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der entgegengesetzten Richtung zu suchen.

      Auf dem Weg dahin bewegte sich Flaubert nahezu systematisch. Die Éducation war im Januar 1847 abgeschlossen, die Voyage en Italie, das nächste umfangreiche Manuskript, ist jedoch vor allem Tagebuch und kein durchformuliertes Werk. Anders das 1847 niedergeschriebene Par les champs et par les grèves: Flaubert war im Mai 1847 zu einer drei Monate dauernden, hauptsächlich zu Fuß unternommenen Reise durch das Anjou, die Bretagne und die Normandie aufgebrochen, in Begleitung des Pariser Literaten und Freundes Maxime Du Camp. Das Reisejournal sollte nach der Rückkehr zu einem kleinen Buch ausgearbeitet werden, wobei verabredungsgemäß Flaubert die ungeradzahligen, Du Camp die geraden Kapitel zu schreiben hatte. Flaubert aber nutzte die Aufgabe zu etwas ganz anderem, er machte die vorgegebenen, eher anspruchslosen Themen, die Beschreibung von Orten und Landschaften, Städten und Gebäuden, Situationen und Begegnungen zu der konsequentesten Stilübung, der er sich bislang unterzogen hatte, und so ist das kleine Reisebuch das erste, das tatsächlich im Stile des reifen Flaubert durchgehört ist auf Rhythmus und Klang, auf Schwung und Satzmelodie, kurz: das dem sprichwörtlich gewordenen Perfektionsideal entsprach. Erst nach dieser Übung ging er an den Saint Antoine, dessen Idee ihn seit dem ersten Blick in Genua begleitete.

      Wie kompliziert die Auseinandersetzung jener beiden »deutlich unterschiedenen Burschen in mir« blieb, verrät ein vorausschauender Blick auf den Kalender der folgenden Jahre. Anfang 1848 ist Flaubert in Paris und erlebt dort aus nächster Nähe die Revolution und ihre Barrikaden – ein Ereignis, das viele Jahre später zum entscheidenden Katalysator für die große und in jeder Hinsicht vollendete Éducation sentimentale werden wird. Im Jahr der Revolution selbst aber tut Flaubert etwas ganz anderes: Er kehrt zurück nach Croisset und beginnt dort die Arbeit am Saint Antoine, dem Hauptwerk des ersten, von Brüllerei begeisterten Burschen. Kaum sechs Wochen nach dem Scheitern des Saint Antoine, das am 12. September 1849 zu den Akten genommen wird, verlässt Flaubert Croisset, um erst im Mai 1851 wiederzukehren. Dazwischen liegt jener lang erträumte Aufenthalt im Orient, in Ägypten, Nubien, Palästina und dem Libanon, der dann seinerseits zur Quelle des anderen großen phantasmagorischen Romans, der »purpurnen« Salammbô, werden wird. Doch auch dieser Ertrag seiner Reise wird nicht sofort, sondern erst ein Jahrzehnt später eingefahren, denn zuvor schlägt endlich die große Stunde des zweiten Burschen. Er »wühlt und gräbt, so tief er kann, in das Wahre«, und ans Licht bringt er Madame Bovary, den Jahrhundertroman mit dem Untertitel Mœurs de province, Sitten in der Provinz.

      Doch bevor es so weit war, musste Flaubert in seiner Éducation noch eine Lektion lernen. Die Pariser Revolution von 1848 ist die letzte, die den Ehrennamen Revolution trägt, und sie ist nach 1789 und 1830 die dritte in einem Prozess, in dem gesellschaftlicher Optimismus und restaurative Zurücknahme in enger werdendem Rhythmus aufeinanderfolgen. Das ungelöste Problem, das diesen antreibt, ist der Übergang vom späten Absolutismus zu einer Staatsform, in der die neuen gesellschaftlichen Kräfte des neunzehnten Jahrhunderts integriert werden können. Diese stark vereinfachte Formel umfasst jedoch eine Vielzahl von Faktoren, zu denen nicht nur die das ganze Jahrhundert über offene Frage des Regierungssystems zählt, sondern besonders auch die soziale Frage der städtischen Industrialisierung und die regionale der starken Trennung von Kapitale und Provinz im extrem zentralisierten Frankreich. Da mit der Revolution von 1789 und dem aus ihr hervorgegangenen Empire Napoleons am Anfang dieser Entwicklung eine Konstellation von unerhörter Ausstrahlung im historischen, symbolischen und ästhetischen Sinne steht, ist das 1815 mit der Restauration beginnende Jahrhundert eines der kontinuierlichen, nur von phasenweise auftretenden Konvulsionen unterbrochenen Desillusionierung und, auf der Ebene politischer Ästhetik, der Trivialisierung. Mit jeder dieser Zäsuren: dem Sturz Napoleons und der Restauration 1815, der Julirevolution 1830 und ihrem Ersticken in der Monarchie Louis-Philippes, der 48er- Revolution und ihrem Ende im Second Empire Napoleons III., mit jeder dieser Zäsuren wird gleichsam ein Stück aufgezehrt von der optimistischen revolutionären Grundsubstanz. Dieser Erosionsprozess bedeutet zugleich die fundamentale Verbürgerlichung der Gesellschaft. Solange das Bürgertum in Opposition zur Herrschaft von Adel und Klerus stand, konnte es sich noch als fortschrittliche Kraft, gar als legitimer Nachfolger von Aufklärung und Revolution sehen; Rot und Schwarz, Stendhals Roman aus dem Jahre 1830 mit dem Untertitel Chronik aus dem neunzehnten Jahrhundert, ist dafür das kanonische Dokument. 1848 macht diese Überzeugung zunichte.

