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in der gleichen Nacht entsorgte sie das Kästchen samt Inhalt und schleppte den Winselnden zur Notaufnahme des Krankenhauses. Gleichmütig bekannte sie, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe. „Sicher ein Unfall“, pflichtete der Arzt bei, dem über die Jahre das Staunen abhandengekommen war und für den es ein beinahe alltägliches Erlebnis war, Duschköpfe aus einer Vagina oder Champagnerflaschen aus einem Männerafter zu entfernen. „Ohne Zweifel ein Unfall“, wand sich der Verletzte, dem noch zahlreiche Operationen bevorstanden und dessen Narben an der Seele erst zu verblassen begannen, als die zerstörten Schwellkörper durch ein funktionierendes Implantat ersetzt wurden. Das Kästchen ruhte in einem Abfallcontainer des Krankenhauses. Es war nie mehr aufgetaucht, aber seine Geschichte stahl sich in die Nacht hinaus.

      Ein anonymer Hinweis erreichte die Polizei, die zögerlich ihre Ermittlungen aufnahm. Die Pflegerin musste geahnt haben, dass ihre Maßnahmen nicht ausreichend sein würden, um sich abzusichern. Seit dem Tag, an dem sie das Band der Ehe versengt hatte, wurde sie kummervoll und nachlässig. Sie sah zweifelnd auf ihre Hände, die Dinge vollbrachten, vor denen sie zurückschreckte. Sie meldete sich krank und verbrachte die Tage in einem Dämmerzustand. Die Wohnung wurde nicht mehr gelüftet und aufgeräumt. Zeitungen und Müll stapelten sich neben den Türen. Gebrauchte Kleidung fiel auf dem Boden übereinander her und Nahrungsmittel verdarben halb aufgegessen in der Küche.

      Der Mann, dem sie das Schweigevermächtnis eingebrannt hatte, verbat sich jeglichen Besuch und setzte seine Mutter wie einen Zerberus vor sein Krankenzimmer. Offiziell blieb er bei der Unfallversion, aber er konnte schreiben und wahrscheinlich hatte er Gebrauch davon gemacht. So wartete sie auf das Unvermeidliche, kam mit strähnigen Haaren und glasigen Augen zum Dienst, während um sie herum das Getuschel zunahm und die Leitung des Pflegeheimes ihre Suspendierung verfügte. Die Festnahme erfolgte wenig später.

      Man fand sie über ein halb aufgetautes Kaninchen gebeugt vor, in das sie ihre Zähne schlug. Sie hatte mit einem Kaffeelöffel Honig darüber verteilt und Estragon darauf gestreut. Sie schätzte die moderne Gourmetküche und war nur momentan nicht in der Verfassung, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Um sie herum faulte der Müll. Die Polizisten forderten Atemmasken an. Sie senkte den Kopf, als man ihr Handschellen anlegte. Dann übernahmen die Kameras und die Blitzlichter.

      Der Todesengel galt als Prototyp der massiv Gestörten. Die Dokumentation transportierte den Gedanken erfolgreich nach draußen und eine Entlassung auf Bewährung war bei entsprechender geistiger Gesundung durchaus denkbar. Sie war in aller Stille geschieden worden, nachdem sie eingewilligt hatte, dass ihr Mann den gesamten Erlös aus dem Verkauf der Eigentumswohnung für sich vereinnahmen konnte. Sie würde wieder auf die Beine kommen. Geduld war eine ihrer Stärken.

      Die Inhaftierte drehte den Brief zwischen den Fingern. Sie hatte ein gutes Gefühl. Sie würde dem Mann schreiben. Er war der Richtige für sie. Sie freute sich über ihre gesunde Erregung.

      Der Mann hatte auch eine pflegebedürftige Mutter. Sie wusste besser als jeder andere, was es bedeutete, eine Demenzkranke zuhause zu pflegen. Sie schnippte mit den Fingern. Wenn alles gut verlief, würde sie ihm bei der Betreuung seiner Mutter eine große Hilfe sein. Sie wusste, er würde sich darüber freuen.

      III.

      Wie immer hatte er sich ausgezeichnet vorbereitet und wie immer war er auf Überraschungen gefasst. Die Überraschungen waren die Würze seines Freizeitausgleichs. Schon oft hatte er geglaubt, darauf verzichten zu können, war aber nach den selbst auferlegten Pausen reumütig zu seiner Passion zurückgekehrt.

      Es gab Gleichgesinnte, die seine Art der Akribie belustigen würde. Das waren die Schwergewichte in seinem Feld, die ihr Hobby perfektioniert und den Amateurstatus hinter sich gelassen hatten wie nach einer Häutung. Er zupfte den Blouson zurecht, den er gewählt hatte, weil er die unverzichtbaren Utensilien verdeckte, die er mitführen musste und der Wetterlage gerecht wurde, die nach einigen sonnigen Tagen wechselhaft zu werden versprach.

