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Einige Polizisten versuchten die Menge zurückzudrängen. Ohne Murren folgten sie mit einiger Verzögerung den lauten Anweisungen der Ordnungshüter, um an anderer Stelle wieder in die Gafferstellungen zu drängen wie ein gärender Teig.

      Der Verfolger aber trat mit gemessener Autorität an den blauen Mantel heran, der von den stählernen Radreifen der Bahn mit tonnenschwerer Zärtlichkeit festgehalten wurde. Er schwenkte mit geistesabwesender Geste seinen Bibliotheksausweis, um den Eindruck zu verfestigen, dass er in offizieller Ermittlungsfunktion und nicht als sensationsgieriger Leichenfledderer am Ort sei. Niemand würde dies in einem solchen Moment infrage stellen. Und mehr als einen Moment würde er nicht brauchen.

      Die Frau im blauen Mantel lag in der Pose einer Gekreuzigten unter der Straßenbahn, die sie noch ein Stück mitgeschleift haben musste. Der Notarzt sah sich nach seinen Helfern um, denen er rasche Befehle zubellte. Infusionsbeutel und dickbäuchige Plastikkoffer wurden herbeigeschleppt. Der Verfolger beugt sich nach vorn. Er hatte keinen Blick für den abgetrennten Fuß, der noch im unversehrten Schuh stak. Er interessierte sich nicht für die unnatürlich verkrümmte Haltung der Schwerverletzten. Er war immun gegen die hastige Stimme der Marktfrau in seinem Rücken, die ihrer schockierten Nachbarin zum wiederholten Mal versicherte:

      „Sie ist mit ausgebreiteten Armen vor die Straßenbahn gelaufen. Mit ausgebreiteten Armen, als wolle sie sie umarmen.“

      Er interessierte sich nur für das Gesicht der vom Tod Gezeichneten, bevor ihre Züge hinter einer Sauerstoffmaske verschwinden würden.

      Mit geschäftsmäßiger Routine und ohne den Kopf zu heben, blaffte ihn der Arzt an, er behindere die Rettungsmaßnahmen, wenn er hier herumlungere. Es gäbe noch nichts zu ermitteln. Er zeigte alle Anzeichen einer in vielen Einsätzen geübten Empörung, die keine weiteren Konsequenzen haben würde.

      Mit einem Seitenblick vergewisserte sich der Verfolger, dass die Aufmerksamkeit der Menge auf eine lärmend heranrückende Journalistenmeute gerichtet war. Der Verkehr war vollkommen zum Erliegen gekommen. Die weiter hinten eingekeilten Autofahrer hupten ihren Zorn quer über die breite Straße. Eine bleigraue Wetterwand hatte sich vor die Sonne geschoben und es begann unaufgeregt zu nieseln. Dünne Regenfäden luden ein Heer verschiedenartiger Schirme dazu ein, sich wie ein Flickenbaldachin über die wartende Menge zu schieben.

      Scheren hatten die Liegende von der blauen Mantelhülle befreit. Das blasse Oval ihres Gesichtes war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie stöhnte. Infusionsnadeln bissen sich in ihre Arme. Der Beschatter hatte die Kamera seines Mobiltelefons mit steifem Arm auf sie gerichtet und drückte ab. Ihre Augen trafen sich und er sagte so laut er es wagte:

      „Tun Sie es nicht … ohne mich.“ Er wiederholte sanft: „Ohne mich, hatte ich vorhin gemeint.“ Sie schloss die grauen Augen. Sie schien keinen Schmerz zu verspüren. Auch der Ausdruck von Trauer und Bitterkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie die Augen öffnete, lächelte sie.

      Es war ein denkbar ungeeigneter Moment für eine Erektion, aber es gelang ihm sie zu ignorieren. Es war ein Moment der Zwiesprache mit einer fußlosen sterbenden Frau, die jeglicher Würde beraubt in einem besudelten grauen Kostüm inmitten zerschnittener Streifen eines geschmacklosen blauen Mantels in einem schmutzigen Gleisbett lag und Buße tat für den Tod ihres kleinen Jungen. Der Mann mit dem Mobiltelefon griff nach seinem Werkzeug. Das handliche Teppichmesser in der Hand, trat er rasch einige kleine Schritte näher und bückte sich. Die Sanitäter hielten irritiert inne, als er ein herrenloses Stück Saum des Mantels an sich zog und mit einem kräftigen Schnitt einen Teil davon abtrennte.

      Das Unfallopfer war zum Abtransport bereit. Sie hatte viel Blut verloren. Der Mann mit dem Teppichmesser hatte eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Ohne sich um die ärgerlichen Zwischenrufe der Sanitäter zu kümmern, tastete er nach dem Probefläschchen des Parfums, das die Frau im blauen Mantel im Kaufhaus ausprobiert hatte. Er hatte es unbemerkt eingesteckt, ohne zu wissen, wofür er es brauchen würde. Jetzt wusste er es. Der Nieselregen und der Tod hatten den angenehmen Geruch der Frau weggewischt. Es roch feucht und erdig und nach Vergänglichkeit. Der Mann wischte sich die Regenspuren aus der Stirn.

