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1857. Wolfgang Matz
Читать онлайн.Название 1857
Год выпуска 0
isbn 9783835345911
Автор произведения Wolfgang Matz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Dieser Umschwung vollzieht sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und dass er tiefe ästhetische Konsequenzen hatte, ist bekannt. In der technischen Revolutionierung aber wird ein Bruch sichtbar, der weit mehr ist als eine Sache der Kunst, und zudem geht er einher mit weiteren Phänomenen, die dasselbe bewirken, wenn auch nicht immer ebenso sichtbar; die rasante Entwicklung der Eisenbahn ist das zweite, von den Zeitgenossen sofort begriffene Phänomen, denn zu seinen unabsehbaren Folgen gehörte die Reduktion des Raumes, das Schrumpfen der Zeit durch die unerhörte Beschleunigung, die den Kreis der erreichbaren Welt radikal erweiterte, aber auch die demokratische Nivellierung der gesellschaftlichen Rangunterschiede, der »Ennui«, mit dem einer den mechanischen Transport von hier nach dort über sich ergehen lässt. »Seit die Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität«, heißt es schon in Stendhals Armance. »Ich quäle mich unfassbar in der Eisenbahn«, schreibt noch der späte Flaubert am 26. August 1873 an einen Freund, »und nach fünf Minuten brülle ich vor Langeweile. In den anderen Waggons glauben sie, das sei ein vergessener Hund. Ganz und gar nicht! Es ist Monsieur Flaubert, der seufzt!« Eines der emblematischen Werke der modernen Kunst, Claude Monets Darstellungen von rauchenden Eisenbahnen und Bahnhöfen in Paris, bezieht seinen Reiz deshalb aus einem Paradox: Hier wird das revolutionäre Verkehrsmittel eben nicht konsequent zeitgemäß photographiert, sondern noch einmal gemalt, nicht anders als gelassene Spaziergänger in der Landschaft und Seerosen.
Jeder Leser literarischer Werke weiß, in den Romanen des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts hat sich ein vollkommener Wandel der äußeren und inneren Welt vollzogen: bei Wieland, Goethe und Stifter, in Agathon, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Der Nachsommer, bei Laclos, Stendhal und Flaubert, in Les Liaisons dangereuses, Le Rouge et le Noir und Madame Bovary, und dasselbe gilt in der Poesie, bei Voltaire, Heine und Baudelaire, in Poème sur le désastre de Lisbonne, Das Buch der Lieder und Les Fleurs du Mal. Diese Lese-Erfahrung eines umfassenden Wandels hat eine ästhetische und eine lebensweltliche Dimension zugleich: Gewandelt haben sich das Kunstwerk und die Lebenswelt, die in ihm aufgehoben ist. Und das heißt in der Konsequenz: Gewandelt hat sich auch die Art, wie der Künstler seine Welt erfährt und wie er sie verwandelt in Kunst, sie überführt von ihrem unästhetischen in ihren ästhetischen Zustand. Eine hegelianisch-dialektische Interpretation dieses Wandels als eine bloße konsequente Weiterentwicklung ästhetischer Kategorien und Materialien griffe viel zu kurz, weil sie die lebensweltliche Seite der ästhetischen Erfahrung einfach ausblendet.
