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schmücken. Man sieht die Landschaft in Rot, Blau, Gelb. Die Langeweile [ennui] ist genauso. Die schönsten Dinge nehmen, durch sie hindurch betrachtet, ihre Farbe an und spiegeln ihre Traurigkeit.« Zum ersten Mal formuliert Flaubert das Bewusstsein, dass der Lebensüberdruss seiner Epoche, der »ennui moderne«, dass die »moderne Langeweile« etwas substantiell anderes ist als »die gewöhnliche, banale«; zum ersten Mal auch bekommt das Attribut des »Modernen« seine ganz spezifische, also nicht nur chronologische Bedeutung. Schon immer gab es in Flauberts Briefen und Schriften diese zwei Konstanten: Langeweile und Bürgerhass; jetzt beginnt er beide in ihrem essentiellen Zusammenhang zu sehen, und er wird diese Sicht teilen mit den bedeutendsten Dichtern seiner Zeit.

      Man wird dem Phänomen des »ennui moderne« kaum gerecht, hält man sich nicht das entscheidende Phänomen der Gesellschaftsentwicklung im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts vor Augen: Nur wenige Jahrzehnte nach dem Umsturz der Großen Revolution von 1789, jenem Ereignis, das nicht nur die gesamte europäische, ja, zivilisierte Mitwelt in den Fundamenten erschüttert, sondern die grundlegenden politischen Konflikte bis ans Ende des zwanzigsten vorzeichnet, nach dieser entscheidenden, säkularen Manifestation des historischen Optimismus ist das Grundgefühl einer ganzen Gesellschaft und ihrer Kultur der Ennui. Aus der Revolution entwickelt sich in der Lebenszeit nur einer einzigen Generation, über Terreur, Bonapartismus, Kaiserreich und Restauration, eine Gesellschaft, die den 89-er Impuls ganz und gar erstickt. Die rhythmische Wiederkehr von Revolutionen und Restaurationen, der Wechsel von Regierungs- und Staatsformen, die das gesamte französische Jahrhundert prägt, ist Zeichen für das, was auch aus der bedeutenden Literatur der Epoche spricht: Es gelingt der französischen Moderne nicht, die tiefe gesellschaftliche Wunde der Revolution zu heilen, der Verbürgerlichung der Gesellschaft eine adäquate politische Form zu geben und, darüber hinaus, anzuknüpfen an eine symbolische Ordnung des Politischen, wie in Revolution und Bonapartismus. Napoleons Empire leitete seine Rechtfertigung auf symbolischer Ebene ab aus dem Rückbezug auf das römische Imperium; das Frankreich der Restauration versuchte gleiches durch die inszenierte Wiederherstellung der legitimistischen Rituale der Bourbonen, mit dem Höhepunkt der Krönung und Salbung Karls X. am 29. Mai 1825 in Reims. Die Julimonarchie des Bürgerkönigs Louis-Philippe konnte sogar eine fragile symbolische, ästhetische Selbst-Apotheose nicht mehr finden. In seinem Brief an Louis de Cormenin schreibt Flaubert weiter: »Verwechseln wir nicht das Gähnen des Bürgers vor Homer mit der intensiven und fast schmerzhaften Träumerei im Herzen des Dichters, wenn er sich an den Kolossen misst und verzweifelt sagt: O altitudo! Daher bewundere ich Nero: Dieser Mann ist der Gipfel der antiken Welt!« Und nur wenig weiter: »Sprechen Sie mir nicht von den modernen Zeiten, wenn es um das Grandiose geht. Es gibt nicht so viel davon, um auch nur die Vorstellungskraft des letzten Feuilletonisten zu befriedigen.« Revolution und napoleonisches Empire waren die letzten Manifestationen dieses »Grandiosen«; der historische Katzenjammer von Restauration und Julimonarchie ist der Ennui.

      Der gewaltige Fortschritt der Éducation sentimentale von 1845 zeigt sich in der genauen Analyse dieser Verhältnisse. Flaubert hat jene Phase, in der ihm Literatur, besonders die autobiographisch geprägte, unmittelbarer Ausdruck seines eigenen Fühlens und Erlebens war, hinter sich gelassen, und aus diesem Grunde liest man die Éducation auch nicht mehr im selben Verstande wie die Mémoires d’un fou und Novembre als ausschließlich autobiographischen Roman. Der Zuwachs an Objektivität zeigt sich vor allem auch literarisch: durch größere Beherrschung, bewusstere Gestaltung des Stoffs, durch die analytische Distanz den Figuren gegenüber, nicht zuletzt durch die Transponierung in die dritte Person und die Aufspaltung nur einer Hauptfigur in die beiden Freunde Henry und Jules. Flaubert gelingen zum ersten Mal Passagen von wirklicher Perfektion und Genialität: Das sechsundzwanzigste Kapitel, die Begegnung von Jules mit einem streunenden Hund, ist in seiner Dichte und Gegenwärtigkeit, in seiner latenten Bedrohung unübertrefflich. In Kapiteln dieser Art erzeugt Flaubert zum ersten Mal die vollkommene Synthese von Sprache, Bild, Bedeutung, die den großen Romancier ausmacht. Das Aug-in-Auge des Individuums mit dem Hund, unheimlich, stumm und fremd, ist aufs äußerste angespannt durch einen inneren Bedeutungsüberschuss – ohne dass dieser jedoch einfach in eine rationale Sprache zu übersetzen wäre. Hier, aber auch in einigen Szenen zwischen Henry und Madame Renaud, in der psychologischen Analyse von Henrys wachsender Leidenschaft, erreicht Flaubert tatsächlich einen Höhepunkt der Meisterschaft, der dem reifen Werk in nichts mehr nachsteht und der nicht mehr zu überbieten sein wird. Der Mangel dieser frühen Éducation sentimentale liegt an einer anderen Stelle.

