Скачать книгу

im denkmalgeschützten Empfangsgebäude des Funkhauses zum Haupteingang begleitete, entdeckten wir beide zeitgleich eine kleine Gruppe von Demonstranten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war uns völlig egal, wofür oder wogegen diese Arbeitsverweigerer am helllichten Tag demonstrierten. Der Ministerpräsident flüsterte mir zu: Mit einem MG wäre dieser Spuk ganz schnell beseitigt. Dummerweise flüsterte er so laut, dass der Redaktionsleiter der Außenpolitik diese Bemerkung hörte und später in infamer Weise verbreitete. Das ist doch ekelhaft.

      Ich weiß schon, weshalb ich diesen jüngeren, keineswegs schlechten Redaktionsleiter auf seinem Karriereweg ausgebremst habe. Du musst nur brutal draufschlagen, dann kommen sie später winselnd angekrochen. Na ja, zur blauen Stunde kommt er oft in die Chefredaktion und trinkt mit mir eine Flasche Wein. Das muss ja möglich sein unter Kollegen.

image

      Wenn sie saßen, dann saßen sie sehr lang.

      Sie stritten. Sie lachten. Sie wurden laut und sie wurden grob. Danach öffneten sie eine neue Flasche. Im Kühlschrank Steigers lagerten fast immer Flaschen mit dem Frankenwein »Würzburger Stein« aus der Staatlichen Weinkellerei in Würzburg und einige Flaschen »Hambacher« aus der Pfalz – ein Weißwein, der so rein war, dass eine große Menge getrunken werden konnte, ohne dass jemals eine wahrnehmbare Einschränkung der Trinker durch den hohen Alkoholkonsum beobachtet wurde.

      In diesen Stunden wurden Programmstrukturen eingerissen und neu entwickelt, Personalentscheidungen revidiert und Mitarbeiter degradiert, Führungspositionen aufgeteilt und gegenseitige Vorwürfe vorgebracht: Je lauter, desto ehrlicher. Steiger liebte es, wenn sein Gegenüber ihn anbrüllte. Er erwiderte wenig, weil ihm nichts einfiel, aber er registrierte genau – mit eingezogenem Kopf und dem Blick von unten –, wer bei ihm saß. Steiger hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Nur manchmal wusste er nicht, wofür ein solches Gedächtnis nützlich war. Aber wenn er mit seinen Parteifreunden zusammensaß, verstand er, dass Erinnerungsvermögen und präzise Wahrnehmung ideale Voraussetzungen dafür sind, in den politischen und medialen Netzwerken zu überleben. Und darüber hinaus: nützlich und erfolgreich zu sein. Zum Wohl des Staates, der Partei und zum eigenen Wohl.

       4

      Salzburg erwacht.

      Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg sind noch verhüllt vom kühlen Morgennebel, der einst weiße Verputz der Mauern auf der Festung sieht leicht angeschimmelt aus, wahrscheinlich dunkel vermoost, noch hat sich über der Altstadt der Dunst aus Feinstaub und Lichtreflexionen nicht verzogen; tagsüber ist er fast unsichtbar, obwohl er auf den Dächern und dem Kopfsteinpflaster lastet, aber man gewöhnt sich daran. Man sieht nicht mehr, was man nicht sehen will. Tagsüber ist das Licht nicht so fahl wie jetzt am Morgen.

      Der Mann ist vor einer Stunde aufgestanden. Nach einem kurzen Frühstück hat er seinen Kleinwagen beladen. Heute will er Pflanzen, Grassamen, Erde und den etwas brüchigen Picknickkorb zu seinem Garten bringen. Der Tag ist frisch und neu und dunstig, und es gibt viel zu tun.

      Vom Parkplatz aus, der für die Kleingarten-Vereinsmitglieder von Amicitia Salzburg e.V. reserviert ist, trägt er in zwei voluminösen IKEA-Tragetaschen seine Sachen in Richtung seines Schrebergartens. Er geht vorbei an dem kleinen Wertstoffhof, in dem Gartenabfälle deponiert werden dürfen. Dort kann jeder Kleingärtner gelbe Säcke mit dem »Bodenhilfsstoff« Rindenmulch aus reiner Nadelholzrinde erwerben – abgepackte Füllmenge: 130 Liter. Verwendung: Abdecken von Beeten, Pflanzflächen aller Art sowie als Wegbelag. Wirkung: Verringert Unkrautwuchs, schützt vor Austrocknung, ist humusbildend, speichert Wärme, mildert und schützt vor Erosion. Rindenmulch soll in einer Stärke von zehn Zentimetern auf die Flächen aufgetragen und gleichmäßig verteilt werden. Dass sich die Schritte darauf, anders als auf den Kieswegen, akustisch bis zur Geräuschlosigkeit verlieren, steht nicht auf der Packung, aber dem Mann ist auch diese Eigenschaft des Beet- und Bodenbelags wichtig. Lärm zerstört das Vogelgezwitscher. Manche Kleingärtner haben handtellergroße, vogelhausähnliche Schachteln erworben – sogenannte Zwitscherboxen –, die Frontseite in Holz oder aluminiumverkleidet, die jede Bewegung im Umkreis registrieren. Dann zwitschern die gespeicherten Vogelstimmen los. Die Apparate kosten fast 50 Euro. Es ist schwer, die auf einem Chip gespeicherten Vogelstimmen von dem lebendigen Zwitschern zu unterscheiden.

