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      Fjodor M. Dostojewski

      Verbrechen und Strafe

      Ein Roman in sechs Teilen

       mit einem Epilog

      Saga

      Verbrechen und Strafe ÜbersetztHermann Röhl Copyright © 1956, 2019 Fjodor M. Dostojewski und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726372038

      1. Ebook-Auflage, 2019

      Format: EPUB 2.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

ERSTER TEIL

      I

      An einem der ersten Tage des Juli — es herrschte eine gewaltige Hitze — verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S . . .-gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K . . . brücke ein.

      Einer Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe war er glücklich entgangen. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen, vierstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schranke als mit einer Wohnung. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer vermietet hatte und ihm auch das Mittagessen lieferte und die Bedienung besorgte, wohnte selbst eine Treppe tiefer, und jedesmal, wenn er das Haus verlassen wollte, mußte er notwendig auf der Treppe an ihrer Küche Vorbeigehen, deren Tür fast immer weit offen stand. Und jedesmal, wenn der junge Mann vorbeikam, ergriff ihn ein peinliches Gefühl der Feigheit, dessen er sich stirnrunzelnd schämte. Er steckte bei der Wirtin tief in Schulden und fürchtete sich deshalb davor, mit ihr zusammenzutreffen.

      Nicht daß Schüchternheit und Feigheit in seinem Charakter gelegen hätten; ganz im Gegenteil; aber er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustande, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie hatte. Er hatte sich derartig in sein eigenes Ich vergraben und sich von allen Menschen abgesondert, daß er sich schlechthin vor jeder Begegnung scheute, nicht nur vor einer Begegnung mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn völlig überwältigt; aber selbst diese bedrängte Lage empfand er in der letzten Zeit nicht mehr als lastenden Druck. Auf Brotarbeit hatte er ganz verzichtet; er hatte keine Lust mehr zu irgendwelcher Tätigkeit. In Wahrheit fürchtete er sich vor keiner Wirtin in der Welt, mochte sie gegen ihn im Schilde führen, was sie wollte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, allerlei Gewäsch über allen möglichen ihm ganz gleichgültigen Alltagskram, all diese Mahnungen ans Bezahlen, die Drohungen und Klagen anzuhören und dabei selbst sich herauszuwinden, sich zu entschuldigen, zu lügen — nein, da war es schon besser, wie eine Katze auf der Treppe vorbeizuschlüpfen und sich, ohne von jemand gesehen zu werden, flink davonzumachen.

      Übrigens war er diesmal, als er auf die Straße hinaustrat, selbst erstaunt darüber, daß er sich so vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin fürchtete.

      ,Eine so große Sache plane ich, und dabei fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten!‘ dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. ,Hm . . . ja . . . alles hat der Mensch in seiner Hand, und doch läßt man sich alles an der Nase Vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit . . . das ist schon so die allgemeine Regel . . . Merkwürdig: wovor fürchten die Menschen sich am meisten? Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritte, vor einem eignen neuen Worte . . . Übrigens schwatze ich viel zuviel. Darum handle ich auch nicht, weil ich soviel schwatze. Vielleicht aber liegt die Sache auch so: weil ich nicht handle, darum schwatze ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das Schwatzen gelernt, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lag und an weiß Gott was dachte. Nun also: wozu gehe ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführen? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiere mich nur mit einem müßigen Spiel der Gedanken; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!‘

      Auf der Straße war eine furchtbare Hitze; dazu noch die drückende Schwüle und das Gedränge; überall Kalkhaufen, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener besondere Sommergestank, den jeder Petersburger, soweit er nicht in der Lage ist, in die Sommerfrische zu gehen, so gut kennt. All dies zerrte plötzlich auf das unangenehmste an den ohnehin schon reizbaren Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Dunst aus den gerade in diesem Stadtteile besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, auf die man trotz Werktag und Arbeitszeit fortwährend stieß, vollendeten das widerwärtige, traurige Kolorit dieses Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Ekels spielte einen Augenblick auf den feinen Zügen des jungen Mannes. (Um dies beiläufig zu erwähnen: er hatte ein ungewöhnlich hübsches Äußeres, schöne, dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war über Mittelgröße, schlank und wohlgebaut.) Aber bald versank er in tiefes Nachdenken oder, richtiger gesagt, in eine Art von Geistesabwesenheit und schritt nun einher, ohne seine Umgebung wahrzunehmen; ja, er wollte sie gar nicht wahrnehmen. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, zufolge jener Neigung, mit sich selbst zu reden, die er sich soeben selbst eingestanden hatte. Gleichzeitig kam ihm auch zum Bewußtsein, daß seine Gedanken sich zeitweilig verwirrten und daß er sehr schwach war: dies war schon der zweite Tag, daß er so gut wie nichts gegessen hatte.

      Er war so schlecht gekleidet, daß ein anderer, selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte, bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Übrigens war dieser Stadtteil von der Art, daß es schwer war, durch die Kleidung hier jemand in Verwunderung zu versetzen. Die Nähe des Heumarktes 1 , die übergroße Zahl gewisser Häuser und ganz besonders die Fabrikarbeiter- und Handwerkerbevölkerung, die sich in diesen inneren Straßen und Gassen von Petersburg zusammendrängte, brachten mitunter in das Gesamtbild einen so starken Prozentsatz derartiger Gestalten hinein, daß es sonderbar gewesen wäre, wenn man sich bei der Begegnung mit einer einzelnen solchen Figur hätte wundern wollen. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel ingrimmige Verachtung angesammelt, daß er trotz all seiner mitunter stark jünglingshaften Empfindlichkeit sich seiner Lumpen auf der Straße nicht mehr schämte. Anders beim Zusammentreffen mit irgendwelchen Bekannten oder mit früheren Kommilitonen, denen er überhaupt nicht gern begegnete . . . Als indessen ein Betrunkener, der gerade in einem großen Bauernwagen mit einem mächtigen Lastpferde davor auf der Straße irgendwohin transportiert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: „He, du! Hast’nen deutschen Deckel auf dem Kopf!“,aus vollem Halse zu brüllen anfing und mit der Hand auf ihn zeigte: da blieb der junge Mann stehen und griff mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Hute. Es war ein hoher, runder Hut, aus dem Hutgeschäft von Zimmermann, aber schon ganz abgenutzt, völlig fuchsig, ganz voller Löcher und Flecke, ohne Krempe und in greulichster Weise eingeknickt. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sich seiner bemächtigte, eine Art Schreck.

      ,Hab ich’s doch gewußt!‘ murmelte er bestürzt. ,Hab ich’s mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig . . . Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran . . . Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muß man möglichst unauffällig sein, . . . die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles . . .‘

      Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das „grauenhafte“ Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten,

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