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außerdem werden französische Törtchen mit Eiercreme serviert. Die Erwachsenen bekommen goldenen Dessertwein, hergestellt aus Stachelbeeren vom letzten Jahr. Erdbeerkompott ist Hjalmars Lieblingsdessert. Halfdan späht zu seinem jüngeren Bruder hinüber, doch Hjalmar scheint es nicht zu bemerken, er sitzt nur schweigend da.

      Draußen hinter den hohen Fenstern ist der Hügelkamm im Westen zu einer dunklen Silhouette vor dem Abendhimmel geworden. Doch es ist Juni, und die Sommernächte sind hell. Endlich verkündet der Großvater, dass das Abendessen beendet ist und es Zeit wird, sich in den Salon zu begeben.

      Die Stühle schaben über den Fußboden, die jüngeren Geschwister lachen, schubsen einander herum und laufen in den Flur, Halfdan hört sie die Treppe hinaufstapfen. Anscheinend wollen sie das Geländer hinunterrutschen und oben in den Gängen Fangen spielen, sofern es niemand bemerkt. Die Chancen stehen gut, dass sie ihrem Treiben ungestört nachgehen können. Der Vater hat ganz und gar nicht gesund ausgesehen, er hat sich entschuldigt und ist verschwunden, wahrscheinlich hat er sich wieder hingelegt.

      Hjalmar bleibt ein wenig hinter den anderen zurück, er steht in der Tür, als wüsste er nicht so recht, was er nun anstellen soll. Halfdans Blick fällt auf die zarten Schultern des Bruders, Hjalmar wirkt so klein. Halfdan versetzt ihm einen Stoß, ganz leicht, eine spontane Aufmunterung. Hjalmar sieht ihn an und lächelt.

      Der Großvater und die Mutter sind in den Salon gegangen, um das Programm für das Hauskonzert zu besprechen, das in nur zwei Tagen stattfinden soll. Schon beim Dessert war die Diskussion in Gang gekommen, eigentlich nur Bagatellen, eine Uneinigkeit über die Reihenfolge, wie üblich hatten sich die Mutter und der Großvater aufgeregt. Aus dem Verhältnis der beiden wird Halfdan wohl niemals schlau werden. Wenn sie in den kommenden Tagen bloß friedlich bleiben. Er ist nervös vor dem Konzert, Krach und Streitereien, die alles nur schlimmer machen, sind das Letzte, was er jetzt braucht.

      Noch im Halbschlaf hört er den Sommerregen, das gleichmäßige Geräusch des Wassers, das an den Hauswänden herunterläuft, das Trommeln an den dünnen Fensterscheiben, das Geplätscher in der Dachrinne und die Tropfen, die in die Regentonne an der Hausecke und auf den Efeu fallen, der sich wie ein Urwald um das Fenster rankt. Bis hier hinein spürt er hinter den weißen Vorhängen die Feuchtigkeit im Bettzeug, den Geruch von feuchter Erde und regenschwerem Fichtenwald.

      Es ist Samstag. Mai und Juni sind so schnell vergangen. In nur wenigen Wochen werden die Abende dunkler, die Grashüpfer kommen und bald ist es Spätsommer. Wie unbarmherzig doch der kurze Sommer ist.

      Neben ihm liegt Hjalmar. Er schläft noch immer, friedlich, den Kopf auf die Hände gelegt. Auf dem Kissen ist ein dunkler Speichelfleck entstanden. Hjalmars Haut ist sommerbraun, sein Haar von der Sonne gebleicht. Oft wird gesagt, Hjalmar sei ein hübscher Junge, was er natürlich mit einem verächtlichen Schnauben quittiert, aber er ist es. Es ist etwas Besonderes an ihm, und das liegt nicht nur an den braunen Augen. Er hat das, was keiner der anderen hat, ja, abgesehen von Ida natürlich, aber sie ist ja schließlich ein Mädchen. Er strahlt etwas Sanftes aus, was dazu führt, dass man ihn beschützen möchte. Etwas Feines liegt in seinen Zügen. Halfdan hat es die anderen oft sagen hören, aber jetzt sieht er es selbst. Gleichzeitig ist Halfdan klar geworden, dass er vielleicht Hjalmars Gegenstück ist. Er betrachtet sein Gesicht im Spiegel und hofft, ein wenig Schönheit darin zu erkennen. Doch er sieht nur, dass die Nase zu groß und die Haut unrein ist, und dass sich ein heller Flaum auf Kinn und Oberlippe ausgebreitet hat. Alles an ihm wächst, doch leider nicht proportional. Seine Brust ändert langsam die Form, die Beine sind plötzlich lang und behaart, ganz zu schweigen von der fremdartigen Stimme, hell in einem und dunkel im nächsten Augenblick.

      Die dünne Decke ist von Hjalmars nackten Schultern gerutscht, aber das macht nichts, es ist warm.

