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auch noch als Erwachsener, einen Strauß Vergißmeinnicht und einen Streuselkuchen. Später, als sie davon erfahren hatte, spendierte ihm seine Kollegin zum jährlichen Geburtstag im Juli ein ganzes Backblech mit Streuselkuchen. Den Vergißmeinnicht-Strauß kaufte er sich selbst auf dem Bauernmarkt. Natürlich hatte er Vergißmeinnicht direkt an dem niedrigen Zaun zum Nachbargarten gepflanzt. Die hellblauen, manchmal dunklen oder violett-gelben Blüten erinnerten ihn an die vergangene Zeit und ihre Traditionen und Freuden und Gewohnheiten. Viele seiner Altersgenossen waren stolz darauf, sich von ihrer Herkunft und deren Zwängen zu befreien, bei ihm war es anders. Er hatte sich schon als Jugendlicher frei gefühlt, aus der häuslichen Geborgenheit war er aufgebrochen in neue Erlebniswelten, die er seinen Eltern nicht mitteilte, damit sie sich nicht um ihn sorgten. Außerdem ginge sie nichts an, was er für sich entdeckte, ausprobierte, riskierte und verwarf. So kam er als Heranwachsender ohne allzu große Konflikte mit seinen Eltern aus, während sich seine Geschwister schwere Auseinandersetzungen mit ihnen leisteten. Vielleicht, so denkt der Mann noch heute, war und bin ich ein Einzelgänger, der nicht kommunizieren muss, was andere möglicherweise belastet.

      In der Gartenanlage redet er gern mit Nachbarn, wenn sie ihn ansprechen. Er selbst sucht den Kontakt nicht. Er muss ihnen auch nicht sagen, wie hässlich er ihre aus schwerem Eichenholz geschnitzten Gartenmöbel findet, wie stillos ihre schmiedeeisernen Laternen oder die weiß lackierten Gartenleuchten sind, ihre Hollywoodschaukel aus dem Katalog des Versandhauses und ihre unausrottbaren karierten Tischdecken auf den Blechtischen. Wie beleidigend ihre Holzkohlen- oder Gas-Grillapparaturen für seine Augen und wie lächerlich die aus der String-Regal-Zeit übrig gebliebenen Silhouetten von Bambis, Berggipfeln und Tannenbäumen an der Außenwand ihrer Holzhütten sind, die sich mit ihren ausgefahrenen, meist gestreiften Markisen und den lose verlegten Steinplatten darunter sichtbar anstrengen, sich zu richtigen Gartenvillen zu entwickeln. Aber sie bleiben, was sie waren: kleine Holzhütten mit Gaskocher, oft einem Herrgottswinkel und Vorhängen an den Fenstern. Selbst halbhohe Stores hat der Mann schon entdeckt. Wenn es ihnen gefällt, dann ist es gut, denkt der Mann. Ich will es anders haben.

      Wieder ein Abend. Wieder eine Nacht.

      Der Mann steht auf seinem Balkon. Seit vielen Jahren steht dort auf einem Holzgestell, das ihm sein Nachbar zum Geburtstag gebaut und unter das Geländer eingepasst hat, mit Fächern für Blumentöpfe, Blumendünger, Müllsäcke, Gartenerde und die kleinen und größeren Gießkannen, ein großer Blumenkasten, in dem mindestens zehn verschiedene Farnarten wachsen, die sich ständig erneuern, in die Luft ausrollen und sich über die Ränder des Kastens ausbreiten wie ein künstlich eingefriedetes und in die Stadtlandschaft verpflanztes Stück Wald, das seine Begrenzung überwinden will. Der Mann achtet darauf, jeden Morgen die Erde nach den winzigen Farnrollen abzusuchen, aus denen später fächerartig und schattenwerfend große Pflanzen entstehen, er besprüht sie mit gesammeltem Regenwasser. Jeden Spätherbst holt er den Kasten mit den Farnen vom Balkon, er stellt ihn vor seine Wohnungstür in das Treppenhaus. Dort stört sich niemand im Vorbeigehen daran. Die Blätter werden während des Winters etwas blasser, die Erde trocknet schneller aus als in der frischen Luft, auch ist das Licht, das durch die Fenster hereinfällt, matt und schwach, aber die Farne kommen im Frühjahr wieder, schöner als je zuvor, dichter als im Vorjahr und in ihrem dunklen Grün unverzichtbar für einen, der auf seinem Balkon in der Dämmerung und bis in die späte Nacht hinein sitzt und steht und sich bewegt und sich freut, dass alles so lebendig ist, so frisch, so zukunftsoffen.

      Aber in diesem Jahr sind die Pflanzen in einer einzigen Woche abgestorben. Er hat zunächst die braunen Farnblätter entfernt, das war ein paar Tage so, bis es nichts mehr zu entfernen gab. Die Erde war feucht, es gab keinen Grund, zu vertrocknen, aber die Farne starben ab. Jetzt hat der Mann den nackten Blumenkasten wieder auf den Balkon gestellt; die Erde wollte er nicht austauschen, weil er darauf hofft, dass im Boden noch Sporen der toten Farne enthalten sind. Und gestern hat er entdeckt, dass tatsächlich winzige neue Farne aus der Erde sprießen.

      Es ist ganz still.

