Скачать книгу

mit Bohrlöchern und Höhlen – die Wildbienen mögen das angeblich und auch die Holz- und Schlupfwespen. Ganz anders verhalten sich die Honigbienen, die von Blüte zu Blüte fliegen. Schwerarbeiter sind sie, und können oft kaum noch in ihren Bienenstock heimfinden, so sehr torkeln sie abends, wenn es kühl wird, mit ihrer Pollenlast nach Hause. Aber der Mann hat diese vermeintlich insektenfreundlichen Installationen aufmerksam untersucht. Sie alle schienen ihm unberührt von den Insekten zu sein. Sie haben ihre eigene Ordnung, denkt er, weshalb sollten sie diese Miniaturarchitekturen der Menschen annehmen? Jeder unregelmäßig aufgeschichtete Holzstoß ist ihnen lieber, er duftet nach Harz und Fichtenblüten, in den Rinden ist Platz, sich gegen Regen, Kälte und zu starke Sonneneinstrahlung zu schützen. Das hindert die Gartenfreunde im Kleingarten-Verein Amicitia Salzburg aber nicht daran, unter den Insekten-Hotels kleine Holzschilder anzubringen, die sie als nachhaltig und biologisch wertvoll ausweisen.

      In diesem Jahr, so sieht es der Mann, haben sich die Primeln außerhalb seines Kleingartens, direkt am Zaun zur Teufelsgasse, weiter ausgebreitet. Auch die unterirdischen Netzwerke der Maiglöckchen haben ihn überlistet. Sie tragen die Farben des Gartens nach außen an den Wegrand. Eigentlich ist das nicht erlaubt. Vor wenigen Jahren wurde dies von der Aufsicht beanstandet; was draußen in den Kiesweg hineinwuchs, musste entfernt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn das alle zulassen würden? Die Wege, die Gassen und Straßen der Gartenanlage glichen pflanzen- und keimfreien Zugängen zu den Parzellen. Selbst Zigarettenkippen, die in der Nähe eines Gartens gefunden wurden, musste der Kleingärtner einsammeln und in die Mülltonnen werfen. Bisher aber hatte sich niemand an den Primeln und den Maiglöckchen-Blättern gestoßen, die Zeiten waren anders und mit ihnen wurden die Regeln großzügiger als früher und weniger beachtet. Jede Blüte galt, wenn es sich nicht gerade um Geranien handelte, die für Nektar suchende Insekten nichts anboten, als besonders wertvoll. Mit dem Insektensterben durfte es ja nicht wie bisher weitergehen. In Bayern drüben hatte es die Initiative »Rettet die Bienen« sogar geschafft, dass ihre Forderungen in einen Gesetzentwurf der Staatsregierung aufgenommen worden waren: die Politik überholte das Bürgerengagement, adaptierte die Forderungen, setzte noch eins drauf und der Landtag stimmte dem Gesetzentwurf der Regierung zu. Man wusste dort sehr genau, woher der Wind bläst und wie er steht.

      Der Mann weiß, dass zum Gießen das Wasser aus der Leitung zu hart ist. Mehrfach hat er die Werte gemessen und notiert. Eines Tages kaufte er einen Kunststofftank für Regenwasser, der einen Hektoliter fasste, montierte ihn hinter seiner Holzhütte, und legte von der Dachrinne der Hütte einen Ablauf direkt in den Tank. Seine Pflanzen gießt er seitdem mit dem weichen Regenwasser, das vor allem seinen Kakteen guttut. Einen Steingarten wie manche seiner Nachbarn hat er für seine Sukkulenten im Garten nicht angelegt. Im Humus Steine dafür aufzuhäufen und Kies aufzuschütten erscheint ihm pervers. Aber sollen die Nachbarn doch machen, was ihnen gefällt. Ihn stört das bis heute nicht.

      Er schneidet überlange Triebe in der Hecke zurück, lüftet die Wurzelstöcke der Sommerfliederbüsche, die später ganze Heerscharen von Schmetterlingen anziehen, darunter Tagpfauenaugen und Admirale, Bläulinge und Kohlweißlinge, dann auch die Zitronenfalter und – wenn die Dämmerung kommt – die Flügelwesen der Nachtfalter: behaarte große und mottenähnliche kleine Insekten, die die Saugplätze der Tagesschmetterlinge einnehmen. Der Mann schaut dem Wechsel gerne zu. Bald ist es wieder so weit, denkt er, aber noch ist der Mai zu kühl.

      Der Mann atmet die Morgenluft tief ein, es wird spürbar wärmer. Er hört das metallische Schleifen der O-Busse, die mit ihren Stromabnehmern die Zwischenräume der Oberleitungen an Kreuzungen überspringen müssen, ohne dass die Energiezufuhr unterbrochen wird. Vom Hauptbahnhof her weht das Quietschen von Eisenbahn-Waggons herüber, abgehackt sind – wie der Mann glaubt – Zwischentöne der Lautsprecheransagen von dort drüben zu hören. Die Stadt ist aufgewacht, sie lebt. Und nachher schieben sich wieder die Massen durch die Getreidegasse. Der Glockenschlag der Andräkirche bleibt verlässlich, nicht in seiner Gänze, aber im Stakkato einzelner Schläge dringt er bis in die Kleingartenanlage hinein. Es zieht ihn nicht in die Altstadt. Nicht mehr. Er fühlt sich als Fremder in den Gruppen der Touristen, die nichts sehen, aber alles fotografieren, um sich später zu Hause darüber zu wundern, was sie nicht in Wirklichkeit gesehen, sondern nur auf dem Screen festgehalten haben.

