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Pflaumen in den Mund stopfen wie sie, der Saft lief ihr aus den Mundwinkeln und tropfte auf das Kleid. Noch immer sieht er es deutlich vor sich, wie Ida Theodors Tränen abwischt, er hat eine Schürfwunde am Ellbogen, sie setzt ihn in den kleinen Wagen und zieht ihn über den Weg, bis er lächelt und alles vergessen hat. Ida, die flüstert: »Hab keine Angst, Hjalmar«, und sagt, dass er in ihren Armen liegen darf, wenn er mag. Ida, die gebadet hat und ihr Haar zu einem langen dunklen Zopf geflochten trägt, der die Rückseite ihres Nachthemds ganz nass werden lässt. Ida, die plötzlich zu einem orthopädischen Institut in Deutschland fahren muss und lange fortbleibt, obwohl sie erst vierzehn Jahre alt ist. Und Ida, die im Korbstuhl vor der Fliederhecke sitzt, mit einer Wolldecke über dem Schoß, obwohl es vorsommerlich warm ist. Sie ist verliebt, der träumende Blick, sie lächelt, und Hjalmar weiß, dass es Welhaven ist, an den sie denkt.

      Jetzt sind das alles nur noch Bildfragmente in seinem Kopf, der Garten ist von mindestens einem Meter Schnee bedeckt, und wenn der Sommer kommt, wird Ida nicht mehr hier sein, um den Duft des Flieders zu spüren.

      Die Uhr im Flur schlägt elf. Er wagt es nicht, sich hinzulegen, am schlimmsten ist es, wenn er dort allein liegt und schlafen will. Stattdessen versucht er, sich wachzuhalten, auch wenn die Augen vor Schlafmangel brennen und die Glieder schmerzen. Sieben Nächte hintereinander hat er diese Strategie gewählt, bis er schließlich aufs Bett sank und in einen traumlosen Schlaf fiel.

      Im Flur ist es dunkel. Er steht vor Halfdans Zimmer und schaut nach, ob Licht unter der Tür hervordringt. Es sieht nicht so aus. Vorsichtig klopft er an. Keine Antwort, er schläft vielleicht schon oder will einfach allein sein. Am anderen Ende des Flurs bleibt er stehen und hört den lauten, rasselnden Husten des Vaters.

      Unten in den Zimmern ist es kalt. Etwas früher am Abend hörte er die Mutter zu Johanne sagen, es sei nicht nötig einzuheizen, ganz bewusst haben sie das Feuer in den Öfen ausgehen lassen. Im Halbdunkel erkennt er die Anrichte, die noch immer mit Blumen und Karten übersät ist. Im Laufe des Tages hat sich ein schwacher Geruch nach fauligem Blumenwasser gebildet, und einige der Sträuße hätten schon längst entfernt werden müssen. Aber niemand ist da, der es tut.

      Ein Jahr, und alles ist anders. Denn es muss genau zu dieser Zeit im letzten Jahr gewesen sein, im Dezember 1839, als hier in Bakkehus eine Weihnachtsgesellschaft stattfand. Die Zimmer waren warm, es knisterte in den Öfen, überall brannten Kerzen, es gab lachende Menschen und Musik. Im Lehnstuhl, der jetzt leer und dunkel dasteht, mit dem hübsch arrangierten Kissen, saß der Großvater und erzählte mit lauter Stimme Geschichten, während er Weihnachtsleckereien aß und offenbar Eindruck bei einem der Gäste hinterließ, wenn Hjalmar sich richtig erinnert, war es Frau Hansen.

      Alle waren bei guter Gesundheit, die Stimmung war fröhlich, ja sogar Halfdan erzählte die eine oder andere gute Geschichte. Nur wenige Tage zuvor hatten sie Nachricht von Regnald erhalten, der wohlbehalten in Hamburg angekommen war, wo er eine Kaufmannslehre in einem der großen Handelshäuser machen sollte.

      Alle waren froh gestimmt. Halfdan spielte etwas vor, Theodor und die Mutter sangen. Onkel Peder überredete die Herren zu einer Kartenpartie, und die halbe Gesellschaft verschwand im Rauchsalon. Hjalmar weiß noch, wie Halfdan sich ihnen anschloss und plötzlich so erwachsen aussah, zusammen mit dem Vater und den anderen. Er hatte versucht, Halfdans Blick aufzufangen, aber der hatte ihn übersehen, denn nun war er entscheidende sechs Jahre älter.

      Hjalmar knackte Nüsse und spielte bis kurz vor Mitternacht mit Ida Vielliebchen. Warum waren sie nicht einfach sitzen geblieben? Wieso gähnte er und verabschiedete sich, als Ida ihn zu einer neuen Runde drängte?

      Das Sofa, auf dem sie saßen, steht jetzt im Dunkeln, fast scheint es, als hätte nie jemand darauf gesessen.

      Das bleiche Winterlicht weckt ihn. Offenbar hat er die Vorhänge nicht zugezogen, bevor er sich hinlegte. Es ist kalt, er zieht sich eine Wolljacke über.

      Unten auf dem Hofplatz ist der Schnee schon geräumt worden, hoch aufgetürmt liegt er vor dem Stall.