      Selbst vom Hauptbahnhof und vom nahen Freilassing dringt kein Geräusch herüber. Die Züge fahren, wenn sie heute Nacht unterwegs sind, ohne jedes wahrnehmbare akustische Lebenszeichen. Ein Käuzchen ruft. Das ist selten in der Stadt. Der Mond steht über der Festung. Wenige Laternen dort oben glimmen im Mondschatten. Wie viele Menschen, unter ihnen auch Fürsterzbischöfe, saßen in den Verließen in Haft, isoliert von jedem Mondlicht, dem Flackern der Fixsterne und Planeten und abgeschirmt von den milden Geräuschen der Nacht? Oder der Klangkulisse des Tages mit Menschen und Hunden? Der Mann hatte sich intensiv mit der Geschichte seiner Heimat befasst. Er ist sich ziemlich sicher, dass die Massen an Touristen, die mit der Bergbahn hinauffahren oder die den Festungsberg zwischen dem Mönchsberg und dem Nonnberg zu Fuß erklimmen, wenig über die Nachtseite dieser Anhäufung von Kuppeln und Glockentürmen, barocken Hausfassaden und hochwassergefährdeten Kolonnaden wissen und wissen wollen. Aber es kümmert ihn nicht. Er weiß und er horcht in die Nacht.

      Es ist seltsam. Nachts fahren Radler auf dem Gehweg.

      Nachts sind viele Fahrräder unbeleuchtet.

      Der Mann versteht nicht, weshalb sich diese Menschen der Gefahr aussetzen, von einem Autofahrer übersehen zu werden.

      Nachts gilt die Vorrangregel »Rechts vor links« nicht. Wer spät nach Hause fährt, hat es eilig. Käme jemand von rechts, würde das Fahrzeug auf der Kreuzung durch die Scheinwerfer des Vorfahrtsberechtigten zu erkennen sein. Das ist meist so, aber manchmal auch nicht.

      Dann flackert ganz plötzlich ein Blaulicht auf der Kreuzung.

      In den letzten Tagen, so beobachtet es der Mann, sind mehr als zwölf Kleintransporter eines deutschen Unternehmens am späten Abend, oft auch nachts, in das ruhige Wohnviertel eingeschwärmt. Er hat von seinem Balkon aus eine Schriftfolie erkannt: Wir fahren für Amazon. Die Fahrer, die sich gegenseitig in die knappen Parkplätze einweisen, sprechen nicht Deutsch. Er nimmt an, dass sie im Auftrag von Großspediteuren tagsüber Sondertransporte übernehmen. Die Fahrer sind vielleicht im Hotel am Ende einer der Nebenstraßen untergebracht. Die weißen Kleintransporter sind die einzigen mobilen Fahrzeuge in diesen Tagen. Alle anderen Autos werden selten bewegt. Hier wohnen viele ältere Leute, sie fahren nicht mehr so oft und so viel wie die Jüngeren. Noch immer blockiert ein Kleinwagen zwei Stellplätze am Straßenrand. Vögel haben die Frontscheibe und die Seitenfenster verschmutzt. Am Scheibenwischer vergilbt ein Werbezettel.

      Der Mann steht auf dem Balkon und überlegt, was morgen in seinem Garten zu tun ist. Er trinkt einen Rotwein. Viele Jahre hatte sie ihn gebeten: »Trinke nicht jeden Tag! Lege mal eine Pause ein! Du gewöhnst dich sonst noch daran!« Aber sie hatte ihm auch gesagt: »Kaufe nicht den billigen Rotwein. Wir haben genug Geld, dass du dir einen guten Rotwein leisten kannst.«

      Nun ist dies alles vorbei. Er trinkt seinen Rotwein, denkt an sie, streift das Gewicht der Erinnerung bewusst ab. Das ist anstrengend. Und er hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Er ist allein, nicht einsam. Er hat sich daran gewöhnt, sich und seiner Trauer standzuhalten. Das ist möglich, natürlich nicht in jedem Augenblick. Es gibt schon einsame Stunden, aber er hat gelernt, sie anzunehmen.

      Um diese späte Zeit sind nur noch Hundebesitzer unterwegs. Ihm war nicht bewusst, dass es so viele Hunde im Viertel gibt. An der Hauptstraße wachsen Supermärkte und Tankstellen, Outlet-Center und Discounter von Jahr zu Jahr in das Wohnviertel hinein, aber wenige Fußminuten hinter der Hauptstraße ruht sich seine Wohngegend in der Beschaulichkeit ihrer Gärten aus. Es ist interessant, dass inzwischen viele Hunde blinkende Dioden-Halsbänder tragen. So können sich Dackel und Golden-Retriever nicht mehr unter den Büschen verbergen, während ihre Halter rufen und rufen und rufen. Die Ära der Bobtails ist längst vorbei. Schäferhunde sind im Viertel ausgestorben. Die Wohnungen sind kleiner geworden, die Hundebesitzer haben sich den Verhältnissen angepasst.

      Morgen werde ich recherchieren, denkt der Mann, was es mit dem Vermessungsteam rund um unser Kleingartengelände auf sich hat. Ich bin gut vernetzt, ich werde herausfinden, ob es Planungen gibt, die uns bedrohen. Ich glaube nicht daran, aber zu glauben ist wenig sinnvoll. Ich will es wissen. Denn die Hysterie der Gärtner ist schwer erträglich. Ein Gelblicht genügt, und sie geraten schon in Panik. Ein Blitz in Gelb, ein Angsteinbruch in Schwarz. Schwarz wie die Albträume der

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