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Marianne Storberg

      Halfdan

      Bonn, 20. März 1847

      Jäh erwacht er, als sein Kopf gegen die kalte Scheibe stößt. Die Kutsche schaukelt kräftig. Trotz der monoton klappernden Wagenräder und des knarrenden Geschirrs muss er schließlich doch eingeschlafen sein. Jetzt klopft sein Herz so schnell, dass er erschrickt. Er versucht tief einzuatmen, sich zu beruhigen, rutscht aber auf dem klammen Polstersitz umher und kann keine bequeme Stellung finden. Er faltet die Hände im Schoß und spürt, dass er zittert. Mit geschlossenen Augen schickt er ein stilles Gebet zum Himmel: dass er bald ankommen möge, dass er nicht zu spät ist, dass sein jüngerer Bruder noch lebt.

      Die seit dem letzten Grenzübergang zurückgelegte Strecke ist ihm unendlich vorgekommen. Einen Begriff von Zeit hat er verloren. Meile um Meile sind sie über schlechte Landstraßen geholpert, durch eine braune, monotone Ackerlandschaft, nur von ein paar kleinen Dörfern unterbrochen, und das graue Wetter scheint sich niemals zu ändern.

      An der Wand gegenüber hängt ein kleiner, schräg stehender Spiegel, der in seinem goldfarbenen Rahmen bei jeder Bewegung erzittert. Eine Ecke ist abgesprungen, ein Stückchen fehlt. Einen Augenblick betrachtet er sich selbst und sieht ein graues Gesicht mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen, dunkle Augen unter einem langen Haarschopf, einen zerknitterten Hemdkragen über einer koksgrauen Brokatweste, deren Knöpfe geputzt werden müssten. In einem hastig dahingeworfenen Blick glaubt er den Abglanz seiner betrüblichen Geschichte zu erkennen: ein Mann Anfang dreißig, ältester Sohn einer Familie, die ihre beste Zeit schon längst hinter sich hat, Musiklehrer und ehemaliger Journalist einer inzwischen eingestellten Christiania-Zeitung, ein Mann, der sich eigentlich wünscht, sein Leben der Musik zu widmen, der aus der unbedeutenden Hauptstadt Christiania nach Bonn unterwegs ist, um seinen jüngeren Bruder zu pflegen, den bald sechsundzwanzig Jahre alten Künstler Hjalmar, der fieberkrank und mit einer weit fortgeschrittenen Tuberkulose in einer kleinen Wohnung in der fremden Stadt dahinsiecht.

      Halfdan wendet den Blick ab. Kalter Schweiß bedeckt seinen Rücken, das Hemd klebt daran. Mehrere Tage ist er unterwegs, ohne die Kleider gewechselt zu haben. In der Kutsche ist es eng, seine Knie schmerzen, aber das ist der Preis, den er für den schnellsten Transport über die letzte Wegstrecke nach Bonn bezahlen muss. Während er schlief, muss er falsch gelegen haben, sein Nacken ist steif.

      Die Gedanken an Betsy haben ihn begleitet. Jedes Wort, das sie sagte, als sie sich kurz vor seiner Abreise bei Welhaven begegneten, könnte er exakt wiederholen. Er sieht sie vor sich in dem dunkelgrünen Seidenkleid, das im Schein des Kaminfeuers so herrlich schimmerte. Er erinnert sich an ihr Lächeln, als sie auf dem Weg hinaus in die Winterkälte am Eingang stand, das Gesicht halb verborgen unter der weißen, mit Fuchspelz besetzten Kapuze. Sie hatte ihn angeblickt, als wollte sie bestätigen, dass er nicht bezweifeln dürfe, was sie denke, dass sie sich genauso sehr nach ihm sehne wie er nach ihr. Gleich nachdem sie sich verabschiedet hatten und er mit seiner Mutter den Schlittenspuren über den Drammensvei folgte, musste er daran denken. Er hatte den Arm seiner Mutter genommen, damit sie nicht ausrutschte, sie redete auf ihn ein, doch er konnte ihren Worten nicht folgen. Betsys Blick hatte fast beschwörend gewirkt, oder etwa nicht? Als warte sie nur auf seine Initiative. Doch er fühlte sich so schrecklich unbeholfen und schüchtern, schaffte es nicht, den ersten Schritt zu tun. Aber jetzt hat er sich entschieden. Sobald er nach Christiania zurückkehrt, wird er sich ein Herz fassen und sie um ihre Hand bitten.

      Herrgott. Er darf jetzt nicht daran denken. Die Kutsche nähert sich Bonn. Es geht um Hjalmar. Um ihn, der alles auf die Kunst gesetzt hat und mit so großen Hoffnungen davongefahren war, doch nun auf dem Sterbebett liegt.

      Mehr als eineinhalb Jahre sind vergangen, seit sie einander zuletzt gesehen haben. Jetzt spürt er wieder, wie sehr er Hjalmar vermisst hat. Niemand kann seinen jüngeren Bruder ersetzen. Halfdan musste sich nie erklären, Hjalmar kannte und verstand ihn. Und er hatte die Fähigkeit, die Gemüter zu beruhigen, wenn die Atmosphäre in der Familie zu angespannt war.

      Halfdan lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen. Wenn er bloß rechtzeitig ankommt! Wie in einem Traum hört er den Lärm der Stadt, in die sie gerade einfahren.