      Es ist gut so, denkt der Mann. Lange genug bin ich dort drüben gesessen, und ich bin jeden Morgen dorthin gegangen, und jeden Abend von dort nach Hause. Tag für Tag. Immer wieder.

      Er hat seinen Beruf geliebt. In vielen Jahren hatte er sich ein Selbstbewusstsein erarbeitet, das ihn vor den üblichen Ärgernissen am Arbeitsplatz schützte, ohne seine Freude zu mindern, jeden Morgen gern sein Amt zu betreten und es abends entspannt zu verlassen.

      In seiner Jugend hat er sich eine merkwürdige Eigenschaft angewöhnt, sie ließe sich vielleicht sogar als Tick bezeichnen, der sich seit damals intensiviert hatte. Würde er danach gefragt, würde er dies wahrscheinlich sogar zugeben. Er hat sich an seine Eigenart gewöhnt und empfindet sie keineswegs als beunruhigend: Als Jugendlicher besuchte er sonntags den Gottesdienst, nicht weil er es wollte, aber der Kirchgang entsprach der Familientradition. Nicht jeden Sonntag, beileibe nicht, aber immer wieder sonntags, wenn sein Onkel Prediger in der evangelisch-lutherischen Kirche Augsburger Bekenntnisses war. Ihm zuliebe wurde dorthin gegangen, in die kleine Kirche in der Innenstadt, deren Fassade mit der rot-weiß-roten Plakette »Evang.-luth. Kirche A.B.« gekennzeichnet ist, damit jeder weiß, dass hier keine Messen zelebriert werden.

      Mit den Predigten seines Onkels, der ganz sicher intellektuell wie seelsorgerlich über große und allgemein von seiner Gemeinde hoch geschätzte Talente verfügte, zudem ein sympathisch-liberaler Theologe war, hatte er als junger Mann wenig anfangen können. Sie waren zu lang. Sie betrafen ihn nicht. Gestik und Mimik des Predigers waren ihm vertraut. Er mochte ja seinen Onkel. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, diskutierte auch gerne nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus mit ihm, trank seinen ersten Cognac bei einem solchen Gespräch, rauchte auch einmal eine Zigarette dort, als er sechzehn Jahre alt war. Das darfst du jetzt, wenn du nicht süchtig wirst, hatte sein Onkel ihm gesagt. Aber mit den Predigten – das war eine ganz andere Sache.

      So hatte der Mann angefangen, in seinem Kopf leere Flächen typografisch zu gestalten, die Umrisse der Fenster nachzuzeichnen und die Fenster zu zählen. Sah er im Fernsehen später die Buchstaben einer Bauchbinde, also die Texteinblendungen mit den Namen und Funktionen der jeweils auf dem Bildschirm gerade präsenten Personen, stichelte er die Zeichen wie bei einer Radierung nach. Leere Felder musste er mit seinen Linien bebildern. Niemand merkte dies, aber ihm wurde das Zuhören der Predigt und der Liturgie leichter, weil er in andere Linien- und Formstrukturen auswich. So war in ihm die Begabung gewachsen, die Choreografie jeder Bewegung im Raum vorzuzeichnen und darüber zu staunen, dass es so viele Menschen gab, die sich in den Räumen auf falschen Linien bewegten: uninspiriert, bar jeder Eleganz, unempfänglich für jede Harmonie beim Betreten von Plätzen, Straßen und Räumen.

      Weil er immer die gleichen Gassen und Straßen gegangen war, morgens und abends, weil ihn die Geschäfte mit ihren Schaufenstern voller Mode und Verzweiflung abstießen (einmal hatte er sich in ein Sakko eines italienischen Markenherstellers verguckt, er hatte den Laden betreten und im ersten Stock das Sakko sofort gefunden, aber im Neonlicht des Ladens war die Schönheit der Jacke verschwunden), begann er, bestimmte Autotypen auf seinem Weg zu zählen. Heute Range Rover, 4 Stück. Morgen Fiat 500. 16 Stück. Volkswagen aller Wagentypen: 35. BMW: 12. Mercedes: 8. Als ihn das zu langweilen begann, zählte er Motorroller. Rote. Violette. Schwarze. Weiße. Metallisch-blaue. Da kam er auch auf stattliche Zahlen. Als ihn diese Zählerei nervte, leitete er seine akribische Beobachtungslust aufTrachtenhüte um. Die hohe Dichte an Trachtenhüten in der Innenstadt überanstrengte ihn fast. Grüne Hutbänder, rote Borten, Abzeichen, Edelweiß, Gamsbart, Pfauenfeder (nicht nur bei den Damen), Veteranenauszeichnungen, Jagdverbandsinsignien, Hirschhornovale, Bergführer-Embleme, Silbernadeln mit den Namen von Berggipfeln, Almhütten-Souvenirs. Als merkwürdig hatte es der Mann damals empfunden, dass der Salzburg-Verächter und an Salzburg leidende Thomas Bernhard in seinem Ohlsdorfer Vierseithof auch über solche rustikalen Kopfbedeckungen verfügte. Breite Krempen, vorne oft hochgerollt, hinten den Hals bedeckend, Schlapphüte filzschwer, als stammten sie aus dem Nachlass von Luis Trenker. Der Mann sah alles. Und er versuchte, die Trachtenhutdichte in der Innenstadt pro zehn Quadratmeter zu errechnen.

Скачать книгу