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Nähe seiner Geschwister bleibt und Zuflucht bei Büchern oder Musik nimmt. Ihre Stimmungsschwankungen erschrecken ihn nicht mehr so sehr. Mit Hjalmar ist es anders. Er ist noch immer verletzlich, er wird ängstlich, sein Gesichtsausdruck wird unsicher, besonders dann, wenn er sich einbildet, er sei der Schuldige. Auch wenn er ganz offensichtlich nichts getan hat, was die Gefühle der Mutter verletzt haben könnte, scheint er nicht zur Ruhe zu kommen. Er versucht etwas zu sagen, bemüht sich, die Wogen zu glätten, als könne er die angespannte Stimmung nicht lange aushalten.

      Halfdan sieht zu Hjalmar hinüber, der am Fußende des Bettes sitzt und enttäuscht aussieht.

      »Vielleicht wird das Wetter ja später besser, Hjalmar. Und außerdem muss ich für das Hauskonzert üben.«

      Hjalmars Gesicht hellt sich auf. Offenbar hatte er das Konzert ganz vergessen, doch jetzt freut er sich darauf. Er liebt es, wenn die Mutter singt, doch am besten gefällt es ihm, Halfdan spielen zu hören. Niemand freut sich so sehr über sein Spiel wie Hjalmar, niemand hört so aufmerksam zu. Manchmal ist es Halfdan fast peinlich, zu hören, dass sein jüngerer Bruder ihn bei anderen lobt und sagt, er könne ein weltberühmter Pianist werden und ins Ausland reisen, wenn er älter ist.

      Halfdan ist nervös. Vielleicht konnte er deshalb letzte Nacht nicht so gut schlafen. Noch nie zuvor hat er eine seiner eigenen Kompositionen präsentiert, jetzt hat er drei neue Romanzen für Klavier geschrieben, recht kurz und vielleicht ein wenig einfach, aber der Großvater war begeistert, als er sie hörte, und wollte gleich alle zum Hauskonzert einladen. Großvater Lasson ist stolz auf ihn, das weiß er. Zufällig hat er Gespräche mit angehört über das seltene musikalische Talent, das die Natur ihm geschenkt hat. Es erfüllt ihn mit Freude, denn der Großvater verwendet ansonsten nur selten Superlative und ist nicht so ohne Weiteres zu beeindrucken.

      Wenn er doch nur von sich selbst ganz überzeugt wäre. Zeitweilig verspürt er eine schöpferische Kraft, die geradezu in den Fingern kribbelt, eine Energie, eine Freude, sich mit der Musik zu beschäftigen, er kann völlig in ihr aufgehen und ist unendlich dankbar, wenn ihm klar wird, dass er sie meistern kann. Im nächsten Augenblick allerdings, ohne dass er weiß, wodurch es ausgelöst wird, wird er von unbarmherziger Selbstkritik niedergestreckt. Er schämt sich, weil er sich in seiner eitlen und naiven Dummheit eingebildet hat, ein Künstler zu sein. Wie peinlich. Ja, vielleicht vermag er ein Klavier zu traktieren, ungefähr so, wie ein Handwerker ein Werkzeug verwendet, denn er hat sowohl die technischen Fähigkeiten als auch das Gehör. Aber gerade deswegen sollte er doch zuallererst wissen, dass Kunst zu erschaffen etwas ganz anderes erfordert.

      Die Gardine am Fenster flattert leicht. Eine niedrige dunkle Wolkendecke verbirgt die mit Fichten bewachsenen Hügel, und ein grauer Regenschleier hat sich über die Felder gelegt.

      Musiker. Ist er ein Musiker? Ist es das, was er will? Und wenn er nicht über die nötigen Fähigkeiten verfügt, was in Himmels Namen soll dann aus ihm werden?

      Wenngleich er selbst unsicher ist, so hat er doch bemerkt, dass andere die Antwort kennen. Halfdan soll Jurist werden. So wurde es über seinen Kopf hinweg beschlossen. Ihn selbst hat niemand gefragt, aber so lautet der elterliche Plan, sein Schulbesuch soll eine juristische Ausbildung zum Ziel haben, es ist wie ein Naturgesetz, eine Tatsache. Dass er die Schulfächer womöglich nicht mag, weil er sich davor graust, was ihn am Ende erwartet, ist ein Gedanke, der weder seinem Großvater noch seinen Eltern gekommen ist. Offenbar sind sie nur enttäuscht und manchmal auch gereizt, weil er die Prüfungen immer wieder aufs Neue ablegen muss. Auf Kosten von Großvater Lasson und in dem verzweifelten Versuch, ihn auf die rechte Bahn zu bringen, musste sogar ein Privatlehrer für Latein angeheuert werden. Doch die Verbkonjugationen sind genauso vergeblich wie all die Jahreszahlen, die er pauken soll und die ihn nie wirklich interessieren. Er fühlt sich gefangen, kann aber nicht entkommen. Nur die Musik hilft ihm, verschafft ihm den Raum, den er für sich braucht, und ein Gefühl des Erfolgs. Doch er räumt ihr zuviel Zeit ein und vernachlässigt die Fächer, die tatsächliche Anforderungen an ihn stellen.

