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die Kassiopeia und der Orion flackernd im Dunst der Nacht zu erkennen; Beteigeuze, links oben im Orion, soll bald in sich zusammenfallen, explodieren und selbst am helllichten Tag wie eine kleine Sonne aufstrahlen, bevor er stirbt. Die Astronomen haben beobachtet, dass Beteigeuze immer dunkler wird. Ich werde das nicht mehr erleben, denkt der Mann. Morgen setze ich im Garten neue Ranunkel-Pflanzen und einige wenige Tulpenzwiebeln ein. Die Frischhaltebox ist mit einem Wurst- und einem Käsebrot gefüllt, den Kaffee wird er morgen Früh in die Thermoskanne gießen und die geschäumte Milch einfüllen, bis er den Verschluss kaum noch bis zum Anschlag drehen kann. Er achtet darauf, dass die Milch nicht überfließt, denn dann wird die Kanne verschmutzt. Er geht sorgfältig vor. Ordentlich war er bisher in seinem ganzen Leben. Jetzt noch einen Schluck vom Chianti Classico Reserva mit dem schwarzen Gallo auf dem Flaschenhals. Das ist kein schlechter Wein. Die österreichischen Weine mit den rot-weiß-roten Metallkappen trinkt er auch gern. Aber nach der Arbeit im Garten liebt er die etwas schwereren Weine, deren Anbaugebiete er gut kennt. Ist es nur Erinnerung? Er spürt manchmal die Sehnsucht, wieder dort zu sein. Aber er fürchtet sich davor, jetzt allein in der vertrauten und geliebten Region anzukommen, zwischen Siena und Vicenza, in der Toskana, in jener Landschaft, in die er jedes Mal ein Stück seiner Sehnsucht hineingepflanzt und zurückgelassen hat. Und er glaubt, dass er die Orte nicht mehr finden würde, in denen er seine Spuren hinterlassen hat.

      Seit zwei Wochen hat der Mann seinen Fernseher nicht mehr eingeschaltet. Es ist sehr kühl geworden. Die Erde der Balkonpflanzen ist feucht. Alles stimmt, denkt der Mann. Jetzt ist es Zeit! Ich habe keine Angst vor der Nacht, ich habe Angst, mich in einem dunklen Zimmer abzugeben, nur um zu schlafen. Schlaf: Ich sehne mich nicht nach ihm.

      Mitternacht ist längst vorbei. Es spielt keine Rolle für den Mann. Zeit ist für andere eine Rechnungseinheit ihrer Lebensperspektiven. Ihn fragt niemand, wann er zu Bett geht und wann er morgens aufsteht. Die Zeit bedrückt ihn nicht. Sie beschäftigt ihn überhaupt nicht. Dass sie sich bewegt, entdeckt er nur in seinem Garten – und in den Falten morgens in seinem Gesicht. Ihn interessiert es nicht mehr, ob die Zeit davongaloppiert oder ob sie träge wie Lava auf flachen Ebenen fließt. Das war früher anders, aber jetzt ist es so. Er hat gelernt, zu warten, zu beobachten, über seine Zeit selbst zu bestimmen. Im Garten nimmt er nur den Wechsel zwischen den Jahreszeiten wahr: Darauf kommt es an. Nicht auf den Kalender und nicht auf die Uhr.

       7

      Wenn sie durch die Gänge des Funkhauses eilte, schwänzelte ihre Handtasche, mit den kurzen Trageriemen über die linke Schulter gestreift, wie die Flosse eines Fisches, der einem feindlichen Verfolger entkommen will. Immer in Eile, immer dicht an den Wänden der Flure, nie gelassenen Schritts in der Mitte des Weges. Wie Radarwellen sandte sie, daran hatten sich alle gewöhnt, keckernde Laute vor sich her. Wolff erinnerte diese Keckertonfolge an die Warnlaute eines Schiffs vor einer Flussbiegung.

      Sie war jeden Tag apart gekleidet, nicht ganz nach dem Geschmack Wolffs, aber dennoch überlegt. Ihre Sturmfrisur war hochtoupiert, die Farbe schillernd zwischen kastanienbraun und rostrot. Begegnete sie Kolleginnen oder Kollegen in den Gängen und Treppenhäusern, nickte sie ihnen flüchtig zu, als würde sie ein kurzes Hallo in unzumutbarer Weise festlegen.

      Wolff wusste, dass seine Kollegin über eine polyglotte Begabung verfügte. Sie sprach fließend Italienisch, Englisch, Spanisch, Kroatisch, Russisch und konnte sich sogar in einer skandinavischen Sprache akzentfrei verständigen. Er hatte sie früher um ihre verbale Eleganz beneidet, mit der sie vor großen Liveübertragungen der Europäischen Rundfunkunion das Publikum vieler Sender begrüßte. Es galt für sie das Privileg, bei besonders schwierigen Moderationen die im Schichtdienst tätigen und weniger versierten Stationssprecherinnen und Stationssprecher zu ersetzen. Fest stand: Vor dem Mikrofon keckerte sie nie. Vorher, wenn sie das Studio betrat: Ja. Nachher, wenn sie das Studio verließ: Ja. Sie keckerte, wenn sie nicht vor dem Mikrofon saß. Live in der Sendung aber funktionierte sie als ausgebildete multilinguale Sprecherin.