      Wie immer teilen sie sich das Gästezimmer, Halfdan, Hjalmar und Regnald. Regnald liegt in dem Bett, das an der gegenüberliegenden Wand steht. Ein einfaches Bett vor der hellen Wandverkleidung. Halfdan und Hjalmar teilen sich das Himmelbett. Schon seit früher Kindheit war es so, als sie noch klein waren und er Geräusche hörte, die die Fantasie beflügelten. Manchmal war es der Wind, an späten Herbstabenden heulte er in dem alten Haus. Mitunter erschrak Halfdan vom Geräusch einer Bodendiele, die ohne Vorwarnung und völlig unerklärlich knackte, oder er sah eine Bewegung in den schweren Gardinen, Schatten, die zu Gestalten wurden. Dann stand er auf, lief mit nackten Füßen über den kalten Fußboden durch den Korridor, vorbei an all den Gemälden mit ihren Gesichtern. War da nicht eines, das ihm zuzwinkerte, Lippen, die sich bewegten? Er stürzte die Treppe hinunter zu den Erwachsenen in den Salon, wurde nach oben gebracht – wieder und wieder, bis beschlossen wurde, dass er das Zimmer mit seinen jüngeren Brüdern teilen sollte.

      Jetzt ist er fast fünfzehn und schämt sich für seine Furcht. Noch immer ist es so, die beiden anderen schlafen, doch er selbst liegt im Halbdunkel und hört ihre gleichmäßigen Atemzüge, er denkt nach, sieht Schatten an der Zimmerdecke, betrachtet die Quasten an den Vorhängen des Himmelbetts, zählt die Bretter in der Wandverkleidung hinter Regnalds Bett, lauscht den Stimmen unten oder dem Wind vor dem Fenster. Einmal glaubte er, ganz deutlich das Heulen eines Wolfs im Wald zu hören.

      Doch die Nähe der anderen beruhigt ihn, und jedes Mal, wenn sie nach Grini kommen und sich im Gästeflügel ausbreiten, werden sie auf genau die gleiche Weise verteilt. In den Augen der Eltern oder des Großvaters ist er wohl doch noch nicht erwachsen.

      Hjalmar rührt sich neben ihm, streckt die Arme über den Kopf und ist wach. Er späht umher und sieht müde aus, sein Haar steht in alle Richtungen ab.

      »Regnet es etwa?«, sagt er und setzt sich auf. »Typisch, wo ich doch so gern noch einmal in den Wald wollte. Jetzt dürfen wir bestimmt nicht ausgehen.«

      Er seufzt und wirkt enttäuscht.

      Hjalmar hat recht. Wenn es draußen nass ist, wird in der Regel streng darauf geachtet, dass sie sich im Haus aufhalten. Die Mutter ist davon überzeugt, dass feuchte Luft gesundheitsschädlich ist, ja, um jeden Preis müssten Nässe und Unterkühlung vermieden werden. Sogar die kleinste Erkältung könne zu ernsthaften Problemen führen, sagt die Mutter, und erinnert sie ständig daran, dass die Natur sie alle mit schwachen Lungen ausgerüstet hat. Nicht allein der Vater, sondern auch Ida war im Winter krank gewesen, mit Fieber und Hustenanfällen, die niemals wirklich nachließen. Glücklicherweise geht es Ida jetzt besser, der Vater allerdings kränkelt. Kaum wechselt er ein Wort mit den anderen, das Wenige, das er äußert, handelt meist davon, wie er sich fühlt. Inzwischen hat Halfdan gelernt, die Ohren zu verschließen.

      Auch er fühlt sich oft matt und antriebslos. Die Mutter behauptet, das liege an seinem Hang zum Grübeln. Sie spricht wohl aus Erfahrung. So lange er zurückdenken kann, hat die Mutter dunkle Phasen durchlebt. Er musste damit leben lernen, dass sie unkalkulierbar ist. Wie an jenem Septembertag vor langer Zeit, als er sieben Jahre alt wurde. Allzu früh war er erwacht, lauschte nach klirrenden Frühstücktabletts und flüsternden Stimmen im Gang, so aufgeregt, dass er nicht stillliegen konnte. Bald würden sie mit den Geschenken kommen und für ihn singen. Er hatte sich Zinnsoldaten gewünscht, solche, die er bei seinem Vetter gesehen hatte, und geglaubt, die Chancen stünden gut für die Erfüllung seines Wunsches. In den Wochen zuvor hatte er sehr darauf geachtet, gehorsam zu sein und seinen Pflichten nachzukommen, und war überzeugt, es sei nicht unbemerkt geblieben.

      Doch er bekam sie nie, denn die Mutter hatte sich mit dem Vater gestritten und wollte ihn mit einem Totalrückzug bestrafen. Eine Weile glaubten alle, sie sei nach Grini hinaufgefahren, doch dann wurde klar, dass sie sich wohl nur in einem der Gästezimmer oben eingeschlossen hatte.

      Der Vater war unfähig, eine morgendliche Geburtstagsüberraschung zu organisieren, und so wurde nichts daraus. Ida versuchte, Halfdan zu trösten, in der Küche hatte sie ein paar gefüllte Waffeln stiebitzt, auf einen kleinen Teller gelegt und auf den Nachttisch gestellt. Trotzdem brannte sich die Enttäuschung in sein Gedächtnis ein.

      Als kleiner Junge unternahm er alles Erdenkliche, um die Mutter froh zu machen. Einmal arbeitete er den halben Tag an einer Zeichnung von ihr mit all den kleinen Details. Dann wieder saß er stundenlang am Klavier und übte Stücke ein, bis er sie auswendig konnte, in der Hoffnung, sie wäre stolz auf ihn.

      Nach

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