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den Tatsachen entspricht, ist zwar berechtigt, verfehlt aber ein Wesentliches der Flaubertschen Lebenswirklichkeit: Für ihn war das Schreiben selbst zum Erleben geworden. Dass er mit diesem Bilde der hoffnungslos geliebten Frau einer alten Tradition folgte, war dem Leser und Kenner Flaubert selbstverständlich bekannt; in seiner Konsequenz zeichnete er aber bereits jetzt eine Erfahrung, die dann Marcel Proust für die Moderne kanonisch machte: die Erinnerung als eigentlichen Kristallisationspunkt der Erfahrung. Als der Erzähler ein Jahr später zurückkehrt an den Strand von Trouville und Maria dort nicht wiederfindet, überlässt er sich einem überwältigenden Gefühl, gemischt aus Trauer, Verzweiflung und Wollust: »Als ich mich niederließ auf dem Gras und sah, wie die Halme sich unter dem Winde beugten und die Wellen auf den Strand rollten, da dachte ich an sie, und in meinem Herzen erschuf ich von neuem all jene Szenen, in denen sie gehandelt, gesprochen hatte. Diese Erinnerungen waren Leidenschaft.« »Ces souvenirs étaient une passion« – eine Passion, die im unübersetzbaren Doppelsinn des Lateinischen Leiden ist und Leidenschaft.

      Die Begegnung mit Maria ist die einzige längere Passage der Mémoires, die im anekdotischen Sinne so etwas besitzt wie eine konsistente Handlung; der größte Teil des Textes besteht dagegen aus Reflexionen, Invokationen, inneren Monologen des Erzählers, der seine Stimmungen so intensiv wie möglich auf Papier festzuhalten sucht. Hier findet sich der junge Flaubert unmittelbarer als in jedem anderen Werk; der metaphysische Weltschmerz des Erzähler-Ich ist ganz offenkundig derselbe, den man auch aus Flauberts Briefen kennt. Hier liegt aber auch die Schwäche dieses ersten ausgeführten Versuchs zu einem umfangreichen Text: Die Überhöhung zum metaphysischen Weltschmerz und die pseudo-philosophischen Grundsatzfragen nach dem »Sinn des Lebens« verstärken diese Liebesgeschichte nicht, sie schwächen sie ab, und die proustische Verwandlung in Erinnerung kann nicht gelingen, wenn die Ereignisse in der Realität erst zwei Jahre zurückliegen. Flaubert antizipierte eine Erfahrung, die er nicht haben konnte: »O Maria, Maria, geliebter Engel meiner Jugend, du, die ich erblickt habe in der Frische meiner Jugend«, das sind die Worte eines Siebzehnjährigen über eine zwei Jahre zurückliegende Begegnung, die er in den Sommerferien immer noch zu wiederholen hofft, und sie können nicht anders sein als durchtränkt von Pose und Klischee. Noch fehlt Flaubert das genaue Bewusstsein für die Balance von Handlung und Reflexion, von Realismus und Überhöhung; noch weiß er nicht umzugehen mit seiner wirklichen und seiner imaginierten Erfahrung, und noch fehlt ihm die sprachliche Selbstkontrolle, die ihm bereits in Novembre, vier Jahre später, die Entgleisungen der Mémoires verbieten wird.

      Im autobiographischen Gehalt scheint Novembre an die Mémoires anzuschließen, denn hier wird in der Begegnung mit Eulalie Foucauld das auf Élisa Schlésinger folgende Kapitel aus Flauberts eigener Éducation sentimentale erzählt. Der entscheidende Schritt aber liegt anderswo: In der Art, wie Flaubert seine Geschichte erzählt, vollzieht sich der Abschied von seinen romantischen Jugendwerken. Eulalie ist zwar tatsächlich die zweite Frau in Gustave Flauberts Leben; als Marie, als die literarische Gestalt, zu der ihr Liebhaber sie macht, wird sie in seinem Werk jedoch etwas vollkommen Neues. Der Erzähler von Novembre beginnt mit dem schon gewohnten Weltschmerz und Ekel des jungen Mannes, bevor er auch hier zur Liebesgeschichte gelangt, als eigentlichem Zentrum des »Romans« – so hat Flaubert laut dem Tagebuch der Goncourts Novembre selbst genannt. Maria in den Mémoires folgte noch ganz dem romantischen Wunschbild der vergeblich geliebten, angebeteten, unerreichbaren, aber gerade deshalb zu jeder erinnernden Verklärung prädestinierten Frau; Marie in Novembre ist eine Prostituierte, mit der ein junger Mann zum ersten Mal die körperliche Lust erlebt. Naturgemäß enthält auch die Gestalt der Marie, von den Goncourts nicht grundlos »putain idéale« genannt, höchst romantische Züge; die eingeschaltete autobiographische Erzählung Maries geht nicht aus von wirklicher Erfahrung, sondern von der typisierten, idealisierenden, geradezu synthetischen Vorstellung einer gleichsam philosophischen Prostituierten, die durch ihre nymphomanische Sinnlichkeit, durch einen unstillbaren sexuellen Erfahrungshunger unfähig geworden sei zu wirklicher Liebe. Es gibt keinen weiteren Text von Flauberts Hand, in dem die Reste literarischer, romantischer Klischees so unmittelbar dastehen neben den analytischen, klaren Passagen des reifen Schriftstellers. In den Mémoires gibt es eine Angebetete, deren eigentlicher Reiz ihre Unerreichbarkeit ist, und die Phantasien von Leiden und Schmerz des Liebenden; Novembre dagegen ist die analytische Zergliederung zweier Psychen und, mehr noch, ihrer äußeren Lebensumstände. Jedoch als Analyse des entstehenden sexuellen Verlangens in der Pubertät ist dieses unveröffentlichte Jugendwerk in der ganzen Literatur seiner Zeit wohl ohne Beispiel. Von Anfang an das Nebeneinander: Steht dort auch wieder die bekannte Verfluchung der korrupten, verfaulten Gegenwart, so spürt Flaubert nun doch, dass seine Kritik sich nicht beschränken kann auf die immer neue Überbietung der Metaphern von Fäulnis und Verfall. Die »totale Zerstörung«, von der er träumt, lässt sich nicht bewerkstelligen durch rituelle Invektiven und romantischen Überschwang. Wonach er sucht, das ist zum ersten Mal das Instrumentarium der Madame Bovary, die Analyse und der Stil.

