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noch gerade eben gehalten wird. Gleichzeitig brechen sie in Lachen aus, Hjalmar steht vornübergebeugt da und hält sich den Bauch, das ist so typisch für ihn. Er muss sich auf das feuchte Moos setzen.

      So ist es immer, wenn sie beide allein sind, wenn sie den Augenblick genießen können und Hjalmar sich sicher fühlt. Zu Hause ist er stets auf der Hut. Wie so oft ist Halfdan froh, dass er mit seinem jüngeren Bruder allein ist, dass sie trotz des Altersunterschiedes etwas Gemeinsames haben.

      »Komm jetzt, wir müssen weiter.«

      »Sind wir sehr verspätet, Halfdan? Jetzt wird Großvater bestimmt böse.«

      »Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch rechtzeitig.«

      Die Sonne steht jetzt tiefer am Himmel, aber sie sind fast zu Hause. Das letzte Stückchen rennen sie über den staubigen Weg, bis sie Grini vor sich erblicken, die wuchtigen Hofgebäude, das Wohnhaus, den Stall und die hellgrünen Felder, die sich nach Westen hin ausdehnen.

      Natürlich ist es Halfdan, der vorangehen muss. Vorsichtig öffnet er die Doppeltür zum Esszimmer und wird unmittelbar von der durchs Fenster scheinenden Abendsonne, von glitzerndem Kristall und blankgeputztem Silber geblendet.

      Inzwischen sind sie wieder zu Atem gekommen, die Herzen pochen nicht mehr so heftig. Als sie durch den Rosengarten liefen, schlug die Uhr. Hjalmar hatte die Abkürzung durch ein Beet genommen und sich in einem Dornenbusch verheddert, sein Hemd riss und bekam ein Loch. Mit schnellen Schritten erklommen sie die Treppe, streiften verdreckte Schuhe und feuchte Kleider ab, wuschen die schmutzigen Hände in der Waschschüssel und fuhren sich mit einem Kamm durchs Haar.

      Jetzt stehen sie in der Tür zum Esszimmer, direkt vor der schweigenden Versammlung. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, und Hjalmar verbirgt sich halbwegs hinter dem älteren Bruder.

      Halfdan schaut zum Großvater am Tischende, öffnet den Mund zu einer Erklärung, sie waren nur am Østernvann, haben geangelt, gebadet und die Zeit vergessen. Doch er bleibt stumm, denn das Gesicht des Großvaters ist ausdruckslos, offenbar ist eine Erklärung oder Entschuldigung gar nicht erwünscht. Ein strenger Blick auf die beiden leeren Plätze ist ein unausgesprochener Befehl. Leise setzen sie sich, Hjalmar neben Ida, deren Haar zu kunstvollen, von Bändern zusammengehaltenen Zöpfen geflochten ist, ein hübsches, etwas verwachsenes Kind mit ordentlich gefalteten Händen in einem rosa Seidenschoß.

      Halfdan nimmt seinen Platz neben Regnald ein, dem elfjährigen jüngeren Bruder. In seinem frisch gebügelten Hemd sitzt er mit ordentlich gekämmtem Haar brav am Tisch und beißt sich nervös auf die Unterlippe.

      Prüfend lässt Halfdan den Blick weiterwandern. Neben Regnald, am kurzen Tischende, sitzt die Mutter, ihr burgunderroter Mund ist zusammengekniffen. Sie sieht ihn warnend an und richtet ihre gehäkelte Stola, die kurz davor ist, von der Schulter zu gleiten. Und dann – ein winziges, entnervtes Zucken mit dem Kopf. Er weiß, was sie denkt. Dass die Jungen nie pünktlich sind und ihren Großvater stets reizen müssen. Aber freut sie sich denn nicht, sie zu sehen? Es ist doch kein Weltuntergang, wenn sie ein paar Minuten zu spät kommen zum Abendessen beim Großvater in Grini? Jetzt sitzen sie doch hier, beide wohlbehalten, nichts Schlimmes ist geschehen. Aber so denkt sie wohl nicht, das weiß er nur zu gut.

      Die Abendsonne fällt schräg ins Zimmer und lässt eine silbergraue Haarsträhne an ihrer Schläfe aufleuchten. Alle sagen, sie sei eine Schönheit. Aber fühlt sie sich alt? Seit einiger Zeit benutzt sie so viel Schminke, trägt so prachtvolle Kleider. In diesem Licht, vor der grünen Tapete mit Pfauen und Schlingpflanzen, sieht es aus, als wäre sie Teil einer Theaterinszenierung. Vielleicht hat sie auch Pläne für den Abend. Vielleicht gibt es ja eine Gesellschaft in Bogstad, Halfdan glaubt, dass es am Abend zuvor erwähnt wurde, gerade als sie angekommen waren und der Großvater im Garten Erfrischungen bereithielt. Als er kleiner war, hatte er Angst bekommen, wenn die Mutter plötzlich nicht mehr da war, wenn er spät am Abend wach wurde und merkte, dass sie nicht zu Hause war. Nach einer Weile ließen die Tränen nach, und das Kindermädchen brachte ihn wieder ins Bett.

