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1857. Wolfgang Matz
Читать онлайн.Название 1857
Год выпуска 0
isbn 9783835345911
Автор произведения Wolfgang Matz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wolfgang Matz
1857
Flaubert, Baudelaire, Stifter:
Die Entdeckung
der modernen Literatur
Reinold Werner zum Gedächtnis
Essen 1943 – Paris 2002
Wenn ein Mensch dahin ist,
nimmt er ein Geheimnis mit sich:
wie es ihm, gerade ihm –
im geistigen Sinne zu leben möglich gewesen sei.
Hugo von Hofmannsthal
Inhalt
ERSTER TEIL Der unästhetische und der ästhetische Zustand Drei Leben und ihre Bücher
ZWEITER TEIL Der Heilige des Romans Gustave Flaubert und Madame Bovary
ERSTES KAPITEL Denker und Demoralisator
ZWEITES KAPITEL Die Liebende aller Romane
DRITTES KAPITEL Das Jahrhundert der Huren
DRITTER TEIL Der Märtyrer der Poesie Charles Baudelaire und Les Fleurs du Mal
ERSTES KAPITEL Der Bauer von Paris
ZWEITES KAPITEL Et Caro verbum facta est
DRITTES KAPITEL Große Barbarei mit Gasbeleuchtung
VIERTER TEIL Der König von Polen Adalbert Stifter und Der Nachsommer
ERSTES KAPITEL Einer aus Goethes Verwandtschaft
ZWEITES KAPITEL Künstliche Paradiese und Sitten in der Provinz
FÜNFTER TEIL Nur Narr! Nur Dichter! Drei Bücher und ihr Leser
ERSTER TEIL
Der unästhetische und der ästhetische Zustand
Drei Leben und ihre Bücher
Der Autor und sein Bild
Henri Beyle, als Romancier bekannt unter seinem Nom de plume Stendhal, ist der letzte große Autor des neunzehnten Jahrhunderts, von dem keine Photographie existiert. Balzac, Nerval, Flaubert und Stifter wurden photographiert, Chateaubriand, Novalis und Goethe nicht. Der alte Eichendorff, ein Dichter, so tief verwurzelt in einer vormodernen Welt, erscheint auf mehreren Porträtaufnahmen, der Dandy Baudelaire noch um vieles öfter, doch er hasste die neue Technik. Dass Heinrich Heine im Paris Nadars ein gemalter Dichter blieb, liegt wohl vor allem an seinem elenden Dasein in der Matratzengruft. Beyle lebte von 1783 bis 1842, Balzac von 1799 bis 1850, doch der Abstand, der die beiden voneinander trennt, scheint um einiges größer als der pure Abstand dieser wenigen Jahre. Über die Geschichte und die Ästhetik der Photographie ist viel geschrieben worden, doch nicht darum soll es hier gehen; nicht die photographischen Bilder selbst sollen betrachtet werden, zeigen sollen sie vielmehr, wie das, was in ihnen abgebildet ist, zu etwas anderem wurde. Wenn der Nachgeborene sich die Welt des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigt, so sieht er, irgendwo in diesen Jahrzehnten ist etwas Fundamentales geschehen, und für dieses Fundamentale ist die Photographie eine, aber sicher auch die deutlichste Illustration. Der moderne Blick, die moderne Ikonographie teilen die neuzeitliche Kultur unvermeidlich in zwei Territorien: in die gemalte und die photographierte Welt. Goethes Rom ist ein gemaltes Rom, Baudelaires Paris ein photographiertes Paris. Wie Beyle ausgesehen haben mag, ahnt man allenfalls in der Summe recht unterschiedlicher Porträts; wie Stifter aussah, ist auf genauen Photographien festgehalten. Die vorphotographische Zeit überlässt unendlich viel der Imagination; die Existenz eines Bildes war immer die Ausnahme, der größte Teil der Welt blieb unabgebildet, ebenso wie die meisten Menschen. Die Existenz eines Bildes war Ausweis der Bedeutung seines Gegenstandes, und so kommt es, dass von kaum einem später bedeutenden Schriftsteller Kindheitsbilder existieren. Städte, Dörfer, Häuser, Straßen wurden gezeichnet und gemalt, doch ein Panorama von Paris oder eine Straßenszene von Wien zeigt nicht den Augenblick in seiner zufälligen Realität, sondern ist eine ästhetische Synthese von Wirklichem und Stilisiertem, Besonderem und Verallgemeinertem. Die umfassende optische Wirklichkeit existiert für die Nachgeborenen nur in der Imagination.
Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert taucht aus den Tiefen dieser imaginierten Vergangenheit etwas Neues hervor, die moderne Gegenwart. Auf den ersten Daguerreotypien und Photographien sieht man Dinge, die man nie zuvor gesehen hat, eine Allee, in deren körniges, etwas feuchtes Erdreich sich Wagenspuren einzeichnen, eben erst zart belaubte Platanen, Vier- und Zweispänner, einen Gendarmen, eine dahineilende Frau in Schwarz, zufällig vorübergehende oder stehengebliebene