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Funkhausflure bis hinüber zum Hochhaus, nahm den Aufzug, fuhr in den 13. Stock, stieg aus, schloss die Tür zu seiner Redaktion auf und atmete erst einmal tief durch. Erst später würde sein Team noch einmal mit den Sendeunterlagen bei ihm vorbeischauen, und er würde ein Glas Wein anbieten. »Ja, die Sendung war okay«, sagte er, um nicht eine längere Manöverkritik zu ermöglichen. »Morgen«, sagte er, »morgen setzen wir uns zusammen.«

      Wolff hatte immer anerkannt, dass Gerald Steiger seine Kommentare brilliant formulierte. Seine Beiträge, die ihm Steiger in einem Sammelband, herausgegeben im Selbstverlag, an einem späten Abend mit einer freundlichen Widmung überreicht hatte, folgten den Gesetzmäßigkeiten für Meinungsbeiträge: Reduktion komplexer Themen auf knappe Bilder, Vermeidung jeglicher Sowohl-als-auch-Beschreibungen der Fakten, Verzicht auf jede schwammige Position, deshalb klare Haltung. Kommentare bedürfen an deren Ende eines an das Publikum weitergegebenen Fragezeichens oder eines Ausrufezeichens. Nur dann stimmte die Struktur eines guten Kommentars.

      Kommentare sind Anstiftung zum selbstständigen Denken des Publikums. Immer gelingt das natürlich nicht.

      Als Steiger seinen 60. Geburtstag feierte, gratulierte ihm Al Wolff handschriftlich und schenkte ihm ein Exemplar der schmalen Autobiografie von Hanns Joachim Friedrichs, die der Autor, schon sterbenskrank, noch geschrieben hatte. »Überall dabei sein, nirgendwo dazugehören!« Das war eine der Leitlinien des moderierenden Chefredakteurs der ARD-Tagesthemen gewesen. »Sich nie mit einer Sache gemein machen, und sei es eine gute Sache!«. Darüber könnte gestritten werden. Auf seine Glückwunschkarte schrieb Wolff dem Chefredakteur: »Ich bewundere Ihre Kommentare, auch wenn sie immer die falsche Meinung vertreten.« Steiger hatte dieser Glückwunsch besonders amüsiert.

      Wolff hatte nicht mehr viel Zeit.

      Er schrieb seinen Nachruf weiter. Über den im ganzen Land bekannten Publizisten, der als junger Mann dem Team um den späteren Bundeskanzler und früheren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard angehört hatte, ein Radiojournalist, der sich schon früh für eine soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland engagierte, sich für die Zurückhaltung des Staats gegenüber der Wirtschaft im eigenen Land und in Europa aussprach und danach viele Jahre in der alten Bundeshauptstadt Bonn als akkreditierter Journalist am Deutschen Bundestag für unterschiedliche Printmedien tätig war. Das war vor Wolffs Zeit in seinem Sender gewesen.

      Er schrieb.

      »Gerald Steigers Stimme, der sich als Journalist immer als Vermittler zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, Parteien und Wählern, Europa und dem deutschen Föderalismus, Afrika und seiner bayerischen Heimat sah, ist verstummt. Wir sind entsetzt über seinen Tod. Seine unverwechselbare Stimme polarisierte oft. Er stand einer Partei ganz sicher näher als anderen, aber auch die anderen prüften seine Analysen und seinen scharfen Blick auf die politischen Entwicklungen bei uns und auf dem afrikanischen Kontinent, für den er sich seit seinen jungen Jahren immer leidenschaftlich engagiert hatte. Mag sein, dass er als Chefredakteur in seinen Reportagen und Kommentaren viele Menschen provozierte, die bei ihm die gebotene Distanz gegenüber Parteien und Regierung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vermissten. Zugleich beklagten sich Regierungspartei wie Staatsregierung immer wieder über die Unabhängigkeit dieses konservativen Journalisten, der sie nicht selten das Fürchten lehrte. Er hat es seinem Publikum nicht leicht gemacht, aber sein Publikum machte es ihm auch niemals leicht.«

      Wolff hatte in Nachrufen nie gelogen. Es galt, Wahrheiten in eleganter Form auszusprechen, ohne verletzend zu sein. De mortuis nil nisi bene: Das kam für Wolff nicht infrage. Er schrieb nicht seinen ersten Nachruf. Er würde Wahrheiten niemals ausklammern, es kam nur darauf an, wie sie ausgesprochen wurden.

      Weshalb auch sollte er seine distanzierte Nähe zu Steiger verraten: die Kollegialität, auch die wenigen fast freundschaftlichen Situationen, wenn die Weingläser zwischen ihnen standen und die blaue Stunde über München herabsank: Zwischen einem stramm Konservativen mit uneingestandener Sehnsucht nach Akzeptanz, gerade auch bei seinen Kolleginnen und Kollegen, und Wolff, dessen Skeptizismus von Tag zu Tag wuchs. Das System wurde ihm fremd und fremder. Er hatte viele Jahre lang nicht verstanden, weshalb Führungskräfte im Haus so oft klare Stellungnahmen vermieden, sich um Entscheidungen drückten und erst abwarteten, was sich ereignen würde, bevor sie sich eine eigene Meinung bildeten oder die der Vorgesetzten übernahmen. Er glaubte zunehmend die Prozesse einer déformation professionelle zu verstehen, die ihre Ursache im System hatten. Das System hatte eine Führungsstruktur nach dem Bild einer Pyramide. Je weiter man nach oben kam, desto schmaler wurde die Plattform. Und oben saß nur einer.

