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Attrappe sind. Auf dem Dach eines Fernsehgebäudes in Berlin, gleich gegenüber dem alten Funkturm auf dem Messegelände, thronte ein Baukörper, der dem Tower eines Flughafens glich. Funkhäuser sollten sich nicht verstecken.

      In den Sendestudios galt das Prinzip des Funktionalen: man konnte stehen oder sitzen, die Ablage für die Manuskripte konnte herunter- und hinaufgekurbelt werden. Mobilität war angesagt. Dynamik. Tempo. Die Bearbeitungszeit zwischen Input und Output der Informationen wurde immer kürzer. Niemand konnte sich dieser Entwicklung widersetzen, und die Sprache in Berichterstattung und Moderation wurde flüchtiger, fehlerhafter, gewöhnlicher, hin und wieder sogar infantil. Als würden sich Kinder beschweren: »Der Bundespräsident, der hat dies und das gesagt. Die Bundeskanzlerin, die hat … Mein Kollege war in Paris. Der hat dort …« Es wurde wenig Mühe darauf verwendet, originell und sorgfältig zu formulieren. Dieses Manko, dachte Wolff, wurde durch eine betriebsame Heiterkeit am Mikrofon überspielt, vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein. Das System macht high, dachte er. Vor allem die Moderatorinnen und Moderatoren der Morgenmagazine wirkten, als hätten sie sich gedopt. Er mochte das nicht. In den Verkehrsmeldungen wurde nicht mehr vor Pannenfahrzeugen auf einer Fahrspur der Autobahn gewarnt, sondern vor kaputten LKW.

      Wolff hatte sich früher oft über die monatlichen Analysen eines vom Intendanten beauftragten Sprachpflegers in seinem Sender geärgert, der grammatikalisch stets korrekt Fehler katalogisierte und kommentierte, dabei aber nie Rücksicht auf die Umstände nahm, unter denen solche Livesendungen entstanden und ausgestrahlt wurden. Jetzt war Wolff selbst zum Beobachter der sprachlichen Trivialisierung geworden. Das war ihm unangenehm. Er verstand sich ja nicht als ewig Gestriger. Wenn er Kollegen traf, die längst im Ruhestand waren, hörte er sich ihre Klagen über die Verwahrlosung der Sprache am Mikrofon an und musste dabei lächeln.

      Er nahm sich vor, heiter in den Arbeitstag zu gehen. Seinen morgendlichen Cappuccino hatte er wie so oft in einer seiner beiden Cappuccino-Oasen genossen. In München-Gern gab es einen Kaffee-, Wein- und Süßwarenladen, der sich finanziell nicht rechnete; sein Besitzer, von den Stammgästen liebevoll »der Philosoph« genannt, hatte mehr Interesse daran, in seiner Ruhestandszeit einen Ort für Kommunikation und Nachbarschaft anzubieten, als Profit zu erwirtschaften. Sein Laden glich einer Schatzkammer: übereinandergestapelte Kartons mit Waren, tiefhängende Tiffany-Leuchten, ein Regal, gefüllt mit Behältern für die unterschiedlichen Kaffeebohnen-Sorten, ein schmaler Tresen, meist vollgestellt mit Gläsern, Flaschen und Tassen. Man traf sich in einem Zeltvorbau, der bis nachts für Freunde geöffnet war, weil er auf privatem Grund lag. Und der Philosoph hatte Freunde, die ihm seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, treu geblieben waren: einen Antiquitätenhändler, einen Versicherungsmakler, einen Klavierbauer, eine Bankerin, eine Journalistin, den Inhaber eines großen Sportartikelgeschäfts, einen ehemaligen leitenden Beamten des Personenschutzes für hohe Politiker, Anwälte, Ärzte und Menschen aus der Nachbarschaft. Auf der Terrasse kamen sie zusammen, über ihnen hingen Weinranken, die der Philosoph sorgfältig gepflanzt, beschnitten und gepflegt hatte. Nur die Buchsbäume waren von dem sich in den letzten Jahren massenhaft verbreitenden Zünsler vernichtet worden. Wolff saß, wann immer er Zeit hatte, beim Philosophen. Oft schwiegen beide, wenn sie allein waren. Ohne seinen breitkrempigen Hut hatte Wolff den Philosophen noch nie gesehen.

      Die andere Cappuccino- und Wein-Oase lag am Kurfürstenplatz in Schwabing. Ein Laden, der nur exquisite Waren verkaufte, Nudeln aus Italien, Gewürze, Öl, Essig,

      Cantuccini und anderes Gebäck, Schinken und Käse aus Parma und den Marken, und natürlich Weine, deren Hersteller der Ladeninhaber mehrmals im Jahr besuchte. Er kannte die Familien der Winzer und deren Geschichten, ihren Alltag wie ihre Rituale, ihre Rezepte und ihre Weinkeller. Es gab in den Regalen erlesene Rosé-Weine und Spumante Brut.

