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hatte ein Bild von der zusammengesunken Dasitzenden veröffentlicht. Sie hatte ein gelbes Minikleid getragen, das zu dem Anlass, einen Einkaufsbummel zu machen und ihren Sohn in den Tod zu schicken, schlecht gewählt war.

      Dieses Mal hatte er die aufsteigende Erregung nicht ignoriert und den Fotografen kontaktiert, der ihm nach anfänglichem Sträuben gegen eine großzügige Vergütung eine Adresse nannte. Für die Welt war der Vorfall eine Momentaufnahme gewesen, die alsbald dem Strudel des Vergessens anheimgefallen war. Anders war es für die Frau im blauen Mantel und ihren Schatten, der getreulich in der Nähe des Reihenhauses mit dem unfertigen Garten wartete. Sie war die einzige Bewohnerin und er hatte keine Sorge, dass er sie nicht erkennen würde.

      Er wusste, dass er lange warten würde, denn die Frau hatte sich noch am Unfallort mit einer Nagelfeile die Pulsadern aufgeschnitten, ohne sich um die Überreste ihres Kindes zu kümmern. In ihrer Betäubung war sie handlungsfähig geblieben und hatte die Konsequenz gezogen, bevor man sie versorgte und am Abend in die Obhut ihres geschiedenen Mannes übergab, der sein überhebliches Lächeln gegen eine Miene feindseliger Besorgnis eintauschte. Ein zweites Bild zeigte sie schweigend gegeneinander gelehnt wie erschöpfte feindliche Kämpfer, die sich auf eine Waffenruhe geeinigt hatten. Schon am nächsten Tag fuhr ein Krankenwagen vor dem Haus vor und entführte die von Beileidsbesuchen und einem Medikamentencocktail zu Tode Geschwächte auf die Intensivstation eines Krankenhauses, wo man die zum Selbstmord Entschlossene reanimierte.

      Was ihn fesselte, war die Geduld, mit der die Frau ihre systematische Selbstzerstörung betrieb. Sie war erfüllt von einer zähen Sturheit, die ihre Handlungen diktierte und ein Aufweichen der bürgerlichen Konventionen nur an den Rändern der Existenz zuließ, wo es um passende Kleidung oder gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensmuster ging. Er sah den blauen Mantel und die unangezündete Zigarette als Indizien an. Ganz sicher war er sich seiner Sache, als keine der Stationen, die sie bei ihrer Stadtbegehung gestreift hatten, Kaufinteresse auslöste. Natürlich hätte es geholfen, wenn sich die Frau im blauen Mantel auffällig verhalten hätte, wie jene es tun, die ihren Verstand auf eine publikumswirksame Art verlieren und sich laut klagend in Fußgängerzonen ihrer Kleidung entledigen, sich die Haut zerkratzen oder sinnlos alkoholisiert vor sich hin brabbeln.

      Die äußerlich Funktionalen jedoch, die mit einer stupiden Effizienz zerbrachen, ohne eine Scherbe zu verlieren, waren schwer aufzuhalten, denn sie verhielten sich allenfalls ein wenig sonderbar wie vorübergehende Randexistenzen, denen man zutrauen konnte, dass sie sich bald wieder fangen würden.

      Die Frau im blauen Mantel hatte ihren Weg fortgesetzt und strebte einer Stichstraße zu, die sie an einigen Antiquitätenläden vorbei zur lärmenden Betriebsamkeit der Hauptstraße bringen würde. Er konnte sich nur schwer aus seinen Gedankengebäuden lösen und war froh, dass er ihr wegen der beinahe erfolgten Enttarnung ohnehin einen Vorsprung gewähren musste. Aus den Augenwinkeln verfolgte er den Mantel. Er drehte sich einmal um die Achse wie ein Tourist, der sich nicht sicher ist, auf welchem Weg er seinen Müßiggang fortsetzen soll und schaute wieder in ihre Richtung. Die Gasse lag wie ausgestorben da. Er verfiel in einen hektischen Trab und stieß gegen einen Stapel Bücher, die ihre fleckigen Einbände präsentierten wie Wundmale. Er fluchte. Der ältliche Ladenbesitzer schüttelte hinter seinem Rücken mit geübter Geste eine Faust und stimmte ein undefinierbares Gezeter an, als seine Schätze auf die Erde polterten. Hektisch blickte er um sich. Er hatte sie verloren.

      Frustriert stocherte er mit einer Hand hinter sich herum, bis er mit dem wackligen Büchertisch Kontakt hatte, der ihn daran zu hindern wagte, die Früchte seiner mühevollen Arbeit zu genießen. Ohne seinen Blick von den reglosen Schatten der Gasse abzuwenden, stieß er in den verbliebenen Bücherstapel hinein, der sich in schiefer Formation auf der Sperrholzplatte festkrallte. Zwölf Bände einer bei Touristen beliebten Esoterikreihe von zweifelhaftem intellektuellem Niveau rutschten über die Kante des provisorischen Tisches. Mit einem Wehlaut raffte der Antiquar, der seine zur Verkaufsförderung zur Schau getragene gelassene Bohemien Attitüde verlor, die Druckwerke an sich, kaum dass sie den Boden berührten. Er strich über ihre gekrümmten Rücken und inspizierte ihre Seiten, nicht ohne giftige Blicke in den Rücken des rücksichtslosen Fremden zu senden und halbherzig Verwünschungen zu murmeln, die aus merkantilen Gesichtspunkten die naheliegende Forderung nach Schadensersatz beinhalteten.

