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1857. Wolfgang Matz
Читать онлайн.Название 1857
Год выпуска 0
isbn 9783835345911
Автор произведения Wolfgang Matz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Auftakt
Richard Wagner begann im August 1857 Tristan und Isolde als leichte Spieloper und Unterbrechung der unendlichen Welt-Geschichte vom Ring des Nibelungen. Henri Beyle war »ein großer Schriftsteller, ohne es zu wissen«, wusste seinerseits Marcel Proust, und Julien Gracq fand diese Spielart eines ästhetischen Mystizismus, der den großen Künstler zu einem Wünschelrutengänger des Gelingens macht, nicht ungewöhnlich: »Man muß den Schriftstellern viel verzeihen, denn sie wissen nicht immer, was sie tun«. Individuen verstehen oft weniger genau, woran sie tatsächlich arbeiten, als sie behaupten. Auch eine Epoche arbeitet an etwas, und sie scheint besser als der einzelne zu wissen, woran, obwohl sie es nicht verrät. Woran arbeitete das neunzehnte Jahrhundert? Eine Frage war gewiss: Wie ist Kunst in einer bürgerlichen Welt überhaupt noch möglich. Die abstrakte Antwort nützt nicht viel, jeder Autor muss seinen Weg zum Werk alleine finden. »Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden«, schrieb Friedrich Nietzsche 1873 in der ersten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. »Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe«. Nietzsche las in seinen späten Jahren so wenig deutsche Zeitgenossen, als der letzte Goethe sie gelesen hatte. Das Jahr 1857 zeigt, wie groß der von ihm denunzierte Irrtum tatsächlich war. Der moderne Roman kommt von Flaubert, die moderne Poesie von Baudelaire. Und was die deutschsprachige Literatur zu dieser Moderne beizutragen hatte, lag zuweilen an einer Stelle, die keiner ahnte, und am allerwenigsten ein Autor.
ZWEITER TEIL
Der Heilige des Romans
Gustave Flaubert und Madame Bovary
ERSTES KAPITEL
Denker und Demoralisator
Sein Vater war ein Arzt. Diese triviale Tatsache hat Gustave Flaubert zeit seines Lebens und Nachlebens bezahlen müssen. Emblematisch ist jene berühmte Karikatur aus der Zeitschrift La Parodie vom 5. Dezember 1869, die den mit Lupe, Säge und Schere bewaffneten Schriftsteller neben den schwarzen Stiefelchen einer auf den Seziertisch gebreiteten Madame Emma Bovary porträtiert, das grobe Schlachtermesser mit dem aufgespießten Herzen triumphierend in die Höhe gereckt, auf dem Boden ein Tintenfass, in dem sich das aus dem gemarterten Organ tropfende Blut zur weiteren Verwendung sammelt. Zwar feiner, was das Schneidewerkzeug, nicht aber, was die Aussage betrifft, ist Sainte-Beuves Wort: »Monsieur Gustave Flaubert führt die Feder wie andere das Skalpell. Anatomen und Physiologen, ich sehe euch überall.« Wo aber wären die Tentation de saint Antoine, Salammbô oder auch die Trois contes mit dem Skalpell geschrieben? Die Analogie, die schwerlich ein so langes Leben gehabt hätte ohne das Wissen um die Profession des Achille-Cléophas Flaubert, ist zu einleuchtend, sowohl um ganz falsch, als auch um nur einigermaßen hilfreich zu sein, und sie verdeckt zugleich, was an Flauberts Herkommen tatsächlich prägend geworden ist für sein Schreiben, sein Denken und seine Existenzform als Schriftsteller.
Als Gustave am 12. Dezember 1821 geboren wurde, lebten seine Eltern bereits seit drei Jahren im Hôtel-Dieu, dem städtischen Krankenhaus von Rouen, einer Provinzstadt mit damals immerhin neunzigtausend Einwohnern. Achille-Cléophas Flauberts gesamtes Leben drehte sich um dieses Krankenhaus: Er studierte bei Jean-Baptiste Laumonier, dem Chefchirurgen, heiratete dessen Mündel, die Waise Anne Justine Caroline Fleuriot, trat 1815 Laumoniers Nachfolge an und übernahm nach dessen Tod Anfang 1818 auch die Dienstwohnung im Hospital. Über das Hôtel-Dieu, den düsteren Bau, und das Leben in dauernder Nähe des Todes ist viel geschrieben worden, auch von Flaubert selbst: »Der Sektionssaal des Hôtel-Dieu lag zu unserem Garten hin. Wie oft sind meine Schwester und ich an dem Spalier hochgeklettert und haben, zwischen den Weinreben hängend, neugierig die in Reihe liegenden Leichen betrachtet! Die Sonne beschien sie; die gleichen Fliegen, die uns und die Blumen umkreisten, ließen sich dort nieder, kamen zurück und summten um uns herum! […] Ich sehe noch meinen Vater, wie er beim Sezieren den Kopf hebt und uns befiehlt wegzugehen.« Kaum vorzustellen, dass solche tagtäglichen Erfahrungen für die Entwicklung eines Kindes ohne Einfluss bleiben – doch ebenso wenig, wie man sich die Wirkung auf einen sprachlichen Stil vorstellen soll. Nein, wenn es hier um Ableitungen und Erklärungen geht, so kann es sich nur um die eines Weltbildes handeln, um ein grundlegendes Verhältnis zu den Menschen, ihrem Leben und ihrem Tod.
Für das, was er seinem Sohn mit auf den Weg zu geben hatte, war der Doktor Flaubert nicht nur Kind seines Handwerks, sondern auch das seiner Zeit, und auf besondere Weise wurde ihm beides zu einem. Die Gesellschaft der Restauration, in der Gustave seine Kindheitsjahre verbrachte, verdankt der großen Revolution von 1789 ebenso viel an Prägung wie dem Kampf gegen sie. Die große Tradition der Aufklärung, die in der Revolution ihre erste Verwirklichung gefunden hatte, war in den folgenden Jahrzehnten gerade in Frankreich abgesunken zu einer Ideologie des Juste Milieu, in der sich Atheismus, Antiklerikalismus, Materialismus und ein mechanistischer Glaube an die Naturwissenschaften trübe vermischten, mit Voltaire, Rousseau und den Enzyklopädisten als Hausheiligen aus Gips. Der Doktor Flaubert ließ seinen Sohn zwar ordentlich taufen, wohnte der Zeremonie aber nicht bei, und er wird mit dieser Haltung nicht alleingestanden sein unter den Kollegen der Ärzte und vielleicht auch Apotheker. Doktor Flaubert war Chirurg, also Praktiker einer Kunst, die im neunzehnten Jahrhundert größte Fortschritte machte und die andererseits jener materialistischen Vorstellung genau entsprach, welche den menschlichen Körper für eine reparaturfähige Maschine ansah. Gustave Flaubert hat diese Anschauungen als erwachsener Mensch durchaus nicht einfach übernommen, sein grundlegendes Verhältnis zur Welt aber wurde hier geprägt: durch einen Alltag, in dem der Tod und mehr noch die Toten allgegenwärtig waren und in dem das Sterben ein gewohnter biologischer Vorgang wurde, welchem der Chirurg mit seinen Werkzeugen zu Leibe rückt, wenn auch oft genug vergeblich. Schon die ersten schriftlichen Zeugnisse sprechen von Faszination und Abscheu vor Sterblichkeit und menschlichem Elend in einer für ein Kind erstaunlichen Intensität, und nie hat Flaubert