      Wolff hatte in einem Humanistischen Gymnasium das große Latinum und das Graecum erworben, im Englischunterricht wurde Shakespeare übersetzt. Der Teacher trug stets ein kariertes Sakko, aus dessen Seitentasche eine Ausgabe der »Times« hervorlugte. Später hatte die Klasse entdeckt, dass es sich immer um die identische, längst nicht mehr aktuelle Ausgabe handelte, die der Teacher wohl mehr als Accessoire verstand, ein Signal seines Livestyles. Leicht ausgefranst, das Papier schon angegilbt. Als Wolff mehr als eineinhalb Jahrzehnte später in Manhattan einen Rabbi angesprochen hatte, um ihn nach der richtigen Subway Richtung Long Island zu fragen, grammatikalisch korrekt im Shakespeare-Sound, blickte der Rabbi ihn über die Ränder seiner Brille an und antwortete kurz: »Mit mir können Sie auch Deutsch reden!« Wolff hatte das kurze Gespräch als Niederlage empfunden, auch wenn die inhaltliche Auskunft des schwarzgekleideten Mannes völlig korrekt und hilfreich gewesen war. Seitdem versuchte er, wo immer es möglich war, Gespräche in einer anderen Sprache zu umgehen. In seinem Studium hatte er im ersten Semester außerdem das Hebraicum gemacht. Nun besaß er Kenntnisse in drei alten Sprachen, tat sich aber schwer, sich in den USA nach Verkehrsverbindungen zu erkundigen.

      Wolff las ein paar E-Mails aus dem Haus. Jemand hatte geschrieben: »Ich gebe zu, dass ich den Chefredakteur nicht besonders mochte. Das lag weniger an mir als an ihm und seiner gelegentlich saugroben Haltung uns gegenüber, durch die er uns wissen ließ, dass er eine andere Hierarchieposition einnahm. Ihr Nachruf aber hat mir gezeigt, dass Steiger offensichtlich doch noch andere Seiten hatte. Das hat mich sehr beeindruckt, und deshalb schreibe ich Ihnen. Vielen Dank und: Chapeau!«

      Eine Kollegin meinte, ihm mitteilen zu müssen, dass er, Wolff, dafür bekannt gewesen sei, Steiger nicht besonders zu schätzen. Der Nachruf aber in beiden Programmen und im Intranet sei objektiv und dem Chefredakteur zugewandt geschrieben. Wolffs Text habe sie deshalb tief berührt.

      Wolff löschte beide Nachrichten und noch zwölf andere, die sich auf seinen Nachruf bezogen. Er überlegte, ob er einer Kollegin, einem Kollegen geschrieben hätte, wenn der Nachruf von ihnen verfasst worden wäre. Er nickte kurz und wusste: Wahrscheinlich hätte er auch ein Feedback gegeben, so wie er das immer wieder tat, wenn er herausragende Produktionen gehört hatte. Der Tote hatte zwar nichts davon, aber Wolff tat die Anerkennung gut.

      Jetzt war es an der Zeit, sich einen frischen Kaffee aus dem Vorzimmer zu holen. Als für die Redaktionen von der Inventarverwaltung Thermoskannen angeboten worden waren, hatte Wolff seinem Team unmissverständlich gesagt, dass Kaffee aus der Thermoskanne in seinem Umfeld niemals erlaubt sei. Mit Schaudern erinnerte er sich, als ihm der Hörfunkdirektor einmal eine Tasse Kaffee angeboten hatte, die Wolff kaum ablehnen konnte. Ihm lag daran, mit Vorgesetzten auf Augenhöhe zu reden; er stand nicht vor dem Schreibtisch, hinter dem sich der Chef verschanzt hatte, sondern setzte sich auf die Sitzgruppe. Der andere würde sich dann schon dazusetzen. So war es immer. Der Kaffee, aufgehellt mit fetter Sahne aus der Dose, war ungenießbar. Wolff schmeckte das Blech, die Rückstände eines Reinigungsmittels und die gelbe Sahne. Als sein Gesprächspartner kurz sein Büro verließ, um im Vorzimmer einen Auslandskorrespondenten zu begrüßen, der auf Verdacht kurz in der Direktion hereingeschaut hatte, kippte Wolff den Inhalt seiner Tasse in einen Blumentopf. Auch deshalb legte er Wert auf stets frisch gefilterten Kaffee, der nicht länger als eine halbe Stunde auf der Wärmeplatte stehen durfte. Statt Kaffeesahne wurde in seinem Büro frische Milch angeboten. Hin und wieder brachte Wolff von einer Kaffeerösterei auf dem Land ein Pfund Kaffeebohnen mit, viel länger als in den Kaffee-Großfabriken bei niedrigeren Temperaturen geröstet, sodass sich anders als bei den großen Markenproduzenten niemals ein bitterer Geschmack einstellte.

      Es klopfte an der Tür des Sekretariats, als Wolff gerade seine Tasse gefüllt hatte. Die keckernde Tonfolge warnte ihn vor. Unter der Tür stand sie: die Kollegin mit der Handtasche, dieser Schwanzflosse am kurzen Trageriemen. Die Frisur wie immer hoch toupiert. Das Gesicht dick mit Makeup belegt.

      »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

      »Für Sie immer!«

      Wolff bot ihr eine Tasse Kaffee und einen Platz in seiner Sitzecke an. Hellrote Ledersessel und ein Glastisch auf einem Chromgestell, Modell Mies van der Rohe. Diesen Tisch hatte Wolff vor Jahren im Lager der Inventarverwaltung

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