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Vorzimmer behutsam.

      Im Studio sprach er den Nachruf. Kein Versprecher. Für Schnitte wäre auch kaum Zeit geblieben. Er beobachtete sich von außen, als sei er in diesem Augenblick in zwei Wesen aufgespaltet. Routine. Was muss, das muss! Er unterschrieb die Aufzeichnung als sendefertig, ohne sie noch einmal zu hören. Was hätte er auch anders machen sollen?

      Wolff verließ das Studio, fuhr mit dem Aufzug in das Erdgeschoß. In seine Redaktion wollte er nicht zurückgehen, deshalb betrat er die Drehtür am Haupteingang des Funkhauses, schob sie an und verließ das Gebäude. Er wischte sich mit dem Taschentuch kurz über die Augen.

      Jetzt Stille.

      Nur Stille.

      Niemand sollte ihn jetzt ansprechen.

      Er würde es nicht aushalten.

       6

      Fast hätte der Mann vergessen, dass er bei einem Pflanzencenter fünf Stück Hydrangea mac., blau mit jeweils vier bis sechs Dolden bestellt hat, die abends vom Lieferdienst vor seiner Haustüre abgestellt worden sind. Ein später Nachtfrost, so unerwartet wie unwillkommen, hat in seinem Garten die blauen Hortensien beschädigt, die frischen hellgrünen Blätter und Triebe waren am nächsten Morgen schwarz verfärbt. Nach zwei Tagen fielen die vertrockneten Spitzen ab. Er hat die Pflanzen zurückgeschnitten. Vielleicht treiben sie ja noch einmal aus.

      Er geht zu seinem Auto und holt die fünf Pakete, sie sind nicht schwer. Er will die Hortensien gleich eingraben und wässern. Angeblich sind sie winterfest.

      Die Aufregung in der Kleingartenanlage dauert an. Vor dem kleinen Wertstoffhof diskutieren die Leute, sie unterhalten sich über die Trennzäune hinweg. Wortfetzen wehen heran.

      »Da muss etwas geschehen …«

      »Der Vereinsvorsitzende sollte mal nachfragen …«

      »Die Stadtverwaltung wird doch wissen …«

      »Eine Eingabe machen …«

      »Eine Resolution verfassen …«

      »Vielleicht einen Anwalt einschalten …«

      Der Mann beobachtet, wie die Ängste wachsen. Er sieht das Kopfschütteln, das Schulterzucken, den schleppenden Gang. Sein Pachtvertrag gibt ihm keinen Anlass zur Sorge. Er hat ja viele Jahre darauf gewartet, eine Parzelle in der Kleingartenanlage mieten zu können. Das Kleingedruckte hat er nicht gelesen. Die Anträge auf die Zulassung seiner Bewerbung waren hoch komplex. Es ist nicht leicht, einen Kleingarten zugeteilt zu bekommen, und die Wartezeiten sind überdies so lang, dass etliche Winter und Sommer vergehen, immer wieder Frühling und Herbst, sodass auch er dachte, der Stapel seiner Bewerbungsunterlagen sei in einem der vielen Verwaltungsbüros vergessen worden.

      Bis eines Tages ein amtliches Schreiben im Briefkasten lag. Ihm wurde ein Kleingarten in der Anlage des Vereins Amicitia Salzburg zugeteilt, genauer: in Zeile der Teufelsgasse. Er möge sich persönlich melden, vorstellen und einen Einzahlungsbeleg mitbringen.

      Wie sah der Garten aus?

      Offensichtlich war er längere Zeit brach gelegen. Die Hecken waren nicht mehr geschnitten worden, die braunen Grasflecken nicht gemäht. Die Büsche verdorrten, die geteerte Dachpappe auf der Hütte schlug Wellen wie ein Teich im Fönsturm und hatte sich an einigen Stellen vom Dach gelöst, rostige Nägel standen frei. In den Herbststürmen hatte sich der Dachbelag von seiner Verankerung befreit. Die Löcher, von den Nägeln hineingehämmert, hatten sich vergrößert, sodass die Abdeckung des Daches über die Nagelköpfe gerutscht war und sich der Bewegung der Luftströmungen ohne Widerstand aussetzte.

      Der Garten und die Hütte waren verkommen. Innen roch es muffig. In den Ecken hatte sich Schimmel angesetzt. Aber die Holzsubstanz schien noch stabil, die Bretter müssten abgeschliffen und neu lackiert werden, innen und vor allem auch außen, denn die Hütte hatte inzwischen einen grauen glanzlosen Belag auf ihren Holzflächen. Nur unten, dort wo die Hütte im eingegossenen Betonfundament verankert war, wiesen die Eckbalken eine schwarze Farbe auf: beim Abschleifen würde sich zeigen, ob sie nur an der Oberfläche durchfeuchtet waren oder ob der Mann sie austauschen müsste, wenn sich das überhaupt noch lohnte. Aber alles in allem wäre dies sein künftiger Garten. Ihm würde er seine Fantasie, seine Zeit, seine handwerklichen Fähigkeiten, seine Kraft, vor allem aber seine Liebe widmen. Dieser Garten hat Zukunft. Ich habe eine Zukunft, hatte der Mann damals gedacht.

