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Lila, dann Blau, Grün, Braun, Rot, Pink und Schwarz. Pink. Er ist sich nicht sicher, ob er die Nachbarschaft der Regenbogenfarben richtig zusammenstellt, aber so, wie er es macht, ergibt es einen Sinn für ihn.

      In der Küche stellt er einen Teller für das Frühstück, eine Untertasse und eine Tasse für den Morgentee auf den Tisch. Dazu das Bambusbrett, das Brotmesser. Das Besteck natürlich. Butter und Zitrone wird er erst am Morgen aus dem Kühlschrank holen. Was nicht in der Geschirrspülmaschine Platz gefunden hat, hat er abgewaschen, abgetrocknet und weggeräumt. Wäre er morgen nicht mehr am Leben, dann könnte sich niemand über seinen Lebensstil beklagen. Er ist kein Messie. Verwahrlosung im Alter ist für ihn keine akzeptable Option. Ordnung ist das halbe Leben. Nein, denkt der Mann, sie ist das ganze Leben.

      Als er aus dem Bad zurückkommt, um sein Bett aufzudecken, stellt er seine Hausschuhe am Fußende ab, einen neben dem anderen. Auch das Paar Schuhe vor dem Bett unterliegt den Gesetzmäßigkeiten jener Choreographie des Raums. Es geht doch nicht, dass der linke Schuh seine Spitze vorne hat und der andere hinten. Er schlägt die türkische Bettabdeckung zurück. Diese mit vielen eingenähten Spiegelscherben geschmückte indische Tagesdecke hatten sie einst nahe dem Suk in Istanbul gekauft, weil die Patchwork-Technik der einzelnen Textilquadrate und die tiefrot, orangegefärbte Ästhetik sie damals so angesprochen hatten. »Das ist lange her«, murmelt der Mann.

      Wovor fürchtet er sich?

      Seit er dem Alleinsein ausgesetzt ist, mag er es nicht, sich abends oder nachts in seinem Bett abzuliefern, in dieser Abwesenheit jeder anderen Lebensenergie. Sich der Dunkelheit, der Stille des Zimmers, dem Schweigen der Umwelt, der Nachbarn über ihm in der Dachterrassenwohnung und der erzwungenen Blindheit im unsichtbaren Raum seines Zimmers auszuliefern, das noch nicht Schlafzimmer ist, wenn das Licht erlischt. Nachts wird es zum Verließ.

      Tagsüber ist es ein freundlicher Raum. Ein großes Fenster zum Innenhof mit Kiefern, Tannen, Büschen, Terrassen, einer Sitzbank für die Eltern neben einem Sandkasten, der nach der Havarie des Kernkraftwerks in Tschernobyl mit neuem Sand aufgefüllt wurde. Eine Abdeckung schützt vor Verunreinigung, aber oft ziehen die Eltern abends die Plane nicht über den Sandkasten.

      Ein Weihnachtskaktus steht auf dem Fensterbrett, schläft, sieht wie tot aus, wächst dann aber plötzlich weiter, schläft, und blüht zu unerwarteten Zeiten. Er hatte nicht gehofft, diese Pflanze über die schweren Jahre hinweg zu erhalten, aber der Kaktus blieb. Treu. Langsam in seiner Reaktion auf die Pflege. Der Mann spricht manchmal mit seinen Pflanzen. Das kann ja nicht schaden. Und niemand weiß, ob die Pflanzen diese Zuwendung verstehen. Immer wieder überraschend antwortet der Weihnachtskaktus, wenn der Mann mit keiner Antwort mehr rechnet. Plötzlich eine Knospe, dann eine, zwei, viele weiße Blüten. Ein Wunder. Nicht nur in der Weihnachtszeit.

      Der Mann kümmert sich um diesen Weihnachtskaktus, den er sich selbst nie gekauft hätte. Das war damals unvermeidlich, als sie darauf bestand, zur Sammlung ihrer Kakteen auch diesen zu erwerben. Er fand das in Ordnung. Auch kannte er damals noch nicht Cees Nootebooms Annäherungen an Kakteen und die Entdeckung ihrer unterschiedlichen Charaktere, ihre Personalität und ihren Zauber in seinem Garten hinter der Finca auf Menorca. Nur zufällig hat er in einer Buchhandlung den Band des großen Reiseschriftstellers mitgenommen. Kakteen sind widerborstig, störrisch, verweigernd, und sie sind voller Zuneigung, blühen, überraschen durch ihre Triebe und ihr unerwartetes Wachstum, machen eigentlich, was sie wollen. Sie sind wehrhaft und strecken sich dem Himmel entgegen, den der Schriftsteller nicht in seiner ganzen Spannbreite überblicken kann. Denn es gibt Nachbarhäuser, die den Blick versperren. Nooteboom saß, wie er schreibt, in seinem Garten und blickte zum nächtlichen Himmel auf. Da kam ihm die Idee, entsprechend dem Boden- und Pachtrecht ein Stück freien Himmels für sich zu verlangen. Grund und Boden senkrecht über ihm. Ein Stück garantierter freier Sicht auf den Himmel, entsprechend dem Grundriss seines eigenen Besitztums. Die Idee gefällt dem Mann. Ein Himmelsrecht neben dem Bodenrecht.

