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potenzieller Autokäufer als so mancher Marktforscher, aber er behielt sein Wissen für sich, andere ging das nichts an. Seit Neuestem zählte er bei den Passanten schwarze Schuhpaare, echte Lederschuhe, weil er braune Schuhe nicht ausstehen konnte. Dunkler Anzug, braune Schuhe. Dunkelblaues Kostüm. Braune Slipper. Es war schrecklich. Aber der Schrecken war zählbar und dadurch zähmbar, und so addierte der Mann, was er sah.

      »Guten Morgen! Alles okay?«

      Zwei Zäune weiter taucht ein Nachbar auf, der wie der Mann seinen Vormittag im Garten verbringt.

      »Bestens!«, sagt der Mann.

      Der Nachbar hat einen roten Kopf, ganz ungewöhnlich am Morgen. Das fällt dem Mann sofort auf. Der Nachbar ist aufgeregt.

      »Haben Sie gesehen, da ist ein Vermessungstrupp unterwegs! Was wollen die?«

      »Ich habe die Orangemänner auch schon gesehen«, sagt der Mann. »Die stehen da schon seit einer Stunde in der Gegend herum. Der eine hält Stangen. Der andere schaut in ein Fernglas auf seinem Stativ. Der Dritte macht sich Notizen auf einem Klemmbrett mit vielen Formularen.«

      »Ein ruhiger Job. Und immer an der frischen Luft.«

      »Wir sind es auch!«, sagt der Mann.

      »Was die da bei uns wollen?«

      »Ich glaube, dass sie die Kanalisation neu vermessen. Die ist doch marode. Da werden vielleicht im nächsten Jahr neue Rohre verlegt.«

      »Oder der Ausbau des Glasfasernetzes …«, sagte der Nachbar. »Die waren schon bei uns in der Straße.«

      »Wir werden sehen«, sagt der Mann.

      »Es ist kein gutes Zeichen, wenn die auftauchen!«

      »Es wird nicht so heiß gegessen wie gekocht«, sagt der Mann.

      »Haben Sie auch so viele Schnecken?«

      »Na ja!«, antwortet der Mann. »Es ist wie es ist.«

      Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg leuchten jetzt frei von Dunst und Nebel im Morgenlicht, ein schmaler goldener Streifen. Es ist wärmer geworden. Die Konturen der Silhouetten von Häusern und Bergen zeichnen sich messerscharf unter dem Himmel ab, wie mit einer Graviernadel in den Horizont geritzt. Nichts lenkt das Morgenlicht ab. Der Himmel sieht ganz frisch aus, der Dunst hat sich verzogen.

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      Am nächsten Morgen steht der Kleintransporter mit dem gelben Blinklicht wieder vor der Kleingartenanlage des Vereins Amicitia Salzburg. Diesmal vermessen die drei Männer die Seitenlänge des Geländes, später die Rückseite. Wie ein Schwarm von Spatzen verbreitet sich die Nachricht von der Vermessung ihrer kleinen Welten unter den Kleingärtnern. Sie stehen in Gruppen zusammen, manche gestikulieren heftig, andere fassen sich an die Stirn. Einige schweigen.

      Der Mann sucht keinen Blickkontakt. Er hält wenig vom Geschnatter der Nachbarn, die ihn an die Gänse auf dem Kapitol in Rom erinnern: Alarm! Alarm! Es ist doch gut möglich, dass der Grundstückseigentümer, die Stadt Salzburg, ihr an den Kleingartenverein verpachtetes Gelände in seinem Umfang neu berechnen lässt. Es gibt ja für Grund und Boden neue Berechnungsmodelle, das trifft jeden Eigentümer, das ist nichts Besonderes.

      Zwei Kleingärtner prosten sich mit ihren Flaschen Stiegl-Bier zu. Ihm fällt auf, dass sie so früh am Morgen schon trinken. Bisher hat er das noch nicht beobachtet. Der eine wird laut. Er ballt seine Faust. Der andere klopft ihm auf die Schulter. Abwarten!, kann das bedeuten. Oder: Beruhige Dich! Der Mann versteht die Worte nicht. Draußen blinkt das Gelblicht auf dem Kleintransporter. Der Mann wird jetzt erst einmal die Schnecken einsammeln.

      Früher hat es für die Bepflanzung der Gärten strenge Regeln gegeben. Es ist festgelegt gewesen, wie viele Quadratmeter für Blumen und Ziersträucher zu reservieren waren, wie viele für Gemüse und Gewürze und für die Rasenfläche, auf der Kinder spielen konnten, Vogeltränken standen oder Gartenzwerge, hin und wieder auch ein Bambi, eine Gämse oder ein Steinadler, aus einem Kunststoffmaterial gegossen und mit dunklen Farben bemalt. Über allem flatterten die rot-weiß-rote Fahne oder die Flagge Salzburgs. Der Mann bedarf solcher Identitätszeichen nicht. Er weiß doch, wo er lebt und was er liebt. Er braucht keine Fahnen, um Halt zu finden, ein Bekenntnis abzulegen oder einem Feind zu signalisieren, dass hier ein fremdes Territorium beginnt.