      Ein Nachbar aus der Watzmannstraße spricht ihn an. »Wie schön!«, sagt er, Sie haben blaue Hortensien gepflanzt. Passen Sie auf, die überstehen späte Frostnächte nicht.«

      »Ich weiß«, sagt der Mann, »meine blauen Hortensien, die bisher hier standen, sind angefroren. Ich weiß nicht, ob sie sich noch erholen.«

      Ob er sie bis auf den Stock heruntergeschnitten habe, fragt der Nachbar.

      »Na klar«, sagt der Mann, »passt schon. Schauen Sie!«

      Der Nachbar kommt näher. »Ich habe gehört«, sagt er, »dass die Gartenanlage aufgegeben werden soll. Meine Frau arbeitet in der Stadtverwaltung. Sie hat in einem Gespräch aufgeschnappt, dass vielleicht eine Wohnanlage für städtische Bedienstete hier entstehen soll: auf unserem Gelände. Das ist aber nicht gesichert. Man will ja nicht die Plagen heraufbeschwören, bevor die Heuschrecken wirklich einfallen.« Er lacht. »Wir werden ja sehen, was geschieht. Also: Kein Grund, um sich aufzuregen. Die meisten hier sind nervös geworden. Ältere Leute haben immer Angst. Ich sage immer: Vertraue Deinem Verstand, der ratio, dann fährst Du besser.

      Setzen Sie die blauen Hortensien in neue Erde ein. Dazu brauchen Sie nicht viel. Die alte Erde können Sie ja auf den Kompost werfen. Man weiß ja nie, welche Schädlinge sich im Boden verbergen. Und, aber das wissen Sie: Streuen Sie gleich beim Wässern etwas Eisensulfat in die Erde, damit die blaue Farbe nicht verblasst.«

      Der Mann bedankt sich bei seinem Nachbarn. Dann geht er in die Hütte.

      Alle Bretter hat er abgeschliffen und grundiert und lackiert und poliert. Die Eckpfosten sind saniert, das Holz war nicht angefault. Das blind gewordene Kunststofffenster hat er durch ein besseres Material ersetzt, das Dach mit neuer Dachpappe gedeckt. Rostfreie Beilag-Scheiben mindern die Gefahr, dass sich der Dachbelag beim ersten Sturm von den Nägeln befreit und über geweitete Ösen vom Dach trennt. Die Idee mit den Beilag-Scheiben ist dem Mann gekommen, als er in seinem Keller zu Hause ein neues Regal aufbaute. Die vom Schimmel befallenen Ecken der Hütte hatte er mit einem Entfeuchter getrocknet, der mit seinem Gebläse einige Tage und Nächte in Betrieb blieb. Ein Freund hatte ihm das Gerät geliehen, das er selbst seit dem letzten Hochwasser in seiner Garage aufbewahrt hatte. Chemikalien wollte der Mann nicht einsetzen. Man weiß ja nicht, ob die Luft in der Hütte durch sie kontaminiert wird. Es gab ja immer wieder furchtbare Sachen zu lesen. Ich mache das nur ökologisch, sagte sich der Mann.

      Es ist gut so.

      Jetzt schon, während der Schnee noch auf den Berggipfeln ringsum liegt, blüht es im Garten, ganz leise, aber unübersehbar. Der Garten verfügt in seiner Miniaturgestalt über harmonische Linien. In einem Beet hat der Mann nur rot blühende Pflanzen eingesetzt, in einem anderen violette. Er liebt das Monochrome. Ganz hinten ein kleines Feld mit gelben Blüten, jetzt aber sieht er nur ihre Knospen. Warten will gelernt sein.

      Fast ein Jahr hatte er in seinem neuen Garten gearbeitet. Vom frühen Morgen bis zum Abend. Die Erde umgegraben, sie mit Holzbrettern unter den Füßen glatt und fest getreten. Gesät. In die mit einer kleinen Schaufel freigelegten Vertiefungen Büsche und Tulpenzwiebeln und zwei Fliederstauden eingesetzt: weiß und lila. In seinem Elternhaus gab es riesige Fliederbüsche im Garten der Dienstwohnung. Sie blühten im Mai in Massen, sodass zum Geburtstag seines Vaters, im Sternzeichen des Stiers geboren, ganze Eimer mit Flieder im Treppenhaus standen. Den betörenden Duft hat der Mann nie vergessen. Wenn er sich an die frühen glücklichen Jahre erinnert, dann ist es der Duft des Flieders, der sich nie verflüchtigt. Die Kindheit roch wie Flieder und wie die Maiglöckchen, die seine Mutter aus ihrer Heimat mitgebracht und eingepflanzt hatte, und die Maiglöckchen hatten mit ihrem unterirdischen Wurzelwerk

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