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Tatsächlich ist das Neue an Novembre, mit dem Flaubert sich nun von den Jugendwerken im engen Sinne löst, die konsequente Durchdringung von Stil, Analyse und Handlung. Und wenn Flaubert im Nachhinein diese Anstrengung als gescheitert ansah, dann weil er die Konsequenz nicht bis ans Ende trieb: Im Erzählfluss von Novembre wirkt jede Reminiszenz an frühere Eigenheiten bereits wie ein Fremdkörper. Flaubert nannte sein Werk einen Roman, doch seine Schwierigkeiten mit einem plausiblen Schluss beweisen, wirklich im Griff hatte er die große Form noch nicht. Das gilt sowohl für die Handlung als auch für die künstlerische Gestalt. Wenn der Erzähler nach der zweiten Begegnung mit Marie und deren langer Konfession in einem lakonischen »Ich habe sie niemals wiedergesehen« abbricht, dann ist das innerhalb des literarischen Werks psychologisch vollkommen unverständlich. Als Reflex auf das äußere Leben, nämlich den Abschied von Eulalie Foucauld beim Aufbruch von Marseille, wo diese zufällige Reisebegegnung 1840 stattgefunden hatte, scheitert die Szene jedoch an der unvollkommenen Transposition in den Roman: Was in der empirischen Realität durch die reine Tatsächlichkeit zwingend ist, verlangt in der Literatur seine eigene Logik.

      Wahrscheinlich hat Flaubert von 1840 bis Oktober 1842 an Novembre gearbeitet, und wahrscheinlich hat er sich in diesen Jahren sogar noch schneller weiterentwickelt, als die Arbeit voranschreiten konnte. So hatte er, am Schluss angekommen, die ursprünglichen Voraussetzungen bereits überholt und wusste nicht recht, wie sein Werk sinnvoll zu beenden war. Mit dem Abschied von Marie hatte er das Wesentliche erzählt, und der Romancier fand in seinem Korb kein Material mehr für ein handwerklich befriedigendes Finale. Die plötzliche Einführung eines zweiten Erzählers, der das Manuskript nun seinerseits gefunden haben will, ist nur noch ein Theatercoup. Anders als bei dem deutlich erkennbaren Vorbild der Leiden des jungen Werthers ist diese Konstruktion hier eine nachträgliche Erfindung und bleibt deshalb ohne jede innere Konsequenz für den Aufbau des Romans selbst. Der Tod des desillusionierten Erzählers »allein durch die Kraft des Gedankens« ist seinerseits ein so krasser Rückfall in trivialromantische Muster, dass Flaubert seinen zweiten Erzähler diese Unglaubwürdigkeit gleich selbst entschuldigen lässt mit den Worten, »in einem Roman muss man das wohl hinnehmen, aus Liebe zum Wunderbaren«. Dass er sein Werk trotz aller Qualitäten nicht veröffentlichte, verlangt danach keine Erklärung mehr. Den 25. Oktober 1842 setzte Flaubert als Datum unter das Manuskript, bereits im Februar 1843 begann er mit der Éducation sentimentale den nächsten und nun auch letzten Versuch, des eigenen Lebenslaufs durch den Roman habhaft zu werden. Doch auch diese Niederschrift dehnte sich über mehrere Jahre, und sie umfasste die Momente, die für Flauberts weitere Existenz die definitiven Weichen stellte.

      Tatsächlich bringen die Jahre von 1843 bis 1846 jene zwei Lebenskrisen, nach denen der junge Flaubert zum Flaubert der Literaturgeschichte wird: die Krankheit von 1844 und den Tod von Vater und Schwester 1846. Beide Krisen müssen zusammen gesehen werden, denn nach ihnen gibt Flaubert seinem Leben jene endgültige Form, die vollkommen am Schreiben ausgerichtet ist und sich nicht mehr ändert. Die äußeren Fakten sind oft genug berichtet worden: Im Januar 1844 war Flaubert mit seinem Bruder auf der Rückreise von Trouville nach Rouen. In der Nähe von Pont-l’Évêque fiel er, der im Wagen die Zügel hielt, plötzlich von der Bank. Achille glaubte an einen Schlaganfall und tat, was man damals tat, er ließ ihn zur Ader, und zwar, wie Gustave später erzählte, gleich dreimal. Die Diskussion über die Natur dieser Krankheit dauert an seit dem Tag, da Maxime Du Camp in seinen Mémoires littéraires als erster das Wort Epilepsie aussprach. Doch der Streit über diese postume Diagnose, allzu sehr geprägt von der Verteidigungshaltung gegenüber einer vermeintlich ehrenrührigen Krankheit, hat wenig Sinn, losgelöst von der Frage, was die Krankheit für Flaubert bedeutete. Die Attacke trat ein in einem Moment, der immer dringlicher nach einer existentiellen Entscheidung verlangte. Flaubert ist jetzt einundzwanzig Jahre alt. Seit 1842 studiert er in Paris die Rechte, genauso lange jedoch weiß er, dass er niemals einen juristischen Beruf ergreifen wird. Der Roman Novembre, den er zur entscheidenden Talentprobe erklärt hatte, war in seinen Augen gescheitert und unpublizierbar. Zwar weiß er trotzdem, dass er nichts anderes werden kann als Schriftsteller, doch den Beweis dafür ist er auch der Familie und der Gesellschaft immer noch schuldig, und er wird ihn noch schuldig bleiben müssen auf unabsehbar lange Zeit. Die Krankheit befreit ihn ein für allemal von diesen Sorgen. Nach der Attacke von Pont-l’Évêque ist von juristischen Studien in Paris und anderen Berufsplänen nie wieder die Rede. Gustave wird zunächst von Vater und Bruder kuriert, den Ärzten der Familie, dann unterzieht er sich einer langen Erholung in Rouen. Als Achille-Cléophas Flaubert später in diesem Jahr 1844 für seine Familie in Croisset am Ufer der Seine jenes Landhaus erwirbt, das später als Flauberts Gueuloir literarischen Weltruhm erlangt, hat er für dieses Leben auch räumlich die Weichen gestellt.