      Flaubert gehörte sicher nicht zu denen, die sich allzu viel mit der politischen Entwicklung beschäftigten, und von der Hoffnung auf eine Revolution als konstruktive Veränderung war er so weit als möglich entfernt. Doch er, geboren unter der Restauration, ein Kind während der Julirevolution, hatte sein erwachsenes Leben unter der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippe verbracht, er hatte die Stagnation, die Verbürgerlichung Frankreichs miterlebt und in Briefen und in seiner frühen Prosa wieder und wieder bedacht mit seinem ironischen Kommentar. 1848 nun geschah es zum ersten Mal, dass er einen historischen Augenblick Frankreichs bewusst verfolgte. Flaubert zögerte nicht. »Als ich nach Hause kam«, berichtet Maxime Du Camp in seinen Souvenirs de l’année 1848 über den 23. Februar, »fand ich dort Gustave Flaubert und Louis Bouilhet vor, die direkt aus Rouen gekommen waren, um den Aufstand zu sehen, ›vom Standpunkt der Kunst aus‹, und die am Kaminfeuer auf mich warteten«. Flaubert beobachtete die Ereignisse in den Straßen von Paris, die am 24. Februar Louis-Philippe zur Abdankung zwangen, aus nächster Nähe, laut Du Camp trug er dabei als Mitglied der Bürgerwehr eine Jagdbüchse.

      Zurückgekehrt nach Croisset, schrieb er im März an Louise Colet, die ihrerseits gerade an einem Theaterstück arbeitete: »Sie fragen mich nach meiner Meinung über all das, was sich ereignet hat. Na schön! es ist alles sehr komisch. Sich die kleinlauten Gesichter anzuschauen ist sehr erheiternd. Ich vergnüge mich höchlichst bei der Betrachtung all der zunichte gewordenen Ambitionen. Ich weiß nicht, ob die neue Regierungsform und der gesellschaftliche Zustand, der daraus hervorgehen wird, günstig ist für die Kunst. Das ist eine Frage. Man wird nicht noch bürgerlicher sein können und noch unbedeutender. Und noch dümmer, ist das möglich? Ich bin froh, dass Ihr Drama dabei gewinnt. Ein gutes Drama ist einen König wert.« Und noch am 6. Mai 1849 an Ernest Chevalier in seine korsische Präfektur: »Ich weiß nicht, ob die Korsen genauso dämlich sind wie die Franzosen, aber hier ist es jammervoll. Republikaner, Reaktionäre, Rote, Blaue, Dreifarbige, alle verblöden um die Wette. Es reicht, um die anständigen Leute zum Kotzen zu bringen, wie der Garçon zu sagen pflegte. Die Patrioten haben vielleicht recht: Frankreich ist heruntergekommen. Was den Geist betrifft, ganz gewiss. Die Politik schafft es, den letzten Tropfen verschwinden zu lassen.« Auch wenn Flaubert das »Kotzen« dem »Garçon« zuschrieb, seinem imaginierten Doppelgänger, kann man das als den Snobismus eines jungen Provinzlers verstehen, der die Zeichen der Zeit verkennt, als die Überheblichkeit eines sich unbürgerlich fühlenden Bürgers angesichts der sozialen Kämpfe der Epoche. Es ist aber weit mehr. Flaubert fuhr zur Revolution nach Paris, um sich bestätigen zu lassen, was er vorher schon wusste: nämlich jene ewige Dummheit der Menschen, die noch in seinem letzten Roman, Bouvard et Pécuchet, zum einzigen Gegenstand werden wird. Flaubert suchte nicht neue Erkenntnisse, er suchte neue Anschauungen, neue Erfahrungen. Seine Aussage, er wolle die Revolution »vom Standpunkt der Kunst aus« beobachten, ist exakt so zu verstehen, und auch seine Hoffnung, das Theaterstück seiner Freundin werde an den Ereignissen »gewinnen«. Nur ästhetisch ist ihm die Welt noch zu rechtfertigen.

      Sein eigentliches Bild von 1848 entwirft er erst einundzwanzig Jahre später, in der großen Éducation sentimentale von 1869, und dieser Roman verrät, dass seine unpolitische Distanz von großer Scharfsicht war, dass seine ironische Distanz ihm besser als anderen erlaubte, den Charakter der Imitation in dieser »kleinen« Revolution wahrzunehmen – Imitation bis dahin, dass sie wie ihr großes Vorbild in einem Kaiserreich endet. Flaubert also analysiert die Ereignisse nicht politisch, und er wäre dazu wohl auch gar nicht imstande gewesen, er erfasst sie physiognomisch und ästhetisch, gleichsam als Phänomenologe der neuen Gesellschaft. Flaubert wird auch in späteren Jahren Meinungen zu diesem oder jenem politischen Ereignis äußern, und sie werden, wie bei jedem Individuum, mal richtiger, mal falscher sein, mal ernsthafter mal lächerlicher; was er »vom Standpunkt der Kunst aus«, also als Schriftsteller, als ästhetisch Schaffender, zum Bilde seiner Zeit beizutragen hatte, liegt an ganz anderer Stelle: in der Geschichte

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