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Verbrechen und Strafe. Fjodor Dostojewski
Читать онлайн.Название Verbrechen und Strafe
Год выпуска 0
isbn 9788726372038
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Raskolnikow nahm schweigend den deutschen Druckbogen hin, desgleichen auch die drei Rubel, und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Erstaunt sah ihm Rasumichin nach. Aber als Raskolnikow schon bis auf die Straße gekommen war, kehrte er plötzlich um, stieg wieder die Treppen zu Rasumichin hinauf, legte den Druckbogen und die drei Rubel auf den Tisch und entfernte sich wieder, ohne ein Wort zu sprechen.
„Hast du denn das Delirium?“ schrie Rasumichin, der nun schließlich doch wütend wurde. „Warum führst du hier so eine Komödie auf? Hast mich ordentlich wütend gemacht . . . Warum bist du denn dann eigentlich hergekommen, Mensch?“
„Ich brauche keine Übersetzungen“, murmelte Raskolnikow, während er schon die Treppe hinabstieg.
„Zum Kuckuck, was brauchst du denn?“ rief Rasumichin von oben.
Jener stieg schweigend weiter hinunter.
„Hör mal, du, wo wohnst du denn?“
Es erfolgte keine Antwort.
„Na, dann hol dich der Teufel!“
Aber Raskolnikow war schon auf der Straße. Auf der Nikolaus-Brücke gab es einen für ihn sehr unangenehmen Vorfall, der ihn wieder völlig zur Besinnung brachte. Der Kutscher einer Equipage verabreichte ihm einen gehörigen Schlag mit der Peitsche über den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten wäre, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angerufen hatte. Dieser Peitschenhieb versetzte ihn in eine solche Wut, daß er nach der Seite bis an das Geländer sprang (es war unverständlich, warum er ganz in der Mitte der Brücke gegangen war, auf dem für Wagen und nicht für Fußgänger bestimmten Raume) und ingrimmig mit den Zähnen knirschte. Die Passanten ringsherum lachten natürlich.
„Das war ihm ganz recht!“
„Gewiß eine abgefeimte Kanaille!“
„Natürlich, stellt sich betrunken, richtet es absichtlich so ein, daß er unter die Räder kommt, und unsereiner muß dann dafür aufkommen.“
„Das ist denen ihr Gewerbe, mein Lieber, das ist denen ihr Gewerbe.“
Aber in dem Augenblicke, als er am Geländer stand, sich den Rücken rieb und immer noch in sinnloser Wut der davonrollenden Equipage nachschaute, fühlte er auf einmal, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: es war eine schon ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und ziegenledernen Schuhen, und neben ihr stand ein junges Mädchen mit einem Hute und einem grünen Sonnenschirm, wahrscheinlich die Tochter. „Nimm, Väterchen, um Christi willen.“ Er nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Nach seinem Anzuge und seiner ganzen äußern Erscheinung hatten sie ihn wohl für einen richtigen Straßenbettler halten können, und daß sie ihm ein ganzes Zwanzigkopekenstück gegeben hatten, das hatte er jedenfalls dem Peitschenhiebe zu verdanken, der ihr Mitleid wachgerufen hatte.
Das Geldstück fest in der Hand haltend, ging er etwa zehn Schritt weiter und wandte sich mit dem Gesichte nach der Newa hin, in der Richtung nach dem Palaste. Am Himmel war auch nicht das kleinste Wölkchen zu sehen, und das Wasser hatte eine fast blaue Farbe, was bei der Newa nur selten vorkommt. Die Kuppel des Domes, die sich von keinem Punkte aus besser präsentiert, als wenn man auf dieser Brücke etwa zwanzig Schritt von der Brückenkapelle entfernt steht, leuchtete förmlich, und bei der reinen Luft war sogar jede einzelne kleine Verzierung deutlich zu erkennen. Der Schmerz von dem Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb bereits vergessen; ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und schaute lange mit starrem Blick in die Ferne; diese Stelle war ihm sehr bekannt. Als er noch die Universität besuchte, war er häufig, wohl hundertmal, namentlich auf dem Rückwege nach Hause, gerade an dieser Stelle stehengeblieben, um unverwandt dies wahrhaft großartige Panorama zu betrachten und sich fast jedesmal über ein unklares, undefinierbares Gefühl, das ihn bei diesem Anblicke überkam, zu wundern. Eine sonderbare Kälte wehte ihn immer von diesem großartigen Panorama an; nach seiner Empfindung lag eine Art