mit Zahnspange im Biologieunterricht zu dem Thema referierte: „Das partnerschaftliche, instinktgelenkte Jagdverhalten von Zackenbarsch und Muräne am Rande der Korallenriffe.“ „Du kannst einen wirklich verrückt machen“, stöhnte ihr Mann, wenn er nach ihr griff, um seinen Anspruch auf den Vollzug der ehelichen Pflichten zu demonstrieren und sie sich mit einem geübten Manöver entwand, auf seine brennende Zigarette wies und ihn mit ernstem Unterton fragte, ob er dem Forschungsergebnis glaube, dass 221 Gene den Unterschied zwischen Rauchern, die aufhören können und solchen, die scheitern, ausmachen.

      Und so war es mit ihr geblieben. Alles, was sie hörte und las, musste sie auf Waagschalen legen, in einen Fragenkokon einspinnen, drehen und wenden wie einen wertvollen Stein, der durch das Schleifen mit Wissbegierde und das Polieren mit Wahrheit erst den richtigen Glanz erhielt.

      Fast hätte sie diese Prozedur auch der Lakritzschnecke angedeihen lassen. Vielleicht hätte sie es noch getan, weil sie es gewohnt war, keine Antworten von anderen zu erhalten. Und dann kam der zweite Brief.

      Er war im gleichen vertraulichen Plauderton gehalten, als hätte sich die Frau nicht in Schweigen gehüllt, das leicht als Ablehnung verstanden werden konnte. Ohne belehrend zu wirken, ließ der Schreiber einige Ideen zur Lakritzherstellung folgen und reicherte die bekannten Tatsachen zur Verwendung der Süßholzwurzeln mit kleinen Anekdoten an, die sich um die Zugabe von Salmiak in nordischen Ländern bis zur Befürchtung, die Nascherei rufe wegen ihrer hormonähnlichen Struktur Impotenz hervor, rankten. Zwischen zwei Abschnitte des Briefes hatte sich die Zeichnung einer Nase geschmuggelt, die bei der Leserin einen Heiterkeitsausbruch auslöste, den sie erst unterdrückte, als sie sich beobachtet fühlte. Sie kramte das Passbild des Mannes hervor und konnte genau erahnen, wie seine Augen schalkhaft blitzten, als er die Nase als Symbol des überragend wichtigen Geruchssinns für die Süßwarenherstellung einfügte. Sein Name war Mark und der Vertrieb von Süßigkeiten passte zu ihm.

      Sie glaubte nicht, dass sich der Schreiber tief greifende Gedanken über ihre Gefühlswelt und Befindlichkeiten gemacht hatte. Er schien von einem Mittelungsbedürfnis beseelt zu sein, das sich mit ihren Informationsinteressen deckte, denn er fabulierte in lockerem Ton und ohne Angst, die Angeschriebene zu langweilen oder abzustoßen. Ernster wurde sein Stil, als er erneut auf die Motivation zu sprechen kam, die ihn dazu gebracht hatte, sie anzuschreiben.

      Schnörkellos verzichtete er auf die üblichen Beteuerungen, dass er kein verschrobener Sonderling sei, der den Kontakt mit einer Gefangenen als besonderen Kick erlebte. Er wies auch kein Helfersyndrom auf, das viele Gutmenschen auszeichnete, die sich gesellschaftlich engagieren wollten und sich heute für die Rettung der Flussauen, morgen für den in seiner Existenz bedrohten Feldhamster und später für die Resozialisierung von Strafgefangenen einsetzten. Solche Menschen waren edel und sie wollten, dass dieses Prädikat öffentlich bekannt wurde, um sich in aller Bescheidenheit damit schmücken zu können.

      Mark dagegen war erfrischend anders. Er erwähnte die Dokumentation des Fernsehsenders und schilderte die Schlüsselszene, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu glauben. Die Einstellung war eine Halbtotale, die die Frau in der Wäscherei zeigte. Ihre Hände hantierten ungeschützt mit einer Lauge und schweren Bottichen. Ihr Gesicht war friedlich und die Schatten des Verlustes ihrer Existenz umgaben sie wie Gespenster der Vergangenheit. In den feuchten Dunst hinein kommentierte ein Sprecher die Geschehnisse in dem Altenheim in kirchlicher Trägerschaft, das die bürgerliche Gesellschaft erschauern ließ und die Sensationsgier vieler befriedigte.

      Wochenlang zeigten die Nachrichtensender die gleiche Verhaftungsszene. Zwei Polizisten und mehrere wichtig aussehende Männer in Zivil führten die Altenpflegerin in Handschellen ab. Ihr Kopf war gesenkt, aber man konnte erahnen, dass sie eine Schönheit war. Aus ihren leicht erhobenen Händen, die noch schwanenweiß und jungfräulich wirkten, machten die Gazetten die bittende Geste einer Verzweifelten, obwohl sie nur nach einer Zigarette gefragt hatte und dabei war, diese entgegenzunehmen. So wurde sie in ständiger Wiederholung bis zu ihrem Prozess in einer Endlosschleife derselben Aufnahmen verhaftet. Ihre Hände hoben sich immer aufs Neue der Zigarette entgegen. Die Verhaftete wurde dieser Sequenz bald überdrüssig, die sie zu einer öffentlichen Person und dem ‚Todesengel‘ machte, bildlich reduziert auf zwei gefesselte Hände, die sich wie Komplizen der Presse in das Bild schoben, das für sich in Anspruch nahm, die ganze Wahrheit zu erzählen. In der Haft würde sie die vorwitzigen und gedankenlosen Hände mit harter Arbeit und Nichtachtung strafen, denn sie warf ihnen Verrat und Illoyalität vor.

      Acht Heimbewohner waren während der Schichten des Todesengels ums Leben gekommen. Es waren allesamt Frauen, schwere Pflegefälle mit leeren Augen und verwirrten Gesichtern. Man schätzte, dass die Pflegerin Dutzende alter Menschen umgebracht haben könnte und nahm umfangreiche Exhumierungen vor. Eine Überprüfung ergab, dass erhöhte

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