      Hjalmar ist plötzlich hellwach, gut gelaunt und fröhlich. Er klettert aus dem Bett und schüttelt Regnald, der sich grunzend die Decke über den Kopf zieht und abweisend zur Wand hin dreht. Das alte Bett knirscht. Dann zieht Hjalmar ihm die Decke weg und springt im Nachthemd im Zimmer herum.

      »Hör auf!«, faucht Regnald und wirft ein Kissen nach ihm, das sein Ziel jedoch verfehlt und den Spiegel über der Kommode trifft. Er schwingt am Haken hin und her. Zum Glück fällt er nicht herunter, erst fasst sich Hjalmar erschrocken an den Mund, doch dann muss er lachen, steht da und hält sich den Bauch.

      Was für ein Chaos. Ebenso gut kann er aufstehen, Halfdan zieht den Bettvorhang zur Seite, während der Regen weiter an die Fensterscheibe trommelt.

      Beim Versteckspiel macht Halfdan nicht mit. Aus Prinzip. Das ist zu kindlich, schlichtweg unter seinem Niveau. Dass er nun doch mitspielt, liegt an Idas und Hjalmars unermüdlichem Gebettel, dem nicht nachlassenden Regen sowie der Tatsache, dass er die Stücke, die er morgen vorspielen soll, bereits mehr als genügend geübt hat. Der Roman, den er von zu Hause mitgebracht hat, ist schon durchgelesen.

      Die Erwachsenen sind mit den Vorbereitungen für das morgige Ereignis beschäftigt. Die Mutter schwirrt durch die Zimmer, gefolgt von Anna, der alten Haushälterin des Großvaters, sowie dem neu eingestellten Dienstmädchen. Alle laufen hinter der Mutter her und versuchen, die einander widersprechenden Anweisungen zu verstehen, nein, nicht da, Anna, stell die Gläser hier hin. Wie viele Stühle haben wir? Nein, auf keinen Fall dort, nicht so nah am Klavier, das musst du doch begreifen, alles muss weiter vorgezogen werden.

      Der Vater erwachte am Morgen mit erhöhtem Fieber und kräftigen Kopfschmerzen, niemand rechnet also heute mit ihm. Großvater Lasson hat nach dem Arzt schicken lassen, der einer seiner engsten Jagdkameraden ist und hoffentlich bald auftaucht trotz des trostlosen Wetters.

      Theodor ist mit Dorthe im Kinderzimmer, die anderen Geschwister schleichen sich davon. Halfdan glaubt, sie verspüren dasselbe wie er, einen Drang, der drückenden Atmosphäre im Haus zu entkommen. Er folgt ihnen in die Bibliothek, wo dunkelgrüne Samtvorhänge das Tageslicht aussperren. Der vertraute Duft von Großvaters Zigarren vermischt sich mit dem Geruch der staubigen Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichen, in Leder gebundene Gesetzeswerke, Enzyklopädien, deutsche und französische Romane, Äsops Fabeln, die Bibel, Landkarten – alles nach einem ausgeklügelten System geordnet, so stehen die Bücher schon über Generationen da.

      Als kleines Kind hatte er sich oftmals weggeschlichen, war in diesem dunklen Kabinett verschwunden, hatte über die Schulter geblickt und gehorcht, war behutsam mit den Fingern über Gegenstände gefahren, die er nicht berühren durfte, hatte den ausgestopften Hermelin mit den stierenden Glasaugen befühlt und die Marmorbüste, hatte vorsichtig die Holzkästchen auf Großvaters Schreibtisch geöffnet, verstohlen auf die Sammlung aus Vogeleiern, Käfern und Schmetterlingen geblickt, sich mit der großen türkisen Feder über die Wange gestrichen, hatte die Federhalter auf dem schmalen Brettchen gezählt und die kleinen, mit schwarzer Tinte gefüllten Glasfässchen, hatte an Zigarrenschachteln gerochen und die hübschen glatten Steine auf dem Rauchtisch berührt. Manchmal war er im Lehnstuhl sitzengeblieben, um die flämischen Malereien zu betrachten, hatte vor sich hingeträumt und sich vorgestellt, er sei einer der Bauernjungen, die dort, umgeben von Fasanen und Körben voller Äpfel, auf dem Hof standen. Aber das alles ist lange her.

      Jetzt sind die anderen hier, Ida, Regnald, Hjalmar und Axel. Alle wollen spielen, denn alles, was die Langeweile auf Abstand halten kann, ist herzlich willkommen. Hjalmar ist so aufgeregt, dass er nicht stillstehen kann, vor lauter Spannung trippelt er auf der Stelle herum. Halfdan muss lachen, er kann nicht anders, als ihm die Faust gegen die Schulter zu boxen, nicht fest, nur als Zeichen ihrer brüderlichen Verbundenheit. Hjalmar grinst und hält seine Hand fest, bettelt. Ja doch. Er wird bis hundert zählen. Nein, er wird nicht gucken.

      Ida klatscht in die Hände und ist trunken vor Vorfreude. In dem weißen, knöchellangen Sommerkleid wirkt sie plötzlich so erwachsen. Und doch verhält sie sich wie ein Kind, steht da und kichert, ihre Wagen werden rot. Sie ist bloß zwei Jahre jünger als er und seine einzige Schwester. Ida, die so oft krank gewesen ist. Er denkt zurück an all die Nächte, in denen er von den ernsten Stimmen der Erwachsenen

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