      Seine Nachbarn weiteten die Rasenflächen aus. Jahr für Jahr vergrößerten sich die kurz geschnittenen grünen Areale, die Nutzflächen wurden immer kleiner. Aber auf dem blütenfreien Rasen stehen jetzt neue Hochbeete, günstig im Baumarkt erhältlich. Schneckensicher. Igelsicher. Schädlingssicher. Von wegen. Der Mann pflückt die ersten Schnecken von den Außenwänden des Hochbeets ab, das er sich schließlich auch, später als die anderen, angeschafft hat. Sie sind nicht zu überlisten. Nach zwei, drei Jahren haben sie oder ihre Nachkommen entdeckt, wie sie die lackierten Holzflächen erklimmen können, ganz langsam, beharrlich. Die getrockneten Schleimspuren glänzen im Morgenlicht. Der Salat ist nicht befallen. Die Kräuter lassen sie in Ruhe. 17 Schnecken zählt der Mann.

      Unter den Efeublättern kleben sehr kleine Schnecken mit gelben Häusern. Auch sie können hier nicht bleiben. »Tut mir leid!«, sagt der Mann. Schneckenhaus nach Schneckenhaus löst er aus seiner Verklebung unter dem Efeu. Es sind 43 Stück. Auch heute trägt er die Schnecken in den Frischhalteboxen aus der Kleingartenanlage hinaus. Diese winzigen, knallgelben Schnecken kannte er früher nur als Fundstücke am Strand von Saint Simon im Finistére der Bretagne, am Ende der alten Welt. Stunde um Stunde hatten sie damals die kleinen leeren Schneckenhäuser gesammelt, sie in Glasbehälter eingefüllt, die heute noch in seinem Badezimmer stehen. Souvenirs? Vielleicht. Eher die Materialisierung von glücklichen Augenblicken an den Stränden, das Wasser war kalt, es war Ebbe, und die Zeit verlor sich im Suchen zwischen den Wasserlachen in der steifen Brise vom Atlantik her. Die kleinen und mittleren Steine lassen sich gut umdrehen, und unter ihnen sind Wunderwelten zu entdecken.

      Draußen flackert das gelbe Blinklicht. Vielleicht ist für die Fernwärme eine neue Rohrverlegung geplant. So könnte es sein. Das wäre möglich.

       5

      Wolff schrieb.

      Er hatte sich aus der Abteilung Archiv und Dokumentation biografische Daten über den Chefredakteur kommen lassen. Die Programmassistentin stellte ihm eine Tasse mit frischem Kaffee hin, sagte kein Wort und verließ sein Büro. Wolff neigte nicht zur Übertreibung. Aber die Nachricht vom Tod des Chefredakteurs ließ den Flurfunk, wie der Klatsch intern genannt wurde, abrupt verstummen, dieses Netzwerk für schnelle Informationen quer durch das Haus mit seinen offenen Redaktionstüren und dem schneckenförmigen Treppenhaus im Hauptgebäude. Es war ruhiger als sonst. Die Telefone läuteten nicht im gewohnten Rhythmus eines Arbeitstags. Wolff hatte knapp 30 Minuten, um den Nachruf zu verfassen. Dann würde er ihn vom Hörfunkdirektor gegenlesen lassen und in das Aufnahmestudio eilen. Im Haus der 1000 Uhren wurden Zeiträume exakt vermessen, und sie waren knapp kalkuliert. Wer zu spät in die Tonträgerbearbeitungsräume kam, Selbstfahrerstudio hin oder her, verlor den Termin, der nach 10 Minuten an andere vergeben wurde. Die Dispo machte da keine Ausnahmen. Der Nachruf sollte im Anschluss an die Mittagsnachrichten in zwei Programmen gesendet werden, die aktuellen Programme würden sich auf eine knapp formulierte Meldung beschränken, im Übrigen auf die Würdigung in den beiden anderen Wellen hinweisen.

      Wolff, der seit seinem 16. Lebensjahr journalistisch arbeitete, noch als Schüler, später als Student, der seitdem auch gewusst hatte, dass er Journalist werden wollte, und der erst für eine Sonntagszeitung, dann für eine aktuelle Agentur und schließlich für die Lokal- und Feuilletonredaktion seiner Heimatzeitung geschrieben hatte, hatte von seinem späteren Chefredakteur einer Heidelberger liberalen Tageszeitung gelernt, dass gute Journalisten nicht über die ersten Zeilen ihres Beitrags nachdenken dürfen. »Sie sollen einfach anfangen!«, hatte damals der Chefredakteur zu ihm gesagt und er strich den ersten Absatz seiner Kritik über einen Vortragsabend des Professors Joseph Ratzinger. Dabei hatte Wolff sehr lange über dem Einstieg in seine Kritik gebrütet. Eine

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