Henri Beyle ist die Schlüsselfigur dieses epochalen Wandels, denn er steht auf der Schwelle zur Moderne, ohne diese Schwelle zu überschreiten; mehr noch: Er steht auf der Schwelle zwischen den beiden großen gesellschaftlichen Umbruchsmomenten der Moderne, die diesen Wandel rhythmisieren. Die Große Revolution von 1789 hat er als Kind gerade noch erlebt, die bürgerliche und bereits proletarische von 1848 schon nicht mehr. Erlebt hat er die Folgen der einen und die Vorboten der anderen, Napoleonismus und Restauration. Er ist ein Mann des Übergangs vom feudalen Ancien Régime, dem Laclos noch fest angehörte, zu jenem bürgerlichen Frankreich, das Flauberts Wirklichkeit sein wird. Er ist als das Individuum Henri Beyle wie auch als der Romancier Stendhal tief verwurzelt im achtzehnten Jahrhundert, doch dieses ist seit der Revolution 1789 und vor allem seit der Enthauptung Ludwigs XVI. 1793 definitiv zu Ende, ohne dass sich das bürgerliche Frankreich bereits durchgesetzt hätte. Le Rouge et le Noir ist der Roman dieses Übergangs, ist der Roman vom Kampf um die Durchsetzung des Bürgerlichen. Julien Sorel scheitert daran, dass er nicht mehr in der Epoche Napoleons lebt, als jeder Infanterist seinen Marschallstab im Tornister trug, eine Laufbahn sich also statt nach der Herkunft nur nach den Leistungen bemaß, und noch nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die dieses in nahezu allen Berufen möglich gemacht hätte. Monsieur de Rênal, sein Arbeitgeber, ist als Provinzadliger auch Abkömmling des Feudalismus und deshalb Parteigänger der Restauration, doch zugleich als Besitzer der Nagelfabrik und als Bürgermeister von Verrières sowohl wirtschaftlich als auch politisch ein Repräsentant des aufstrebenden Bürgertums. »Seit 1815 schämt er sich, Industrieller zu sein«, mit diesem Satz hat Stendhal die prekäre und deshalb auch nicht dauerhafte Malaise des Monsieur de Rênal und seinesgleichen ironisch skizziert. Seit 1815, das heißt seit dem Sturz Napoleons und dem Beginn der Restauration, hat die Ideologie einer Wiederkehr des Ancien Régime ihn gezwungen, etwas anderes sein zu wollen, als er geworden ist. Monsieur de Rênal ist Industrieller, also eine moderne Figur, aber genau das ist unter der Inszenierung eines wiedergekehrten achtzehnten Jahrhunderts verpönt; Monsieur de Rênal ist Industrieller, muss aber so tun, als sei er der Höfling eines absoluten Herrschers.
Henri Beyle verkörperte diese Übergangszeit auch in seiner empirischen Existenz und in deren Verhältnis zu dem Autor, der er war. Henri Beyle und Stendhal sind nicht identisch. Für seinen Grabstein hatte er selbst die Inschrift entworfen: »Arrigo Beyle, Milanese, Visse, Scrisse, Amò«, nicht etwa: »Stendhal, écrivain français«. Selbst wenn man einiges an Koketterie des Italienliebhabers abzieht, der dann seine letzte Ruhestätte doch auf dem Friedhof Montmartre fand, bleiben die Worte ein sprechendes Zeichen für das Eigentümliche von Beyles Autorschaft. »Lebte, Schrieb, Liebte«, das hätte mit der Variante »Römer« auch ein Goethe von sich behaupten können, nie jedoch ein Schriftsteller in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, kein Flaubert, kein Baudelaire, kein Stifter. Am 8. März 1818 hatte Goethe an seinen Freund Karl Friedrich Zelter in Berlin geschrieben: »Vorstehende sind Auszüge aus einem seltsamen Buche: Rome, Naples et Florence, en 1817. Par M. de Stendhal, Officier de Cavalerie. Paris 1817. welches Du Dir notwendig verschaffen mußt. Der Name ist angenommen, der Reisende ist ein lebhafter Franzose, passioniert für Musik, Tanz, Theater. Die paar Pröbchen zeigen Dir seine freie und freche Art und Weise. Er zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so kann man ihn nicht loswerden. Man liest das Buch immer wieder mit neuem Vergnügen und möchte es stellenweis auswendig lernen. Er scheint einer von den talentvollen Menschen, der als Offizier, Employé oder Spion, wohl auch alles zugleich, durch den Kriegesbesen hin- und wieder gepeitscht worden. An vielen Orten ist er gewesen, von andern weiß er die Tradition zu benutzen und sich überhaupt manches Fremde zuzueignen. Er übersetzt Stellen aus meiner Italiänischen Reise und versichert das Geschichtchen von einer Marchesina gehört zu haben. Genug man muß das Buch nicht allein lesen, man muß es besitzen.« Goethe erkennt und beschreibt Stendhal als den genuinen Autor des Dixhuitième. Der ist – ebenso wie Goethe – kein Schriftsteller von Beruf und kein bürgerlicher Außenseiter, er ist ein spätfeudalistischer Abenteurer, Politiker und Diplomat, Salonlöwe, Causeur, Soldat und Reisender, Liebhaber der Frauen und der Künste, und unter seinen Beschäftigungen ist das Bücherschreiben nur eine, und unter seinen Büchern – Reiseberichte, Feuilletons, Polemiken, Biographien von Napoleon, Rossini und Haydn, Autobiographien, eine Geschichte der italienischen Malerei, eine Abhandlung über das Wesen der Liebe und vieles andere mehr – bilden die Romane nur ein Bruchteil. Stendhal ist nicht identisch mit Henri