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moralischen, sozialpsychologischen Bedingungen zeichnen sich ab in den individuellen Beziehungen zwischen den Menschen, und wiederum am schärfsten in den intimen Verhältnissen zwischen Frauen und Männern. Choderlos de Laclos beschreibt eine schlechthin andere Welt als Balzac. Der Bruch mit dem achtzehnten Jahrhundert ist ablesbar an der Umwertung aller erotischen Werte und damit auch der Ehe. Es ist, weiß Gott, kein Zufall, wenn Flaubert ausgerechnet den Marquis de Sade nennt, vollzieht dessen Werk, im Augenblick der Großen Revolution von 1789, doch gerade die totale Negierung sämtlicher hergebrachter Werte im Bereich des Sittlichen. Flauberts Epoche war auch in diesem Sinne Restauration, ja, vielleicht mehr noch als im politischen. Die Geste der totalen Negierung, die niemals von Dauer sein kann, war längst erschöpft, und gegen die Evidenz, dass die überkommenen Verhältnisse des Ancien Régime unwiederbringlich dahin waren, versuchte das System des Bürgerkönigs einen niemals ausgesprochenen und niemals konsequent betriebenen Kompromiss zwischen dem Festhalten an den Hierarchien und Kodizes der alten, feudalen Gesellschaft und der Anpassung an die neuen, vom Bürgertum geprägten Verhältnisse. Dass diese Situation im Sittlichen aber mit einer simplen Dichotomie von Reaktion und Fortschritt nicht zu fassen ist, beschreiben die Romane der Restaurationszeit und auch Flauberts frühe Versuche. Die vom Marquis de Sade und von Laclos zerstörte Moral des Ancien Régime, die zynische, hierarchische, verkommene Moral einer herrschenden Klasse, wurde beerbt von der verlogenen und sentimentalen, aber zugleich zwanghaften und Zwang ausübenden Moral des Bürgers, in der das de Sadesche und Laclossche Bewusstsein von der Erotik als Instrument der Macht verdrängt wurde zugunsten einer empfindsamen, aber nur die alltägliche Institution Ehe rechtfertigenden Verklärung romantischer Liebe und Leidenschaft. Wozu diese Leidenschaft aber tatsächlich führen konnte unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Quietismus, das zeigen der undomestizierbare Halbaffe Djalioh und die verblendete Hausfrau Mazza.

      Im gleichen Augenblick war Flaubert jedoch schon dabei, den literarischen Stand der Dinge zu überschreiten, ohne dass er genau zu wissen scheint, wohin dieser Schritt ihn führen wird. Nach einem Besuch auf dem Maskenball, ohne Kostüm, versteht sich, schrieb er am 24. Februar 1842 an Ernest Chevalier: »Man muss sich daran gewöhnen, in den Leuten um uns herum nur Bücher zu sehen; der Mann von Verstand beobachtet sie, vergleicht sie und macht aus alldem eine Synthese zum eigenen Gebrauch. Die Welt ist ein Klavier nur für den wirklichen Künstler. Es liegt an ihm, Töne hervorzulocken, die einen hinreißen oder vor Schreck erstarren lassen. – Die gute und die schlechte Gesellschaft müssen beobachtet werden. Die Wahrheit ist in allem. Verstehen wir alle Dinge und tadeln wir kein einziges, das ist das Mittel, um viel zu erkennen und ruhig zu sein, und ruhig sein ist wirklich etwas, es heißt fast, glücklich zu sein.« Drei Motive zeichnen sich ab: Das stoische Wunschbild des unberührbaren Philosophen; der Begriff des Schriftstellers als Artist und Virtuose; die Ablehnung der traditionellen Hierarchie literarischer Sujets. Keines der drei sollte Flaubert je aufgeben, doch die beiden letzten waren es, die sein Schreiben, hatten sie sich erst einmal vollkommen durchgesetzt, auf die Höhe seiner Meisterwerke führen sollte. Die Überwindung einer Werthierarchie von Sujets ist gleichsam der Reinigungsprozess, den Flaubert in den dreißiger und vierziger Jahren durchläuft, mit mancher Kurve und manchem Schritt auch zurück, und von den historischen Dramenimitationen der ersten Jahre bis zu Mazzas Ehebruch, Mord und Selbstmord war der Weg bereits weit. Andere Werke jedoch, wie etwa Smar, der erste Vorläufer der bombastischen, symbolüberladenen Tentation de saint Antoine, verbieten es, eine strikte Konsequenz zu behaupten, wo es noch Suchbewegungen gibt in die verschiedensten Richtungen. Die ersten realistischen Werkelemente verdanken sich nicht einer wirklichen Weltzugewandtheit des jungen Flaubert; im Gegenteil: Noch immer ist der Hang zum Opulenten, Artistischen, Romantischen stärker. Was ihn zum Realistischen treibt, ist weniger Wunsch als Zwang, der Zwang, eine gehasste Gegenwart wenigstens literarisch zu vernichten.