      Welcher Natur also war diese Krankheit? War sie einfach ein körperliches Leiden wie so viele? War sie nervös oder psychisch bedingt? War sie vielleicht gar gewollt, als willkommener Schlussstrich unter jede gewöhnliche Berufstätigkeit? Eine Antwort, die säuberlich zwischen Entweder und Oder unterscheidet, kann es – muss es aber auch nicht geben. Flauberts Krankheit ist, nicht anders als später die des Flaubert-Verehrers Franz Kafka, alles zugleich: Gewiss war sie, die lebenslang in wechselnden Abständen wiederkehrte, ein organisches Übel, ebenso gewiss aber auch die ins Physische übergreifende Weigerung, am geregelten Berufskreislauf von Produktion und Verwertung in irgendeiner Weise teilzunehmen. Und wieder-um wie bei Kafka diente sie wohl für die noch weiter gehende Weigerung, in den biologischen und familiären Kreislauf einzutreten, sprich, eine Familie zu gründen. Für Flaubert war die Krankheit vor allem dies: der biographische Punkt, an dem jeder Kompromiss mit der gehassten Gesellschaft des bürgerlichen Frankreich endete und von dem an er selbst nichts anderes war als ein Individuum, ein Schriftsteller ohne jede Bindung, die stark genug gewesen wäre, ihn abzuhalten vom Schreiben. Wie weit ihn dieser Schritt von seiner Familie und seinen Freunden entfernen wird, zeigte ihm die Schwester Caroline: Im März 1845 heiratete sie Émile Hamard, einen Schulkameraden Flauberts, und diesem entlockte die frohe Botschaft nur ein großgeschriebenes »AH«. Auch bisher schon hatte es Flaubert nur mit äußerstem Widerwillen zur Kenntnis genommen, wenn sich Weggefährten, wie billig, in der zivilen Normalität einzurichten begannen; der Briefwechsel mit Ernest Chevalier etwa ist der ausdauernde Versuch, den längst zum Verwaltungsbeamten mutierten engsten Jugendfreund wenigstens rhetorisch festzuhalten in der längst vergangenen Gemeinsamkeit von Heranwachsenden. Der Verlust der Schwester, des ihm nächststehenden Familienmitglieds, war ein ungleich härterer Schlag. Die Eltern Flaubert trafen eine kuriose Entscheidung: Auf der Hochzeitsreise, die naturgemäß nach Italien führte, sollte die gesamte Familie das junge Paar begleiten. In Flauberts Voyage en Italie wird nachzulesen sein, wie sehr ihn, der nur von Freiheit träumte, die beständige Nähe des Familientrosses enervierte. Dieser, mit all seinen Ritualen, Formalitäten und Verpflichtungen, war ihm inzwischen unerträglich. Die Reise, über Genua, Turin, Mailand und den Comer See, wurde abgebrochen, bevor man den Petersdom oder Neapel gesehen hatte. Flaubert war sogar froh über die Rückkehr »in das alte Rouen, das meinetwegen vom Feind besetzt, geplündert und gebrandschatzt werden kann, ohne dass es mich eine Träne kostet. Dort habe ich mich auf jedem Pflasterstein gelangweilt und an jeder Straßenecke gegähnt.«

      Flaubert wusste, worauf er sich einließ bei seiner Lebensentscheidung: »Ich lebe allein wie ein Bär«, schrieb er im Januar 1845 an Emmanuel Vasse, mit spürbarer Sympathie für das Bärenleben. »Meine Krankheit hat immerhin den Vorteil gehabt, dass man mich tun lässt, was ich will, und das ist doch schon etwas im Leben.« Die andere Seite aber, die Isolation, wird spürbar in jenem großen Brief, den Flaubert am 7. Juni 1844 an Louis de Cormenin sandte, eine literarische Bekanntschaft aus Pariser Tagen, und in ihm spricht auch schon überdeutlich das literarische Hauptgeschäft der Jahre 1843 bis 1845: die Éducation sentimentale. »Was wollen Sie mit einem Menschen anfangen, der die Hälfte der Zeit krank ist und die andere so gelangweilt [ennuyé], dass er weder die Kraft hat noch den Verstand, auch nur die angenehmen und leichten Dinge zu schreiben, die ich Ihnen schicken möchte! Kennen Sie die Langeweile [ennui ]? nicht diese gewöhnliche, banale Langeweile [ennui ], die vom Nichtstun oder von der Krankheit kommt, sondern diese moderne Langeweile [ennui ], die den Menschen in seinen Eingeweiden zerfrisst und aus einem intelligenten Wesen einen wandelnden Schatten macht, ein denkendes Gespenst! Ah, ich bedaure Sie, wenn Sie diese Lepra kennen! Manchmal glaubt man sich geheilt,

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