      Der Vorhang vor dem Kutschenfenster ist verblasst und hat einen hässlichen Fleck. Er zieht ihn zur Seite und schaut hinaus auf den Verkehr. Plötzlich wimmelt es von Pferden und Wagen, sie passieren ein Schild, das er knapp erkennen kann – Remigiuskirche –, er lehnt sich dicht an die Scheibe und erblickt den Kirchturm. Die Kutsche biegt ab, sie fahren dicht an einer Laterne vorbei, instinktiv zieht er den Kopf ein, fast scheint es, als würden sie sie streifen. Sie fahren in eine enge Gasse, die sich in schlechtem Zustand befindet. Die Wagenräder bewegen sich mühsam vorwärts.

      Dort ist das Rathaus mit der Rokokofassade, von der er schon gelesen hat, und gleich darauf erscheint der Marktplatz. Verflucht hat er dieses Fahrzeug, aber jetzt ist er erleichtert, dass er nur Zuschauer sein kann und sich nicht den Weg durch die chaotischen Menschenmassen bahnen muss. Einen Augenblick hält die Kutsche an, bevor sie sich an Marktbuden mit geschlachtetem Vieh und Brotkörben vorbeischiebt. Ein Straßenmusikant dreht die Kurbel seines Leierkastens, stimmt lauthals falsche Töne an und lässt sich weder von Marktfrauen noch streunenden Hunden stören. Was für ein Irrsinn!

      An einem Gasthof legt sich der Wagen in die Kurve und biegt nach links ab. Dort fließt der Rhein. Die Wolken hängen tief über den Hausdächern, es sieht nach Regen aus. Schließlich fahren sie langsamer. Die Pferde schnauben, die Kutsche hat angehalten. Für einen Augenblick kann sich Halfdan nicht rühren, obwohl er sich doch den ganzen Winter auf diesen Augenblick gefreut hat. Zu seiner Überraschung verspürt er den Drang, einfach sitzen zu bleiben. Weiterzufahren. Er möchte dem Kutscher sagen, dass es der falsche Ort ist. Doch dann öffnet sich die Wagentür, und die kalte Luft vom Fluss trifft ihn wie eine Ohrfeige. Der Kutscher blickt ihn erschöpft an und sagt, dass er aussteigen muss. Er ist am Ziel. Doch wie sieht es aus?

      Kurz danach steht er auf der Treppe eines Bonner Hauses, seine Hose ist zerknittert, der große Lederkoffer ist noch zerkratzter als bei Halfdans Abfahrt. Die Kutsche entfernt sich, rhythmisch schlagen die Pferdehufe auf das Pflaster, das Geräusch entfernt sich und erstirbt zum Schluss in all den anderen Lauten der lebendigen Stadt.

      Das Haus hat schon bessere Tage gesehen, es wirkt heruntergekommen. Der Putz bröckelt an verschiedenen Stellen ab. Im ersten Stock ist ein Fenster einen Spaltbreit geöffnet, der Zipfel einer grauweißen Gardine bewegt sich leicht. Ist das Hjalmars Schlafzimmer? Liegt er dort drinnen? Er widersteht dem plötzlichen Drang zu rufen. Nein, das wäre unpassend. Er klopft an die Tür, aber nichts geschieht. Die Türklinke aus Messing fühlt sich kalt an. Eigenartig, dass die Tür verschlossen ist. Sein Puls pocht heftig in den Schläfen. Ist er am Ende doch zum falschen Haus gekommen?

      In der Innentasche liegt der Zettel mit der Adresse. Den hat er seit der Abreise aus Christiania stets bei sich gehabt. Jetzt holt er ihn hervor und blickt auf die zierliche Handschrift des Bruders auf dem dünnen Briefpapier. Doch ja, die Hausnummer stimmt. Alles stimmt, die Fassade, der Fluss, der Baum draußen vor dem Fenster, an dessen Ästen sich bald grüne Knospen zeigen werden, die schmale Straße. Genauso war es in den Briefen beschrieben, genauso hatte er es vor sich gesehen.

      Er klopft noch einmal an die Tür. Lauter als vorher. Niemand öffnet. Er zieht seine Taschenuhr hervor, es ist mitten am Tag. Irgendwer muss doch zu Hause sein? Das Haus steht doch nicht leer?

      Natürlich wird er erwartet. Aber sie wissen nur, dass er von Christiania abgefahren ist. Die Reisezeit ist schwer vorhersehbar, selbstverständlich kann niemand wissen, dass er heute ankommen würde. Das ist die Erklärung. In der Regel hat alles eine natürliche Erklärung. Vielleicht ist der Doktor da und sie sind so beschäftigt, dass sie ihn nicht hören. Doch plötzlich überkommt es ihn. Könnte es sein, dass Hans Gude ihn nicht hereinlassen will?

      Vielleicht ist es so, wie er befürchtet hat. Hans muss voller Wut auf ihn sein. Halfdan hat versucht, den Gedanken zu verscheuchen, doch ohne Erfolg. Gleich nachdem er im Winter auf Hans’ Brief geantwortet hatte, war es ihm bewusst geworden. Als er im dichten Schneetreiben vom Postamt kam und über den Stortorg lief, erwog er einen Augenblick lang, umzukehren und den Brief zurückzuverlangen. Hatte er sich vielleicht etwas zu direkt ausgedrückt? Natürlich war die Wahrheit immer unangenehm, aber sollte

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