      Der Erzähler und Marie sind nicht länger selbstverständliche Hauptfiguren, deren Charakter einfach vorausgesetzt wird; vielmehr besteht der innerste Kern der Erzählung in der Suche nach den Umständen, die beide vorwärtsgetrieben haben bis zu dem entscheidenden Augenblick. Wie wird man Prostituierte? Die Frage nach der Entwicklung der Figuren wird zum eigentlichen Impuls. Ja, sie geht noch weiter: Wie entsteht das Bild von Liebe, Sinnlichkeit, Leidenschaft, das Marie durch alle gesellschaftlichen Klassen treibt? In Novembre nimmt Flaubert zum ersten Mal konsequent Abschied von der gewöhnlichen Vorstellung einer gleichsam natürlichen, voraussetzungslosen Liebe, und zum ersten Mal skizziert er die Idee, dass einer sich an gängigen Klischeebildern von der Liebe nicht nur berauschen kann, sondern sogar vergiften. Marie pflegt den massenhaften Konsum populärer Romane, und Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre, dessen Lektüre sie eines Tages mit Emma Bovary teilen wird, hat sie gar hundertmal verschlungen. Die Folgen sind verheerend. Ein weiteres sehr reales Phänomen findet Eingang in die Literatur: »Seit damals gab es für mich ein Wort, das unter den menschlichen Worten das schönste schien: Ehebruch [adultère], eine auserlesene Süße schwebt undeutlich über ihm, ein einzigartiger Zauber ziert es; jede Bewegung, die man macht, sagt es und kommentiert es auf ewig für das Herz des jungen Mannes, er berauscht sich ohne Ende, er findet darin die höchste Poesie, eine Mischung aus Verdammnis und Lust.« Das geheime Schlüsselwort der vergeblichen Liebe zu Élisa, inzwischen verheiratete Madame Maurice Schlésinger, hier wird es ausgesprochen. Der reale Wunsch, der in den verklärenden Mémoires nicht genannt werden durfte, hier offenbart er seine ganze Faszination. In einer entscheidenden Passage setzt der Erzähler seine und Maries Éducations sentimentales in einer gewagten Wendung gleich: »Ohne uns zu kennen, waren wir beide, sie in ihrer Prostitution und ich in meiner Keuschheit, den gleichen Weg gegangen, bis an den gleichen Abgrund«. Die Vereinigung von Keuschheit und Prostitution jedoch ist das Siegel des Heiligen. Große Heiligengestalten allein, Frauen und Männer, sind zu dem imstande, wofür in der abendländischen Kultur die Confessiones des heiligen Augustinus das kanonische Exempel sind. Flaubert jedoch, der kein Heiliger war und nicht einmal Christ, fasziniert etwas anderes an dieser Denkfigur, die jenseits der Grenze von Moral zu finden ist: Beide Figuren haben die Regeln der lauen Bürgerlichkeit seiner Epoche radikal und ohne Umkehr überschritten. Wer die Familie, deren Endzweck die Fortpflanzung ist und somit die Weiterexistenz des Menschengeschlechtes, zerstören will und nicht gerade zum Mord greift wie in Passion et vertu und »Quidquid volueris«, dem sind Ehebruch, Prostitution und Keuschheit die einschlägigen Mittel. Alles ist dem recht, der den Gesellschafts- und Generationenvertrag kündigen will, und an der Weiterexistenz des Menschengeschlechts nahm auch der empirische Flaubert nicht den geringsten praktischen oder theoretischen Anteil.

      »Fragments de style quelconque«, »Fragmente im Allerweltsstil«, nannte Flaubert seinen Roman im Untertitel, und man kann sicher sein, der Sinn dieser Aussage ist sein gerades Gegenteil. In jenem Brief an Gourgaud-Dugazon vom 22. Januar 1842, mit dem er Novembre ankündigt, hatte er gerade diesen Roman zur entscheidenden Talentprobe erklärt: »Ich werde alles hineinlegen, was ich an Stil, Leidenschaft, Geist hineinlegen kann, und dann sehen wir«, und fortgesetzt: »Die Handlung ist völlig belanglos. Ich könnte Ihnen keine Analyse von ihr machen, denn sie besteht selbst nur aus psychologischen Analysen und Sektionen.« Der außerordentliche Rang dieser

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