      Mit »Quidquid volueris« und Passion et vertu wollte Flaubert einer Gegenwart zu Leibe rücken, deren fatale Konsequenzen für sich und sein Schreiben er bereits deutlich ahnte. Doch anders als noch für Stendhal und seine Generation war der große Aufbruch der Revolution von 1789 inzwischen keine lebendige Gegenwart mehr und damit auch keine geistige Antriebskraft, sondern nur noch Geschichte; Flaubert hatte in einer eigenen Gegenwart zu leben, in der man nicht mehr vom Hinwegfegen des korrupten, im Luxus schwelgenden Adels träumte, als vielmehr sich arrangieren musste mit dem schwarzen Tuch des Bürgers. Ein politisches, ideologisches Gegenbild gab es für ihn nicht mehr. Hatte Flaubert in der Literatur noch immer nicht die gültige Gestaltung gefunden, in seiner individuellen Existenz war die Entscheidung unwiderruflich. Jedes Mal, wenn in seiner Umgebung einer, sei’s Freund, sei’s Verwandter, die Ehe einging, sah er wieder einen gebrochenen Menschen, verloren an Dummheit und Spießbürgertum, und auch hier gilt: Es ist nicht einfach als die gewöhnliche Pubertäts-Misogynie abzutun, was sich später dann durch ein ganzes Leben bestätigt. Ganz besonders traf es ihn, als sein Jugendfreund Ernest Chevalier und seine eigenen Geschwister Achille und Caroline den fatalen Akt vollzogen. Gezwungen – denn freiwillig hätte er sich dem nicht unterworfen –, der Hochzeit Achilles beizuwohnen, berichtete er am 31. Mai 1839 dem noch unvermählten Chevalier von den mit Champagner und Chambertin begossenen Diners und von dem »sanften Knirschen des Betts, das in der finstren Nacht von den ehelichen Freuden künden wird«. Aber: »All das langweilt mich, kotzt mich an. Mein Herz ist leerer als ein Stiefel. Ich kann weder lesen noch schreiben, noch denken.« Retten konnte ihn nur das Schreiben, das wusste er jetzt, jenseits aller schülerhaften Rhetorik. Am 22. Januar 1842 erklärte er seinem früheren Lehrer Henri Gourgaud-Dugazon mit geradezu existentiellem Ernst sein Dilemma. Er war jetzt zwanzig Jahre alt, hatte das Gymnasium hinter sich und war, dem väterlichen Wunsch entsprechend, Student der Rechtswissenschaften in Paris. Doch er hatte nur eine »fixe Idee: schreiben!«. Irgendwie würde er es zum Advokaten bringen, doch »gestehe ich Ihnen, dass ich mich innerlich auflehne und dass ich mich für dieses materielle und triviale Leben nicht geschaffen fühle«. Gourgaud vermochte ihm in dieser »Frage auf Leben und Tod« vermutlich nicht zu helfen; Flaubert musste den Zwiespalt noch eine Weile aushalten; er wusste, dass er »niemals ein Plädoyer halten« würde, und andererseits, dass der Schriftstellerberuf für den Bürger eben gar kein Beruf war. Und er wusste auch, als Schriftsteller hatte er noch nichts vorzuweisen, was für ihn selbst, dem nur die umso härtere Selbstkritik zählte, eine Publikation wert war: »Hier also, was ich beschlossen habe. Ich habe drei Romane im Kopf, drei Erzählungen ganz verschiedener Art, von denen jede eine ganz besondere Form des Schreibens verlangt. Das reicht, damit ich mir selbst beweisen kann, ob ich Talent habe oder nicht. / Ich werde alles hineinlegen, was ich an Stil, Leidenschaft, Geist hineinlegen kann, und dann sehen wir. / Ich glaube, im April kann ich Ihnen etwas zeigen. Es ist diese sentimentale und verliebte Ratatouille, von der ich Ihnen erzählt habe. Die Handlung ist völlig belanglos. Ich könnte Ihnen keine Analyse von ihr machen, denn sie besteht selbst nur aus psychologischen Analysen und Sektionen. Vielleicht ist das sehr schön, doch ich habe Angst, es ist falsch und reichlich aufgeblasen und geschraubt.«

      Diese Absätze sind ein außerordentliches Selbstzeugnis. Zum einen, weil sie nicht nur Flauberts eigenes Lebenswerk präludieren, sondern mehr noch eine wesentliche Tendenz des europäischen Romans schlechthin: die ästhetische Aufwertung der Romanprosa durch Stil, Sprache, Form und die Ablösung der alten Vorstellung des Romans als mindere, vor allem an der Anekdote interessierte Gattung. Der reife Flaubert wird seine Haltung nicht ändern, wie der Tagebucheintrag der Brüder Goncourt vom 17. März 1861 beweist: »Flaubert sagte uns heute: ›Die Geschichte, das Abenteuer eines Romans, das ist mir ziemlich egal. Wenn ich einen Roman mache, muss ich den Gedanken, eine Färbung, eine Nuance wiedergeben. In meinem Karthago-Roman zum Beispiel will ich etwas Purpurnes machen.‹« Zum anderen aber ist Flauberts frühe Aussage gegenüber Gourgaud-Dugazon verblüffend, wenn man bedenkt, was mit der »sentimentalen und verliebten Ratatouille« eigentlich gemeint ist: der erste umfangreiche, wirklich gelungene und konsistente autobiographische Roman Novembre. Seit 1838 nämlich hatte Flaubert sich intensiv einem neuen Thema zugewandt, dem eigenen Leben und der eigenen Entwicklung. Es war eine neue und entscheidende Phase jenes Selbstreinigungsprozesses, dem er sein Schreiben unterzog. Flauberts frühe Werke entsprachen noch ganz und gar jenem »landläufigen Begriff des Romans«, laut Walter Benjamins berühmten Worten ein »zusammengestoppeltes Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem«. Noch allzu viel war in diese Werke ungefiltert eingegangen von privaten Obsessionen und autobiographischen

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