      Nie ist die französische Literatur dem idealistischen Bildungsroman Deutschlands so nahe gekommen wie mit Flauberts Éducation sentimentale, dem großen Meisterwerk des Jahres 1869. Doch bereits die Éducation von 1845 versucht sich in der gleichen Richtung; der Roman erzählt den Prozess einer solchen Erziehung des Charakters als den Abschied von jugendlichen, romantischen Tagträumereien, erzählt ihn als Lehrjahre hin zu nüchterner, erwachsener Männlichkeit, mit einem Wort: als Desillusionierung. Jules und Henry haben ihre »éducation« in dem Augenblick vollendet, da sie sich die Hörner abgestoßen und sich mit ihrem Wünschen und Meinen in die bestehenden Verhältnisse eingefügt haben, da ihre romantischen Jugendlieben hinter ihnen liegen und sie, als Dichter der eine, als erfolgreicher Politiker der andere, ihre eigene Individualität und Existenz nicht mehr über Liebe, Herz oder Gefühl definieren. Die langen Schlusskapitel nach Henrys Rückkehr in die Heimat dokumentieren Flauberts Kampf mit diesem Problem: Die Liebe des Studenten Henry zu der verheirateten Madame Renaud gehört noch ganz zu der illusionären, schwärmerischen Romantik, die auch Novembre durchdrang; sie hat alles andere aus seinem Alltag verdrängt, seinen Bildungsroman zu einem Liebesroman gemacht, und der Zufall, dass Madame Renaud seinem Werben nachgibt, ermöglicht nun doch die romantische Tat par excellence: die Flucht des ungleichen Paares nach Amerika. Hier erst, durch die triviale Macht des Lebensalltags, lässt Flaubert die Desillusionierung beginnen, und als beide die Rückkehr nach Paris beschließen, da geschieht das beinahe nebenher, am Ende eines langsamen, fast unbemerkten und eher beiläufig registrierten Erosionsprozesses. Die Romantik stirbt keinen Heldentod mit großem Knall, sie stirbt ab, gerade einmal mit einem Seufzer. Dramatische Peripetien werden konsequent vermieden: Madame Renaud kehrt zurück zu ihrem Gatten, Henry widmet sich, vernünftig, das heißt pragmatisch, konventionell und bürgerlich geworden, seiner Berufslaufbahn und einer reichen Heirat.

      Flaubert jedoch erzählt seine Éducation sentimentale 1845 vor allem als Liebesroman – im gleichen Moment, da der Roman überall erkennen lässt, dass er immer stärker hinstrebt zu einer Analyse gerade der anderen starken Kräfte, die solche lebensgeschichtlichen Lehrjahre prägen. Flaubert, in seinem Hass auf die mittelmäßige, dem »Grandiosen« feindliche und vom Ennui besessene moderne Gegenwart, spürt, vermag aber noch nicht zu gestalten, dass ein unversöhnlicher Gegensatz besteht zwischen der autonomen erotischen Leidenschaft und der pragmatischen, enggewordenen Welt, in der sie keinen Raum mehr findet. Nach Passion et vertu ist die Geschichte von Madame Renaud und Henry der zweite Anlauf Flauberts, die leidenschaftliche Liebe als Ehebruch zu erzählen, und in beiden Fällen, mit Mazzas Mord an ihrer Familie wie jetzt mit der Flucht auf dem Segelschiff ins Traumland Amerika, führt der Casus zu einigermaßen dramatischen, romantischen Konsequenzen. Doch so wie die »ideale Hure« aus Novembre für immer aus Flauberts Werk verschwand, so auch der Ehebruch in seiner literarischen, romantischen Gestalt, welche der Wirklichkeit der französischen Familie des neunzehnten Jahrhunderts einfach nicht mehr entsprach; es sollte nicht mehr lange dauern, bis Flaubert die trivialen Konsequenzen des zeitgenössischen Ehebruchs zeichnen sollte. Gerade der Begriff des »ennui moderne« enthält bereits eine Vorstellung, dass Gefühle nicht autonom sind, sondern äußeren Kräften und historischer Veränderung unterworfen. Die Dominanz des Erotischen ist also das letzte Relikt der Jugendschriften und der eigenen Jugend ihres Autors. Der Flaubert der Éducation sentimentale von 1845 beginnt seine Analyse der Gegenwartsgesellschaft erst zu bilden, und die eigene, individuelle Erfahrung des Vierundzwanzigjährigen ist eben immer noch ganz beschränkt auf das Erotische. Auch so könnte man es sagen: Um zu dem zu kommen, was in der frühen Éducation avant la lettre angelegt ist, fehlte dem Autor wie dem Buch noch die Klimax der politischen Desillusion, also die Revolution von 1848 und ihr Scheitern.

      Es gibt eine bemerkenswerte Stelle, die beweist, wie genau Flaubert sich die Veränderungen im Gefühlshaushalt

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