      Am langen Ende des Tisches sitzen die beiden Kleinen mit dem Rücken zum Fenster. Axel ist sieben, mit allzu großen Schneidezähnen und einem neugierigen, zum Bersten gespannten Blick. Wo seid ihr gewesen, scheint er zu fragen? Neben Axel, gegenüber von Halfdan, sitzt Theodor mit dem hellblonden Haar und den prallen Gliedern, fast scheint es, als wäre einer der rundlichen Engel aus einem Gemälde des Großvaters herabgestiegen, zu Fleisch und Blut geworden und hätte sich der Gesellschaft angeschlossen. Damit allerdings endet auch die Ähnlichkeit mit überirdischen Wesen, denn gleich unter seinen Stirnlocken glüht der beleidigte Blick des Vierjährigen, der darauf hindeutet, dass vermutlich erst vor wenigen Minuten ein Wutausbruch stattgefunden hat. Theodor hat mehr Temperament als sie alle zusammen, doch ob es am Alter liegt oder einfach ein Teil seiner Persönlichkeit ist, lässt sich nur schwer einschätzen.

      An seiner Seite sitzt natürlich Dorthe. Sie ist schon so lange ihr Kindermädchen, wie Halfdan zurückdenken kann, eine entfernte Verwandte des Vaters aus Dänemark. Jetzt ist sie in fortgeschrittenem Alter und etwas runder, als es ihr stünde. Sie trägt das Haar unvorteilhaft in der Mitte gescheitelt. Die meiste Zeit ist sie mit Theodor beschäftigt. Unaufhaltsam jagt sie ihm nach, sie schwitzt und keucht und schimpft, je mehr sie sich aufregt, desto unverständlicher wird ihr Dänisch. Jetzt starrt sie Halfdan und Hjalmar resigniert an, als stünde ihre Berufsehre auf dem Spiel, jetzt, da alle sehen können, dass die Jungen das mit der Pünktlichkeit noch nicht begriffen haben.

      Halfdan sieht seinen Vater an. Der sitzt am Tisch, als wäre das völlig normal, und doch ist es eher überaschend. Eine Weile war er bettlägerig und hatte sogar in Erwägung gezogen, das Wochenende zu Hause in Bakkehus zu bleiben, doch kurz vor der Abreise ging es ihm besser. Rein physisch scheint er anwesend zu sein, zusammen mit ihnen, aber sein Blick ist fern und jetzt auch fieberglänzend. Und selbst wenn er bemerkt haben sollte, dass Halfdan und Hjalmar erst in letzter Sekunde gekommen sind, scheint es ihn doch nicht zu interessieren, er wirkt, als sehnte er sich zurück in seine friedliche Kammer, in die Stille mit weichen Federbetten und Samtvorhängen, die den Sommerabend aussperren.

      Halfdan wirft einen Blick auf den Großvater, der am Tischende thront. Über seiner glänzenden, hohen Stirn ist das Haar zurückgestrichen, seine Nase ist ausgeprägt wie bei einem Raubvogel. Niels Qvist Lasson aus Grini. König in seinem eigenen Reich. All die Geschichten, die er so lebhaft und einfühlsam erzählen kann, wenn er in rechter Stimmung ist. Über seine Vergangenheit als Pächter in Bogstad, über die enge Verbindung zu den Familien Anker und Collett. Weitschweifige Erzählungen aus ferner Vergangenheit, lange bevor Halfdan geboren wurde. Streng und kompromisslos ist er, aber auch großzügig, wenn es ihm passend erscheint.

      Großvater Lasson räuspert sich laut, alle Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn. Dann spricht er das Tischgebet, die Gläser werden gehoben, schweigend nickt man sich zu. Danach werden dampfende Suppenterrinen gebracht, eine Platte mit aufgeschnittener Entenbrust, Gemüse, Saucen. Die Stimmung lockert auf. Zwar muss Theodor noch einmal ermahnt werden, nimmt sich aber schließlich zusammen.

      Halfdan blickt zum Vater, der mit der großen Silbergabel schweigend in seinem Essen herumstochert. Die Mutter hat das erste Glas schon ausgetrunken, bekommt noch mehr von Großvaters selbst hergestelltem Wein eingeschenkt, der ihr anscheinend gut bekommt. Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt entspannter, ihr Blick fast versöhnlich, und da, nun lächelt sie sogar. Sie beugt sich zu ihm herüber.

      »Gott, es wurde aber auch Zeit, dass ihr kommt, Halfdan! Ich war so beunruhigt. Hjalmar ist ja schließlich kein besonders erfahrener Schwimmer, nicht wahr?«

      Unverhofft ergreift der Vater das Wort, so als wäre er plötzlich erwacht.

      »Die Gefahr besteht wohl nicht. Wenn er nicht unbedingt muss, würde der Junge ja nicht mal den großen Zeh in einen kalten Waldsee stecken.«

      Kaum hörbar lacht er über seinen Scherz.

      Hjalmar blickt auf seinen Teller.

      Der Großvater möchte wissen, welchen Waldweg sie genommen haben, ob sie jemandem begegnet sind und ob das Wasser kalt war. Wieder der entschlossene Blick, der belehrende Ton, als handle es sich um eine Lektion in der Kunst, ein Gespräch

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