      Die Wut des Verfolgers war noch nicht verraucht. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne sich um den Alten zu kümmern oder daran zu denken, dass die ersten Gaffer in die Gasse schauten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Die Frau musste den Augenblick der Unaufmerksamkeit genutzt und sich im Laufschritt entfernt haben, als er sich noch gockelhaft drehte. Ein Windstoß fegte an den unscheinbaren Läden entlang und trieb Papier und Laub vor sich her wie eine Lumpenarmada. Der Verkehrslärm der nahen Hauptstraße schwoll in unregelmäßigen Abständen zu einem dissonanten Klangbrei an und zerfiel wieder in gut unterscheidbare Melodien aus Rattern, Klingeln und Hupen.

      Der Verfolger schaute im Vorwärtsgehen nach oben, als könnte der schmale Ausschnitt aus jagenden Wolkenformationen eine Quelle der Inspiration sein. Er fühlte, wie die Niedergeschlagenheit in seinen Körper kroch, und spürte die tiefe Müdigkeit, die die Reste von Adrenalin verdrängten.

      Die Hand war ansatzlos aus dem Halbdunkel eines Treppenabsatzes geschnellt und hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Er hielt sich sein Gesicht und rieb sein Ohr, während sich Taubheitsgefühl und Scham ein Stelldichein gaben. Die energische Hand holte erneut aus und hielt inne, als sie gewahr wurde, dass sich der Gezüchtigte in einem Reflex ängstlich duckte und hinter seinem angewinkelten Ellenbogen unzureichenden Schutz suchte. Die Hand sank herab und der blaue Mantel löste sich aus dem Hauseingang. Das ovale blasse Gesicht der Frau schwebte die ausgetretene Sandsteintreppe herab und beugte sich zu dem Gesicht des Mannes. Die Zigarette war verschwunden.

      Die Augen der Frau waren grau und intensiv. „Perverser“, sagte der Mund und betonte jede Silbe mit schneidender Schärfe. Er sagte es noch einmal, dieses Mal lauter und bestimmter. Das böse Wort prallte gegen eine gelbliche Hauswand und füllte die Gasse mit seinem Klang. Der Ladenbesitzer griff es eilfertig auf, ohne der Frau zu Hilfe zu eilen. Mit in die Hüften gestemmten Ärmchen wiederholte er eifrig nickend „So ein Perverser“, als ob die plakative Anschuldigung die Erklärung für vieles wäre, was jemandem an einem solchen Tag widerfahren könne. Neugierige Passanten kamen vorsichtig näher, um die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Jemand rief nach der Polizei. Erste Andeutungen von einer versuchten Vergewaltigung machten die Runde. Der Antiquar hob den näher Tretenden eine Auswahl Bücher entgegen. Mit Perversen verkaufte man Bücher.

      „Tun Sie es nicht!“

      Es war mehr ein Flüstern, tonlos und brüchig. Noch immer seine Wange massierend wiederholte er sich in bittendem Tonfall, als müsse er in der Anzahl der Äußerungen mit ihr gleichziehen.

      Ihre Haltung änderte sich und das Leben in ihren Augen erlosch. Ohne ein Wort wehte ihr Duft an ihm vorbei, der Mantel streifte seinen Kopf. Er wagte es nicht sie festzuhalten. Seine linke Hand hatte sein Mobiltelefon ertastet, aber es war zu spät, das Foto zu machen. Es wäre ein annehmbares Foto gewesen, en passant aus der Hüfte geschossen, mit ihren zu Eis erstarrten Gesichtszügen und einem Teil des Mantelkragens als Motiv. So aber blieb ihm nichts weiter als die öffentliche Demütigung und das Gefühl des Versagens. Die Frau im blauen Mantel gehörte ihm nicht mehr. Er würde nicht zu einem neuen Versuch ansetzen, denn er hatte das unsichtbare Band zwischen ihnen zerstört. Die Zeit verrann ungenutzt.

      Das Kreischen der Straßenbahn übertönte die gellenden Rufe, die die Hauptstraße in Aufruhr versetzten. Verwirrt erhob er sich und schüttelte seine Benommenheit ab. Martinshörner mischten sich mit ihrer penetranten Zweitonmelodie in die Geräuschkulisse ein und übernahmen die Vorherrschaft. Er stürzte vorwärts. Eine schwache Sonne wetteiferte mit pulsierenden blauen Lichtern, die Notfallmedizinern und Polizei ihre Autorität verliehen.

      Mit groben Armbewegungen zerteilte er eine reglose Menschenmenge, die beständig zunahm und einen Halbkreis um ein Knäuel von Schienensträngen bildete. Hände überdeckten zum Zeichen des Entsetzens die Münder und ein gut gekleideter Mann besaß den Anstand, aus Ehrerbietung seinen Hut zu ziehen. Sein dünnes graues Haar zauste im auffrischenden Wind.

      Ein Notarzt nahte

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