      Hjalmar hört Dorthes Stimme und sieht sie dort unten hin und her eilen, sie fuchtelt herum, schwenkt die Arme, lässt jemanden das Gepäck hinaustragen.

      Lasse holt das Pferd, warme Decken werden zum Schlitten gebracht. Und da kommen Axel und Theodor, eingepackt in Pelze und Schals, wie folgsame Pinguine, und setzen sich in den Schlitten.

      Sein Atem beschlägt an der Scheibe, er wischt mit der Hand darüber, um bessere Sicht zu haben. Jetzt fahren sie wohl los, Dorthe und die jüngeren Brüder, streitlustige Jungen für gewöhnlich, doch in den letzten Tagen waren sie beide ungewöhnlich schweigsam. Lange werden sie nicht fortbleiben, sollen nur mal woanders hin, hinauf zum Großvater nach Grini. Abwechslung ist genau das, was in diesen Tagen vonnöten ist.

      Unten im Esszimmer ist niemand, die anderen müssen schon lange vor ihm aufgestanden sein. Er horcht, hört aber nur Beate, die drinnen in der Küche mit dem Besteck herumklappert. Schließlich kommt sie mit der Teekanne. Er fragt, wo alle sind. Halfdan ist ins Büro gegangen.

      »Ins Büro? Heute?«

      Wie seltsam. Er dachte, Halfdan hätte sich ein wenig freie Zeit ausgebeten, nach allem, was in letzter Zeit passiert ist. Und außerdem ist ja auch bald schon Weihnachten. Den ganzen Herbst hat Halfdan über die Zeitung und die Redaktionsleitung geklagt. Den Constitutionelle. Angeführt von Andreas Munch, dem Dichter in Person, wie Halfdan ihn ein wenig sarkastisch nennt. Einen noch hoffnungsloseren Redakteur müsste man wohl lange suchen.

      Armer Halfdan. Wenngleich er ein guter Beobachter ist und eine spitze Feder führt, gefällt er sich doch ganz und gar nicht in der Rolle des Journalisten. In letzter Zeit hat sein Gesicht einen müden Zug bekommen, den man bei einem Mann Mitte zwanzig nicht erwarten würde. Er ist verbittert, kommt nicht mehr aus dem Trott heraus, in dem er gelandet ist. Der Enthusiasmus, den er nach der Studienreise nach Paris im Sommer aufgebracht hatte, erwies sich als kurzfristig. Hellauf begeistert war er gewesen angesichts all der Konzerte, die er besucht hatte. Und mehr als bereit, endlich selbst etwas zu erschaffen. Im Laufe des Herbstes jedoch erforderte die Arbeit immer mehr Zeit. Jetzt spricht er nur noch ganz verächtlich von dem Auslandsaufenthalt, sagt, es sei völlig umsonst gewesen, eine unnötige Verschwendung von Zeit und Geld, und sowieso habe er zu nichts geführt. Hjalmar hat versucht ihn aufzumuntern, du bist so tüchtig, Halfdan, es ist doch klar, dass du es zu etwas bringen kannst! Du musst dir deine Träume bewahren, Halfdan! Aber es ist nutzlos. Es steht nicht in seiner Macht, den Bruder zu einer Änderung seiner Lebenssituation zu bewegen. Die Initiative muss von ihm selbst kommen.

      Die Uhr auf der Anrichte tickt.

      »Hat er gesagt, wie lange er fortbleibt?«

      Beate schüttelt den Kopf. Ihre Hand zittert, die Kanne stößt an die Porzellantasse, es lässt sich nicht vermeiden, dass sie etwas Tee vergießt.

      »Oh je. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Sie beeilt sich, eine Serviette zu holen, aber sie hat einen Hüftschaden, darum dauert es seine Zeit. Der Vater kann es nicht ausstehen, wenn der Tee auf die Untertasse schwappt, im Laufe der Jahre hat er stets ein großes Gewese um diese Unfälle gemacht, die immer öfter einzutreten scheinen. Ja, sogar die Entlassung der alten Beate war im Gespräch. Interessanterweise scheiterte dies am entschiedenen Einspruch der Mutter, die sonst nicht eben für großes Mitgefühl gegenüber Menschen niedrigeren Ranges bekannt ist.

      »Aber das macht doch nichts. Es macht überhaupt nichts.«

      Er sieht, wie sich Erleichterung auf ihrem faltigen Gesicht ausbreitet.

      So ist es also. Halfdan ist hinunter ins Büro gegangen. Geflüchtet. Er hält diese Stimmung wohl auf Dauer nicht aus. Sogar die Redaktion ist dem noch vorzuziehen. Das sagt nicht eben wenig.

      Regnald, der es nicht geschafft hat, aus Deutschland nach Hause zu kommen, kann wahrscheinlich nur froh darüber sein.

      Im Flur hält Halfdan den Blick nach vorn gerichtet, vermag es nicht, in Idas Zimmer zu schauen. Die Sonne glänzt über dem Fjord. Frostiger Nebel schiebt sich wie eine Decke über die Stadt. Darunter glitzern die verschneiten Hausdächer. Nur der Kirchturm an der Festung ragt aus dem Nebel, und ganz unten, wie ein einsamer Außenposten

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