      Er lief dicht neben der Trage her und es gelang ihm, das kleine Gefäß über ihren Oberkörper zu halten. Der Sprühstoß blieb fast unbemerkt, zumal es einigen Journalisten gelungen war, die löchrige Absperrung zu überwinden und mit Kameras und Mikrofonen bewaffnet am Maul des Krankenwagens zu ihnen zu gelangen. Befriedigt ließ sich der Mann aus der Phalanx der Nachrichtenhändler herausfallen. Es roch nach Nelken und Johannisbeere. Lediglich einer der Sanitäter, der mehrfach versucht hatte den Arm des Mannes zur Seite zu drücken, glaubte zu wissen, was geschehen war und rief wütend über seine Schulter hinweg:

      „Du Perverser!“

      Der Mann lächelte und drehte das Stück blauen Stoff zwischen seinen Fingern, während er mit weit ausholenden Schritten davonlief. In Zukunft würde er seine Sache besser machen.

      II.

      Sie sah auf ihre Hände. Sie lagen vor ihr wie zwei Fremdkörper, rot aufgedunsen und knotig, als ob sie sich in harter Fron Erfrierungen, rheumatische Verformungen und eine schorfige Haut erarbeitet hätten und jetzt ihren Ruhestand genössen. Die eingekerbten Fingernägel waren kurz geschnitten und hatten schon lange keine Feile mehr gesehen. Sie waren bäuerlich breit, aber die Nagelbette präsentierten sich sauber geschrubbt hinter milchigen Halbmonden.

      Die Finger trommelten nervös auf die graue Tischplatte. Bläuliche Venen rollten auf den Handrücken. Die Hände waren erst Mitte dreißig, genau wie die Frau, die steif auf einem Stuhl saß und auf ihre unruhigen Finger herabsah, die keinem bestimmten Rhythmus folgten. Die Frau und ihre Hände hielten sich in einem kleinen Raum auf, einer spärlich eingerichteten Zelle, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Es war nicht klar, ob es ihnen bewusst war, dass sie sich im Gefängnis befanden, denn sie waren in ihre eigenen Welten versunken, die Hände in eine Welt leichter Erschütterungen, die sich beruhigend fühlbar über ihre Haut fortpflanzten und die Frau in eine Welt, die im Wesentlichen aus zwei Briefen bestand, die sie von einer Aufseherin erhalten hatte.

      Selbstverständlich hatte sie nach der Dokumentation, die in einem anspruchsvollen Nachtprogramm eines überregionalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, körbeweise Post bekommen, die von der Gefängnisleitung mit zähem Missvergnügen zensiert und missbilligend weitergegeben wurde, bis das Interesse an ihrer Person auströpfelte und nur noch die Straffälligenhilfe ihren zweifelhaften Prominentenstatus durch vermehrte Hilfsangebote anerkannte.

      Man hatte die Bilder mit erigierten Schwänzen, die emotional gestörten Elegien spät pubertierender Männer, die kommerziellen Angebote dubioser Verlage und Filmgesellschaften zur Vermarktung ihrer Lebensgeschichte und viele andere außergewöhnliche Ergüsse sorgfältig gefiltert, geschwärzt und entfernt, bis die Zensur einen leicht verdaulichen Einheitsbrei fabriziert hatte, der ohne Schaden an die Inhaftierte zur weiteren Verdauung weitergereicht werden konnte.

      Sie hatte sich Zeit genommen und die Umschläge studiert, denen ein automatischer Öffner Gewalt angetan hatte. Manche der Umschläge waren cremefarbig und schwer. Zumeist trugen sie Sondermarken in Form farbenprächtiger Vögel, imposanter Schiffe oder ernst blickender Persönlichkeiten, von denen sie keine erkannte.

      Missfallend ballten sich die Hände, wenn sie auf plakative Unterstreichungen oder fett gedruckte Worte fielen, die das besonders betonte Attribut vollkommen unglaubwürdig machten und ein verächtliches Fingerschnippen ernteten Streichungen, die den Autor der Zeilen als wankelmütigen Wortklauber ohne Verve entlarvten.

      Schließlich hatte sich der Postberg auf ein kleines Häuflein versprengter Briefe reduziert, die wieder in ihren Hüllen staken und ungeduldig warteten, dass sie mit einer Antwort gewürdigt wurden. Die Frau allerdings wartete mit akkurat nebeneinander abgelegten Händen. Sie hatte das Warten perfektioniert, denn es war alles, was ihr vom Leben verblieben war. Ihre Leidensgenossinnen im Trakt gingen an ihrer offenen Zellentür vorbei, ohne ihre Neugier offen zur Schau zu tragen, denn sie wussten um ihre Verfassung und ihre Fähigkeit das in sich gekehrte Brüten in ein aggressives Zischen zu verwandeln, das von einem bösartigen Starren begleitet wurde.

      Ansonsten war die Frau ein Geist in Anstaltskleidung,

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