Скачать книгу

darauf folgende Schweigen lässt Halfdan erschaudern, er kann hier nicht länger hocken. Er muss Hjalmar retten. So schnell er kann, kriecht er auf die Treppe zu, bleibt an einem Kleiderständer hängen, der krachend umstürzt, dann steht er auf der obersten Stufe und erwidert Hjalmars unglücklichen Blick. Der Großvater starrt ihn ungläubig an.

      Halfdan setzt zu einer Erklärung an. Es war nicht allein Hjalmar, Großvater, es war nicht einmal seine Idee. Während er weiterredet, erscheint ein müder Ausdruck in den Zügen des Großvaters, und Halfdan erahnt einen Hoffnungsschimmer, vielleicht kommen sie ja dieses Mal noch mit einer Ermahnung davon.

      Doch dann steht plötzlich der Vater da, er muss durch den Lärm gestört worden sein. Er hustet, schnäuzt sich die Nase und will ganz genau wissen, was vorgeht. Er baut sich vor ihnen auf, und obwohl er nicht in bester Form ist, strahlt er eine Aura militärischer Härte aus. Erst jetzt bekommt Hjalmar wirklich Probleme, denn der Vater bezeichnet ihn als charakterlosen Lügner und fordert ihn auf, möglichst schnell zu verschwinden, bevor er ihm die Ohren abreißt.

      Hjalmar zieht den Kopf ein und sucht das Weite. Anscheinend weint er nicht, noch nicht. Halfdan hört den Vater brummen, dass er überhaupt nicht wisse, wie er einen Mann aus dem Lausejungen machen soll.

      Halfdan rennt über den nassen Rasen und spürt die Feuchtigkeit in seine Schuhe dringen. Es hat aufgehört zu regnen, der Himmel ist heller. Er folgt dem kiesbedeckten Weg, es knirscht unter seinen Füßen, einer von Großvaters Jagdhunden bellt, als Halfdan am Hundezwinger vorbeieilt, bevor er schließlich die Jasminhecke umrundet, die in voller Blüte steht und einen intensiven, betörenden Duft verströmt.

      Im Küchengarten hat der Regen Pfützen zwischen den Keimlingen hinterlassen. Kleine Schilder mit Pfanzennamen verraten, was in den schnurgeraden Reihen gesät wurde. Ringelblumen, Mohrrüben, Salat und Porree haben schon ausgetrieben. Die Kräuter sind bereits grün und kräftig. Er kennt all ihre Namen, Jahr für Jahr wachsen sie an derselben Stelle, Goldmelisse, Salbei, Liebstöckel und Thymian.

      Er entdeckt ihn sofort, er sitzt auf der weiß gestrichenen Bank mit zur Brust herangezogenen Knien, das Gesicht verborgen. Es ist ihr geheimer Treffpunkt. Hjalmar blickt nicht auf, als Halfdan sich nähert.

      Auf der Bank ist es feucht. Halfdan fegt die Tropfen mit den Händen herunter und setzt sich ebenfalls.

      »Dummkopf. Warum hast du nicht gesagt, wie es war?«

      Hjalmars Hose ist durchnässt. Er schnieft, zuckt mit den Schultern und sieht klein und zerbrechlich aus.

      »Komm jetzt. Du musst hier doch nicht sitzen und frieren.«

      Halfdan boxt ihm gegen die Schulter, ganz leicht, nur um ihn aufzuheitern. Und als auch das nicht hilft, steckt er die Hand in die Hosentasche. Er hat zwei Kampferdrops aufgespart. Die Papiertüte ist zerknittert, und die Bonbons haben sich am spitzen Ende festgesetzt. Eins für Hjalmar, eins für ihn selbst. Als Hjalmar sich endlich zu ihm umdreht und er ihm ein Bonbon reicht, da lächelt er und wischt sich mit dem Hemdsärmel über die Wangen.

      Sonntag. Die Gäste treffen ein. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster hört Halfdan draußen auf dem Vorplatz Wagenräder und Pferde, Tante Kaias perlendes Lachen und andere fröhliche Stimmen und den Großvater, der die Gäste enthusiastisch willkommen heißt. Alle sind verspätet. Es hätte eine Matinee werden sollen, aber die Wege von Christiania hierher sind durch den Regen ganz aufgeweicht. Jetzt ist der Nachmittag schon weit fortgeschritten, und noch immer sind nicht alle eingetroffen.

      Zum Glück war beschlossen worden, dem sonntäglichen Gottesdienst fernzubleiben, es regnete einfach zu viel, und der Vater war nicht in der Verfassung, das Haus verlassen zu können. Nur wegen des Kirchgangs wollte niemand bis auf die Haut nass werden, ohnehin würde es dafür ja später noch unzählige Gelegenheiten geben. Dagegen hatte Halfdan nichts einzuwenden, am letzten Sonntag war die Predigt unerträglich lang gewesen, kaum hatte er die Beine ruhig halten können, was zur Folge hatte, dass Dorthe ihn nach einer Weile mit ihrem strengen Blick bedachte. Der einzige Lichtblick war die Orgelmusik.