      Wolff hatte sich im Lauf der letzten Jahre mit dem Ladeninhaber angefreundet. Man siezte sich und kam sich doch näher durch den Austausch von Buchempfehlungen, schließlich auch durch die gegenseitige Leihgabe von Kriminalromanen. Wolff besaß eine umfangreiche Bibliothek an Krimis. Anders als den Geschäftsmann interessierte ihn weniger die Action- und Thriller-Technik von Romanen als das Milieu, in dem das alltägliche Böse stattfand: in der Normandie, in der Provence, in Triest, in Venedig, in Spanien und in Schweden. Nur die Fülle an Regionalkrimis, fast ständig in den Bestseller-Listen, faszinierte ihn recht wenig: Käsespätzle-Narrative zum Beispiel befremdeten ihn. Sie waren ihm zu spießig. Wolff fuhr oft nach Schwabing, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte, aber er schaute gern im Weinladen vorbei, kaufte hin und wieder mehrere Flaschen aus ökologischem Anbau in den Abruzzen, und wenn er zahlte, tippte sein Krimipartner den Endbetrag für Cappuccino und Wein automatisch ein. Wolff brachte die grünen Tragetaschen aus Papier regelmäßig zurück. »Sie müssen ja sparen«, sagte er, und »ich will die Tüten nicht wegwerfen«. Auch so kann Sympathie entstehen.

      In der Weihnachtszeit wurde der Olivenbaum im Laden mit goldenen Kugeln geschmückt, später gab es auch Leuchtsterne an der Decke des Ladens, in dem der Inhaber tagsüber auch kleine Gerichte anbot. In den Regalen standen Flaschen mit signifikant gestaffelten Preisen; in den Holzkisten lagerten Weine, die sich Wolff nicht leisten konnte und auch nicht wollte.

      Als Wolff, der sich nur Al nannte, weil ihn sein Vorname Alfred an den Nazi-Propagandisten Alfred Rosenberg erinnerte, weiter Richtung Funkhaus schlenderte, erschrak er. Diesem Maimorgen fehlte etwas. Wie hatte er das bisher gar nicht bemerken können? Diesem Maimorgen fehlte etwas ganz Entscheidendes. Am Himmel fehlten die Mauersegler. Wolff blieb abrupt stehen und suchte den Himmel über ihm sorgfältig ab. Nein, kein einziger Mauersegler war zu sehen, nirgends Getschilpe, kein Vogel schwirrte über den Dächern Münchens. Wie ein Schmerz durchzuckte ihn diese Leere am Himmel.

      Wolff ging seit mehr als dreißig Jahren gerne in das Funkhaus. Früher war er mit seinem Auto gekommen, schließlich hatte er in der Tiefgarage einen reservierten Platz. Eines Morgens, er war nicht mehr weit entfernt vom Senderareal Richtung Tiefgarage, war die Straße stadteinwärts gesperrt. Feuerwehr, Polizei. Blaulichter. Auf dem Pflaster lag, unter Planen verborgen, ein Mensch. Er musste aus dem Fenster im siebten Stock des Studiobaus gesprungen sein. Grundsätzlich waren die Fenster im Studiobau nicht zu öffnen, aber eines stand offen. Tage später erfuhr Wolff, dass ein beliebter, immer gut gelaunter Archivar kurze Zeit nach seiner Ruhestandsversetzung in das Haus zurückgekehrt war, sich zu den WCs begeben, mit einem Nachschlüssel das Fenster geöffnet und sich von der Fensterbank einfach nach draußen hatte fallen lassen. Wolff hatte des Öfteren mit ihm zu tun gehabt und seinen pragmatischen Humor sehr geschätzt. Seit diesem Tag mied er diese Straße.

      Guten Morgen. Guten Morgen. Wolff nickte den Kolleginnen am Empfang zu. Sie grüßten ihn freundlich zurück. Mit dem Aufzug fuhr er aufwärts in den 13. Stock des Hochhauses. Der Filterkaffee war schon aufgebrüht. Nichts sollte jetzt sein Morgenritual stören: die Sichtung der Post, die schnelle Lektüre der Leitartikel und Titelseiten von sechs Tageszeitungen, das Öffnen der eingegangenen Mails, der Bericht seiner beiden Programmassistentinnen über Terminverschiebungen und die Liste von internen wie externen Anrufen. Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zum Beginn der Redaktionskonferenz um 10.30 Uhr.

      Meist nahmen zwanzig bis dreißig Kolleginnen und Kollegen an der Konferenz teil, bei dünner Nachrichtenlage oder in Urlaubszeiten auch weniger. Vertreten waren alle Hörfunkprogramme und die meisten Redaktionen des Hörfunks. Man saß um einen überdimensionierten runden Tisch, der seit Jahrzehnten hier stand, so wie seit Jahrzehnten Originallithographien von Oskar Kokoschka an den Wänden des Sitzungszimmers hingen. Damals mussten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch Kunstwerke erwerben. Diese gesetzliche Auflage entsprach dem gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag für Anstalten des öffentlichen Rechts. Wolff würde in einer Viertelstunde wieder auf der gepolsterten Fensterbank sitzen, leicht erhöht, so hatte er einen besseren Überblick über die Runde. Er mochte es nicht, wenn jemand hinter ihm saß. Er spürte dann die Blicke in seinem Nacken und sie irritierten ihn.

      Da war es besser, selbst in der zweiten Reihe zu sitzen. Das Tageslicht hellte die Gesichter der anderen auf, sein Gesicht blieb im Schatten. Jahrzehnte schon saß er hier, er hatte Kolleginnen und Kollegen aus nahezu allen Redaktionen kommen und gehen sehen. Als in Griechenland die Obristen ihre Militärdiktatur eingerichtet hatten und das Land terrorisierten, beobachtete er einen griechischen Kollegen, der mit seinem Redaktionsteam die griechischen

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