      Und jetzt der Supermarkt. Ein lichtdurchfluteter Tempel voller einladender Gerüche und einer grandiosen Auswahl. Die lebenssatten Rentner schlurften dahin, ohne zu wissen, dass sie in der Obstabteilung eine Minute und vierundvierzig Sekunden zu verharren hatten, wenn sie dem Durchschnitt entsprechen wollten. Die rotzfrechen Jugendlichen mit den Baseballkappen und dem schlenkernden Gang, der die Coolness ihrer Markenklamotten auf die Person übertragen sollte, standen nicht die prognostizierten sechs Minuten in den stark frequentierten Außengängen mit den Frischeprodukten. Den Säufern war es einerlei, ob sie die Regalwelten von links oder rechts betraten. Sie erfüllten die Vorgaben jedoch zuverlässig in dem Punkt, dass sie niemals bis zur Mitte des Ganges vordrangen, weil die Flaschen mit dem Doppelkorn am Rande eines abseits angesiedelten Schamsortimentes in Bücktiefe aufgereiht waren.

      Der Mann im Blouson hatte den Markt mehrfach durchstöbert und ihn auf wissenschaftlich fundierte Marketingstrategien abgeklopft. Er war gewissermaßen ein Insider. Es verschaffte ihm eine grimmige Befriedigung, dass er die kühle Leere der ersten Meter nach dem Einlass als ‚Landezone‘ identifizieren konnte, in die die Käufer hineingingen, bevor sie von freundlichen Gemüsehindernissen gestoppt und manipuliert wurden. Er wusste, dass sein limbisches System mit Markeninformationen angefüttert wurde, um seine Kaufentschlossenheit zu festigen. Mit einem Kopfnicken begrüßte er die Kassenschleusen, die ihre Verlockungen streng nach Planogramm feilboten.

      Seine Beute, ein Mann mit Vollbart, steuerte eine dunkle Ecke an, in der sich aufgerissene Kartons stapelten und eine ramponierte Kühltruhe ihre Pensionierung angetreten hatte. Es war eine der Ecken, die ein vorübergehender Verlierer der Modernisierungswut war. Der Verfolger war einige Schritte zurückgeblieben und beschäftigte sich angelegentlich mit Spülmitteln in einem Hochregal. Er wusste, was jetzt kommen würde. Der Vollbärtige blieb stehen und warf einen Blick auf das klägliche Häuflein seiner Einkäufe. Es war das typische Sortiment aus Dauerwurst und Schmelzkäse, durchsetzt von einer Packung Industriebrot und einem Liter Milch als Hommage an die Gesundheit.

      Der unschlüssig Dastehende schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und schnippte es auf den Haufen Papierabfall. Er bog nach links ab und kehrte mit nachdenklichem Gesicht wieder an den Ausgangspunkt zurück. Der Vollbart und der unsichere, gebückte Gang machten ihn älter als er war. Der Verfolger wusste Bescheid. Der Mann war dreiundvierzig, ein arbeitsloser Bauingenieur, der nach Jahren der Arbeitslosigkeit Frau und Kind gegen einen Straßenköter und seinen neuen besten Freund eingetauscht hatte. Soeben griff er danach. Beim Bücken wäre er fast ins Straucheln geraten. Es war eine Flasche Weinbrand.

      Der Verfolger hatte genug gesehen. Es würde sein wie immer. Zu dem Weinbrand würde sich noch eine Flasche Korn gesellen und eine billige Flasche Wein, denn der Vollbärtige war bei seiner Reise noch nicht am Abgrund angekommen. Noch legte er Wert darauf, wenigstens den Anschein von Bürgerlichkeit zu wahren. Zwar trug er fast immer die gleiche abgenutzte Kleidung, aber er wusch sich und schnitt seinen Bart, wenn ihm der Alkohol Spielraum dazu ließ. Der Verfolger hatte beobachtet, dass der Mann Pfefferminzpastillen lutschte, die seinem Atem die Unschuld wieder geben sollten.

      Es war noch nicht ganz schlecht um ihn bestellt. Dabei hatte er ein Problem, das um ihn herum wucherte und ihn einspann. Es war ein Problem, das er in seiner Einbahnstraßenexistenz nicht wahrnahm. Das Problem war zur Expresskasse geeilt, um die Alibieinkäufe zu verstauen und aus anderer Perspektive auf den Bärtigen zu warten. Das Problem war, dass der Trinker Besuch erhalten würde. Der Besucher tastete über die Taschen seines Blousons und fühlte die familiären Gegenstände. Alles war an seinem Platz. Er lächelte.

      Die freundliche junge Frau verfehlte ihre Wirkung auf den Besucher nicht. Es war nicht seine Art, freundliche Menschen zurückzuweisen. Es war etwas anderes, wenn er sie besuchte. Dann verhielt er sich professionell. Hinter der Kasse, neben dem Zeitschriftenterminal war er fast privat. Er erwiderte den Gruß und schaute nach rechts. Seine Beute stand vor dem Süßigkeitenregal. Es würde noch einige Minuten dauern. Er war zufrieden und wandte sich dem Mädchen zu, das seine einführenden Worte virtuos herunterleierte und die Tempi mit einem Wippen auf den Zehenspitzen untermalte. Er unterbrach ihren Monolog nicht, obwohl ihm längst klar geworden war, dass es sich um die Umfrage eines Instituts handelte, von dem er glaubte, einmal gelesen zu haben. Im Wesentlichen sollte klassifiziert werden, zu welchem Typus Käufer

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