      Stattdessen hat er heute die meiste Zeit des Tages am Klavier verbracht, und außerdem wollte Hjalmar Revanche für das Dominospiel. Gestern hat Halfdan ihn zum ersten Mal gewinnen lassen, danach aber drei Mal selbst gewonnen. Heute war das Spiel fast ausgeglichen. Es war eine angenehme Art des Zeitvertreibs. Als er wach wurde, war er nervös, doch als er im roten Zimmer mit Hjalmar auf dem Sofa saß und den Regen gegen das Fenster prasseln hörte, hatte er sich entspannt und das Konzert vergessen.

      Jetzt allerdings spürt er die Aufregung im ganzen Körper. In einer knappen Stunde soll er auftreten. Seine eigene Komposition vorführen. Das belastet ihn sehr, er fürchtet sich vor einer Blamage. Da hilft es auch nicht, dass er das Publikum kennt, das macht es fast schlimmer. Er weiß nur zu gut, dass sie kritisch sind. Jemand aus Bogstad wird erwartet. Und der Onkel und die Tante vom Munkedamm, samt Freunden vom Theater. Ein paar von ihnen sind durchaus fähige Musiker.

      Seine Mutter wird singen, sie soll das Hauskonzert einleiten, so etwas liebt sie schließlich. Vielleicht wird ihre Freude ja auf ihn abfärben, so etwas hat er schon früher erlebt, er muss nur seinen Teil dazu beitragen. Komme, was da wolle.

      Er steht vor dem Spiegel an der Kommode und fährt sich mit dem Kamm durchs Haar. In der Frühe hat er unter dem Zierrat seiner Mutter eine Dose mit Puder entdeckt, hat ein wenig davon genommen und es unbemerkt in seinem Taschentuch verborgen. Jetzt versucht er, ein paar der roten Pickel damit zu verdecken, aber die Mühe hätte er sich sparen können, es sieht aus, als hätte er Mehl im Gesicht. Hoffnungslos. Er wischt sich das Gesicht ab, eine feine weiße Staubwolke legt sich auf die Brustpartie seiner Brokatweste. Nun denn, die Kleider sitzen immerhin wie sie sollen, das Halstuch sieht hübsch aus, und die Schuhe sind poliert.

      Dann hört er Schritte im Flur. Die Mutter. Hektische, vertraute Schritte. Sicher freut sie sich darüber, dass er schon vorbereitet ist. Nur keine Trödelei. Die Noten liegen unten bereit, er hat es noch einmal überprüft, bevor er hinaufgelaufen ist, um sich umzuziehen. Er dreht sich um und wartet darauf, dass die Türklinke heruntergedrückt wird, aber nichts geschieht. Er öffnet die Tür, sieht hinaus und erspäht ihren Rücken im Flur, das rote Seidenkleid und das zu einem hohen Knoten aufgesteckte Haar, das den Blick auf die langen, tropfenförmigen Ohrringe freigibt. Das Rascheln des Kleiderstoffs gleicht einem bedrohlichen Zischeln, als sie weiter in den Ostflügel stürmt. Ihre Zimmertür fällt krachend ins Schloss.

      Es ist nicht das erste Mal. Die Mutter reagiert mitunter heftig, und oftmals kann er den Zusammenhang nicht begreifen. Abwartend bleibt er stehen und lauscht. Unten im Salon ertönt schon Stimmengewirr. Gläser und Zigarren werden herumgereicht, während alle auf die Gastgeberin warten, Lassons älteste Tochter, die wohl sicher nur nach oben gegangen ist, um ihren Sohn zu holen. Sie warten auf ihn, auf das junge Musiktalent, auf Halfdan Kjerulf, der hier fertig angezogen, gestriegelt und gekämmt vor dem Spiegel steht, aber nicht weiß, was er nun anfangen soll. Geplant war doch, dass er mit ihr zusammen herunterkommen sollte, wenn alles soweit wäre.

      Stampfende Schritte auf der Treppe. Es sind der Großvater und Tante Kaja, wo um Himmels willen Elisabeth denn jetzt sei? Herrgott.

      Halfdan stottert bloß, weiß nicht, was er sagen soll. Am liebsten würde er verschwinden. Der Großvater blickt ernst, sein Mund ist verkniffen. Seine Arme hängen an den Seiten herab, die behaarten Hände ballen sich, sodass die Knöchel weiß aufleuchten. Tante Kaja blickt hinter seiner Schulter hervor, schnalzt resigniert mit der Zunge und verdreht die Augen.

      Halfdan bleibt vor dem Bett stehen, hört schnelle Schritte durch den Flur eilen, der Großvater will die Tür zum Zimmer der Mutter öffnen, aber sie ist von innen abgeschlossen und niemand antwortet. Den Worten kann Halfdan entnehmen, dass es irgendeine Meinungsverschiedenheit gegeben hat. Bevor sie wieder hinuntergehen, versucht der Großvater ein paar versöhnliche Worte zu formulieren, ohne sie dabei wie eine Entschuldigung klingen zu lassen, darin ist er Meister, stets achtet er darauf, nicht das Gesicht zu verlieren.

      Erst dann entdeckt Halfdan seinen Bruder. Ganz leise ist Hjalmar plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Jetzt steht er in der Türöffnung und blickt ihn erwartungsvoll an. Er hat sich wohl gefragt, wo der große

Скачать книгу