von stummem, dumpfem Hauche über dieses prächtige Bild hingebreitet. Er wunderte sich jedesmal über diesen finstern, rätselhaften Eindruck, den es auf ihn machte, und verschob den Versuch, dieses Rätsel zu lösen, da er seiner eigenen Empfindung mißtraute, auf eine spätere Zeit. Jetzt erinnerte er sich auf einmal deutlich an diese Fragen und Zweifel, die ihn früher beschäftigt hatten, und es schien ihm, daß ihm diese Erinnerung nicht so ganz zufällig gekommen sei. Schon allein der Umstand kam ihm befremdend und wunderlich vor, daß er genau an derselben Stelle stehengeblieben war wie früher, als glaube er wirklich, daß er jetzt noch über denselben Gegenstand wie früher nachsinnen und sich für solche Themen und Bilder interessieren könne, wie sie ihn vor noch gar nicht so langer Zeit interessiert hatten. Dieser Gedanke brachte ihn beinahe zum Lachen und preßte ihm gleichzeitig schmerzlich die Brust zusammen. Ganz unten in einem Abgrunde, in einer kaum absehbaren Tiefe, lagen jetzt für ihn sein ganzes früheres Leben und seine früheren Interessen, Aufgaben, Probleme und Eindrücke und dieses ganze Panorama und er selbst und alles, alles . . . Es schien ihm, als fliege er aufwärts in eine ungewisse Ferne und als entschwinde alles seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung mit der Hand fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück, das er krampfhaft festhielt. Er öffnete die Hand, starrte die Münze an, holte aus und schleuderte sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Es war ihm, als hätte er in diesem Augenblicke wie mit einer Schere sich selbst von allen und von allem losgeschnitten.
Als er nach Hause kam, war es schon Abend; er mußte also im ganzen gegen sechs Stunden umhergewandert sein. Auf welchem Wege und wie er heimgegangen war, dafür hatte er keine Erinnerung. Er zog die Kleider aus und legte sich, am ganzen Leibe zitternd wie ein abgehetztes Pferd, auf das Sofa, deckte sich mit seinem Mantel zu und versank sofort in Bewußtlosigkeit.
Tief in der Nacht kam er von einem fürchterlichen Geschrei wieder zu sich. O Gott, was war das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen Töne, ein solches Geheul, Gewinsel, Zähneknirschen, solche Tränen, Schläge und Schimpfwörter hatte er noch nie gehört und gesehen. Eine solche Bestialität und Raserei hatte er überhaupt nie für menschenmöglich gehalten. Erschreckt richtete er sich auf und setzte sich in seinem Bette; das Herz drohte ihm jeden Augenblick vor Qual auszusetzen. Das Prügeln, Wimmern und Schimpfen wurde immer ärger. Da unterschied er auf einmal zu seinem höchsten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, winselte und jammerte, wobei sie die Worte so eilig und hastig hervorstieß, daß sie nicht zu verstehen waren; sie flehte um etwas, doch wohl, daß man aufhören möchte, sie zu schlagen; denn sie wurde ganz unbarmherzig auf der Treppe geprügelt. Die Stimme des Schlagenden war von Ingrimm und Wut so schrecklich entstellt, daß sie nur wie ein heiseres Röcheln klang; aber trotzdem redete auch er immerzu etwas und ebenso schnell, unverständlich, hastig und halb erstickt wie die Wirtin. Plötzlich fing Raskolnikow an wie Espenlaub zu zittern: er hatte diese Stimme erkannt: es war Ilja Petrowitschs Stimme. Ilja Petrowitsch war da und schlug die Wirtin! Er stieß sie mit den Füßen, er stieß ihren Kopf gegen die Stufen — das hörte man ganz deutlich an dem Geräusch, an dem Geheul, an dem Aufschlagen! Wie ging das zu? Hatte sich die Welt umgedreht? Man hörte, wie sich in allen Stockwerken eine Menge Menschen auf der Treppe ansammelte; Stimmen wurden laut, Ausrufe ertönten; es war ein Gelaufe und Herumtrampeln; Türen wurden zugeschlagen; alles rannte zusammen. ‚Aber was hat sie nur getan? Was hat sie nur getan? Und wie ist so etwas nur möglich?‘ fragte er sich und glaubte allen Ernstes, daß er verrückt geworden sei. Aber nein doch, er hörte alles nur zu deutlich! . . . ‚Also, wenn’s so ist, werden sie im nächsten Augenblick auch zu mir kommen; denn . . . jedenfalls ist das alles wegen derselben Sache . . . wegen der gestrigen Sache, . . . o Gott!‘ Er dachte daran, die Tür zuzuriegeln; aber er vermochte den Arm nicht zu heben,