      Vielen Führungskräften, so empfand es Wolff, fehlte der Mut, auf die Kreativität und Professionalität von Redaktionen zu setzen, ihnen zu vertrauen, sie arbeiten zu lassen. Stattdessen teilten sie jede auch nur im Ansatz entstehende Macht. Je stärker sie das Konkurrenzdenken zwischen den Abteilungen förderten, für umso ungefährdeter hielten sie ihre eigene Position. Es wurde zwar viel von lean management geschwätzt, aber Wolff empfand dies nur als Show, denn die Wirklichkeit war ganz anders. Es sei denn, man widersetzte sich ihr, was zwar möglich, aber keineswegs überall üblich war.

      Wolff hielt diese Entwicklungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk für gefährlich und kontraproduktiv. Seit Jahrzehnten hatte er immer wieder bei Organisationsstrukturreformen beobachtet, dass journalistische Kompetenz und inhaltliche Kongruenz nicht zu starken Redaktionseinheiten führten. Im Gegenteil: Es galt das Prinzip der Zellteilung. So gab es etliche Redaktionen, die Programme für junge Leute anboten, mehr nebeneinander als miteinander, statt eine starke Redaktionsgruppe zu bilden, die zielgruppen- und wellengerecht attraktive Sendeformate entwickeln und realisieren konnten. Divide et impera! Wolff kannte die Sprüche, ihre Weisheit war ihm nicht unbekannt geblieben. In den Redaktionen saßen die kreativen Kolleginnen und Kollegen, in den Programmbereichen und Hauptabteilungen gab es zu viele Bedenkenträger. Wolff hatte nie erlebt, dass ihn ein Vorgesetzter je ermutigt hätte. Es gab immer etwas zu bedenken. Und Wolff sagte dann lakonisch: Wir haben bedacht. Und dann war es meist gut. Wenn das Echo auf die Sendung positiv war, gab es auch Lob. Aber meist hatten die Vorgesetzten das Programm gar nicht gehört. Manche hatten es auch hören lassen. Der Chefredakteur zum Beispiel von seinem Hund.

      Noch 15 Minuten.

      Das Manuskript ausdrucken, durchlesen, korrigieren. Einmal laut lesen. Dann in die Hörfunkdirektion. Der Schlusssatz fehlte noch.

      Ein metallisches Geräusch auf der Fensterbank im 13. Stock des Hochhauses.

      Ein Schatten. Der Fensterputzer. Mit zwei Eimern in den Händen geht er auf dem schmalen Sims vor den Eckfenstern, taucht plötzlich am Fenster von Wolffs Büro auf. Wolff wusste: Er wird sich gleich bei den Ösen zwischen den Fenstern einhaken. Ein Sicherheitssystem. Zwischen den Ösen, ausgeklinkt, läuft der Fensterputzer frei um die Ecke des 13. Stocks, in jeder Hand trägt er einen Eimer. Wolff ist nicht schwindelfrei. In einem Vortrag der Bayerischen Akademie für Wissenschaften, er war ganz bewusst dorthin gegangen, als er gelesen hatte, ein Professor der Schwindelambulanz des Großklinikums würde dort referieren, erfuhr Wolff: Wenn sich Schwindel einstellt, ist es gut, auswendig ein Gedicht aufzusagen, zu zählen oder den Blick auf den fernen Horizont zu richten. Es sei übrigens besser, auf dem Dach eines Hochhauses zu liegen als zu stehen.

      Aber wer steht oder liegt schon gerne da oben?

      Wolff musste jetzt sofort aufstehen. Er konnte nicht länger zum Fensterputzer schauen. Er verließ sein Büro und schlenderte den Gang entlang. Gerade noch hatte ihm seine Programmassistentin zugerufen:

      »Sie müssen gleich ins Studio.«

      »Ich weiß«, hatte Wolff ihr entgegnet.

      Als die Fenster geputzt waren, der Schatten auf dem Außensims verschwunden war, kam Wolff zurück und schrieb seinen letzten Satz. Er sah nicht, dass inzwischen ein Pulk von Mauerseglern über den diesigen Himmel kreuzte. Er hörte nicht den Verkehr, dessen Geräusche, den Fallwinden des Hochhauses trotzend, normalerweise bis zu ihm heraufdrangen. Er dachte an Steiger und setzte den Punkt unter seinen letzten Satz.

      Jetzt also zum Hörfunkdirektor.

      »Okay! Sehr schön. Hätte ich nicht besser schreiben können. Aber beim Sprechen bitte kein Pathos!«

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