      Anders als früher, als der Mann den Schlaf herbeisehnte, weicht er ihm jetzt aus, so lange, wie es ihm irgend möglich ist. Trinkt er zu viel, will er nicht torkeln, obwohl es keine Beobachter gibt. Er will die Selbstkontrolle behalten. Manchmal nickt er vor dem Fernseher ein, nicht lang, aber für ihn erschreckend in der Tiefe seiner Bewusstlosigkeit. Dann schüttelt sich der Mann, und er reißt sich zusammen, um sich nicht aufzugeben. Der Weihnachtskaktus zeigt eine neue Blüte, der Frühling kommt bald. Das wird ein Kaktus wohl spüren. Aber er hat sich gewaltig verspätet.

      Für morgen ist alles vorbereitet.

      Morgen ist ein neuer Tag. Die Nacht ist kurz. Jetzt wird der Mann wohl schlafen können. Er hat alles in Ordnung gebracht.

       2

      Es ist seltsam, wie selektiv die Wahrnehmungen der Menschen sind. Es gibt Leute, die noch nie auf das Getschilpe der Mauersegler geachtet haben, auf ihre rasanten Flugmanöver hoch über der Stadt. Auf ihre in die Wolken gezeichneten Schleifen, ihre Sturzflüge und ihr Sirren voller Lebensfreude. Ihn berührte es, wenn er in den ersten Maitagen noch vereinzelte Mauersegler entdeckte, die aus dem Süden über die Alpen gekommen waren. Jetzt war der Mai wirklich da, und Wolffs Seele spürte Freiheit und grenzenloses Glück. Bald würde sich der Himmel füllen mit den Vögeln, die während des Fluges schlafen können. Aber viele seiner Bekannten hatten sie noch nie wahrgenommen, bevor sie Wolff auf das Getümmel über den Dächern aufmerksam machte. Vielleicht können ältere Menschen die Frequenz der Glücksrufe auch nicht mehr hören.

      Es war der 12. Mai, sein Handy zeigte die Uhrzeit an: 8.30 Uhr. München leuchtete an diesem Tag. So blau war der Himmel der nördlichsten Stadt Italiens nur an Föhntagen. Vor dem einstigen Krankenhaus an der Ecke zur Blutenburgstraße blühte der Baum: die linke Hälfte weiß, die rechte Hälfte rosa. Da waren wohl irgendwann Zweige aufgepfropft worden. Ein Baum, zwei Existenzformen. Jedes Jahr wartete Wolff auf dieses kleine Wunder.

      Er hatte es nicht eilig, in seine Redaktion zu kommen. Sein Tagesprogramm stand fest: Besprechung mit den Programmassistentinnen, Redaktionskonferenz, Programmplanung mit den Kolleginnen und Kollegen in seiner Redaktion, Honorare für die gestrige Sendung festsetzen und veranlassen, Briefe unterschreiben, die er gestern verfasst und in das Redaktionssekretariat gelegt hatte, damit Kopien für die Ablage gemacht und in den Korrespondenzordnern intern oder extern abgelegt werden konnten. Drüben auf dem Gelände des Augustinerkellers warfen die Kastanienbäume erste Schatten auf Bänke und Tische. Wie so viele aus seinem Sender zur Mittagszeit würde auch er bald in diesem Biergarten sitzen. Für den Nachmittag hatte er, nach der täglichen kurzen Pause in der Kantine, einige Autorengespräche eingeplant. Und wenn sich die Dämmerung von Osten her heranschliche, wollte er sich an sein Manuskript für eine Moderation und einen Kommentar setzen. In dieser blauen Stunde, wenn das Licht heruntergedimmt und ganz weich wurde, während sich das Abendrot in den Westen zurückzog und dem Dunkelblau mit seinen dunstigen Grauschattierungen Platz machte, wenn sich die ersten Leuchtpunkte in der Silhouette der Stadt entzündeten, war Wolff besonders kreativ. Im Hochhaus wurde es stiller, die Telefonanrufe hörten auf. Er hätte aber auch nicht abgehoben, denn Wichtiges erreichte ihn ohnehin über eine im Haus verdeckte und nur seinen Vorgesetzten bekannte Nebenstellennummer. So also hatte Wolff seinen Tag geplant.

      Stadteinwärts vor dem Hauptbahnhof leuchteten die Fenster in den 18 Stockwerken des Hochhauses, in dem viele Redaktionen, die Verwaltung, das Historische Archiv und andere Organisationseinheiten untergebracht waren. Wolff dachte an Nicolas Borns Roman »Die Fälschung«. Der Sendemast auf dem Hochhaus war kein Sendemast, sondern eine Empfangsantenne. Der symbolische Akt, ein Funkhaus mit einem Antennenmast auszustatten, schien ihm aber zum Charakter seiner öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt zu passen. Vor Jahren hatte er seine Kolleginnen und Kollegen des österreichischen Programms »Ö3« besucht. Die Redaktionen waren kreisförmig um die Sendestudios herum angelegt. Alles war transparent. »Sitzungen« fanden im Stehen statt, eindeutig orientiert am Vorbild der französischen Tageszeitung Le Monde. Auch musste am Mikrofon stehen, wer die Sendung moderierte. Die Redaktionen und Sendestudios waren in einem gesichtslosen Industriebau untergebracht, einem Kubus ohne jeden architektonischen Einfall, einem industriellen Zweckbau. Es hätte sich dort genauso gut ein Warenlager befinden können. Funkhäuser

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