      Der Mann geht durch die Watzmanngasse, die Edelweißgasse, die Rosengasse.

      Einige Amicitia-Nachbarn haben Miniatur-Biotope angelegt. Beschützt von der Kunststoff-Folie am Teichgrund wächst Schilf, wachsen Gräser und Wasserpflanzen, sogar Seerosen. Im Sommer schwirren Libellen dicht über diesem See-Ersatz, hier und dort haben sich Molche, Frösche und Kröten niedergelassen, auch wenn der schlammige Grund viel zu dünn ist, um in ihm eingegraben den Winter zu überstehen.

      Andere haben sich Brunnenattrappen hingestellt: aus Stein, Holz oder Metallbottiche. Einige haben sich für uralte Brunnenpumpen mit langen Hebelarmen entschieden, die aber kein Wasser mehr heraufpumpen, weil das Wasser nun aus der Leitung fließt. Wie Kaskaden hängen Blumentöpfe übereinander, oft mit Fuchsien bepflanzt, deren Blüten es nach unten drängt, sodass in der Fantasie rot-weiße Wasserfälle vorstellbar werden, und ihr Geplätscher, das an Hans Carossas Brunnen im Hof erinnert. Das immer wache Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt.

      Der Untersberg – obwohl im Dunst noch unsichtbar – ist ganz sicher auch in dieser frühen Morgenstunde da und steht wie seit Jahrtausenden herum, durchlöchert von Höhlensystemen, gefährlich für Bergsteiger, Hausberg der Salzburger. Vom Salzkammergut her weht inzwischen regelmäßig ein wärmerer Wind über der Salzach in die Stadt hinein. Etwas Fön wird den meisten Menschen guttun, jetzt ist es noch etwas klamm hier draußen. Es riecht nach frischem Gras und feuchter Erde. Der Mann hat gelesen, dass die Zitronenfalter mit einem Frostschutzsystem ausgestattet sind, das sie sogar leichten Nachtfrost ertragen lässt, aber noch sind sie nicht für ihren ersten Flug bereit.

      Vor wenigen Tagen hat ein leichter Nachtfrost die blauen Hortensien mit ihren frischen Trieben welken lassen, inzwischen haben sich einige Blätter schwarz gefärbt. Der Mann stellt seine schweren Säcke ab, öffnet das hölzerne Gartentor und schneidet die angefrorenen Blätter ab, er beobachtet die winzigen grünen Pickel in den Hortensienstengeln. Vielleicht entstehen neue Triebe. Man braucht viel Geduld, denkt er, Gartenarbeit ist das Warten auf Entwicklung. Ich habe das inzwischen gelernt, denkt er.

      Manche Kleingärtner umgrenzen ihren umhegten Boden mit höheren Drahtzäunen. Maschendraht, Jägerzaun und grüne Kunststoffzäune sind beliebt. Von seinem Gartennachbarn grenzt ihn nur ein kniehoher Holzzaun mit großen Abständen ab. Wegen der Igel, sagte der Nachbar.

      Angeblich fressen die Igel die Population der Nacktschnecken. Die meisten sind rot-braun gefärbt, gelegentlich finden sich auch schwarze. Die Gartenfreunde haben sich sehr unterschiedliche Methoden angeeignet, um der Schneckenplage Herr zu werden. Ein Bekannter im Alpenrosenweg zerschneidet sie mit einem scharfen Messer. Ein anderer schwört darauf, die Nacktschnecken in Blechdosen zu sammeln und ordentlich Salz auf sie zu streuen. Am nächsten Morgen, wenn er den Deckel öffnet, existiert nur noch eine modrige Flüssigkeit, die er dann auf seinem Komposthaufen entsorgt. Es gibt noch andere Rezepte, mit der alljährlichen Schneckenplage umzugehen. Die Anpflanzung besonderer Kräuter, das Übergießen der Schnecken mit Bier, chemische Spezialmittel. Der Mann aber mag dies alles nicht. Auch Schnecken sind Natur, denkt er. Was können sie dafür, dass sie existieren? Mit einer kleinen Blechschaufel, die ein Kind in der Kleingartenanlage verloren hat, sammelt er die Nacktschnecken ein, schüttelt sie in eine Frischhaltebox, sucht nach Weinbergschnecken, groß und fett und markanter als die Nacktschnecken, füllt sie in eine andere Box und trägt sie zu einer kleinen Wiese, die außerhalb der Anlage liegt und seltsamerweise noch nicht als Baugrund ausgewiesen wurde. Sie werden wieder zurückfinden, die Schnecken, aber dafür brauchen sie viel Zeit. Das ist der ewige Kreislauf. So lange sie auf dem Weg mit ihrer Schleimspur sind, fressen sie seine Pflanzen nicht an. Und wenn sie doch früher zurückgefunden haben sollten, als er es berechnet hat, dann wird er sie wieder einsammeln und auf die Wiese zurücktragen. Den Weg in seinen Garten kennen sie dann schon. Und einige werden von

Скачать книгу