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Par les champs et par les grèves, doch die Überlegung geht offensichtlich zurück auf eine frühere Lektüre und Überlegung, nämlich auf Balzacs epochemachenden Roman La femme de trente ans, »diese unsterbliche Schöpfung! in der Antike unbekannt wie das Christentum«. Die Heldin selbst ist gemeint, wenn Flaubert fortfährt: »In dem, was als nutzlos weggeworfen wurde, neue Schätze an Plastizität und Gefühl ausgraben, im Universum der Liebe einen neuen Kontinent entdecken und Tausende von Menschen, die davon ausgeschlossen waren, zu seiner Bewirtschaftung auffordern, ist das nicht geistvoll und erhaben? Die Ausübung eines Geschlechts verlängern, ist das nicht fast die Erfindung eines neuen? Welchen Enthusiasmus haben wir erlebt! Es war wie die Entdeckung Amerikas: […] man wird sehen, was man nur flüchtig erspäht hat, man wird erforschen, was man nur leicht angerührt hat, die Mine ist noch neu, die Ader tief; durch diese Frage vorbereitet, werden andere ihr folgen, die nur nach einem großen Moralisten verlangen, einem großen Künstler, damit sie ans Tageslicht treten«. Flauberts »Enthusiasmus« beruht auf der großen Entdeckung, dass es Balzac gelungen war, durch die radikale Analyse von Psychologie und Physiologie seinem Roman und damit dem Roman schlechthin eine ganz neue Dimension zu eröffnen. La femme de trente ans, zerfahren bis hin zur Räuberpistole, kann Flaubert als Kunstwerk kaum überzeugt haben; elektrisiert hat ihn die Konsequenz: Wenn Balzac seine Heldin – allerdings war ihm Stendhal mit Madame de Rênal vorausgegangen – ausdrücklich über ihr Alter definiert, ein Alter nach der damaligen Konvention und Psychologie längst jenseits von erotischer, geschweige sexueller Leidenschaft, dann hat er mit ihr der Literatur einen bisher unbekannten Typus geschenkt, und zwar einen, der wahrer ist als das bisherige Bild von Weiblichkeit.

      Wahrheit ist für Flaubert immer Desillusionierung. Mit dem, was er hier in Balzacs Kunst entdeckte, verlässt der französische Roman endgültig das achtzehnte Jahrhundert des Choderlos de Laclos. Flauberts frühere Figuren bedienten sich allzu oft noch der traditionellen Stilisierungen und Handlungsmotive; von nun an müssen sie sich an ihrer eigenen Gegenwart ausweisen. Doch der »Kontinent«, der sich eröffnet, verlangt nicht nur »nach einem großen Moralisten«, sondern nach »einem großen Künstler«! Die ästhetische Herausforderung ist für Flaubert eins mit der psychologischen. Für Madame Bovary ist die Balzac-Passage von 1847 gar nicht zu überschätzen, denn auch wenn der ästhetische Hasser des Bürgertums Flaubert zu etwas völlig anderem gelangte als der epische Chronist Balzac, die gnadenlos genaue Psychologie seiner berühmtesten Ehebrecherin wird genau das sein, was er in der Frau von dreißig Jahren als Zukunft des Romans erkannte: die Kritik des Bürgertums durch Analyse und darüber hinaus die äußerste Schärfung der Analyse durch die Sprache. Der konsequenteste, radikalste und damit auch genaueste Gebrauch der Sprache war für Flaubert nun aber unwiderruflich die Kunst, die Literatur.

      Im Januar 1844 wurde Flaubert von der ersten Attacke der Krankheit überfallen, im Januar 1845 hatte er die Éducation sentimentale beendet, von April bis Juni dauerte die italienische Reise, bei der ihm in Genua Breughels Versuchung des heiligen Antonius die Idee zu einem neuen Werk eingab, doch die familiäre Katastrophe zu Beginn des Jahres 1846 unterbricht auch alle literarischen Pläne. Am 15. Januar stirbt mit einundsechzig Jahren der Vater Achille-Cléophas, am 21. Januar bringt Flauberts Schwester Caroline eine Tochter zur Welt, doch sie selbst stirbt am 22. März im Kindbett. Die eben noch lebendige Familie ist mit einem Schlag zerstört. Der Bruder Achille übernahm nunmehr das Amt des Vaters, den er eben noch bis zum Tode gepflegt hatte. Die Übriggebliebenen, Gustave, seine Mutter und Carolines Tochter, verließen das Hôtel-Dieu und zogen sich endgültig zurück nach Croisset, und damit ist nun auch von den Orten her die Existenz des Schriftstellers Flaubert unwiderruflich festgelegt. Abgesehen von Reisen wird Flaubert sein Leben an zwei Orten verbringen: hier Croisset, die Einsiedelei, die er mit seiner Mutter teilt, das Schreiblabor, das Gueuloir im Pavillon über der Seine; dort Paris, die literarischen Milieus, die Freunde aus Kunst und Gesellschaft. Im Juli 1846 lernte er da, im Atelier des Bildhauers James Pradier, auch die Schriftstellerin Louise Colet kennen, mit der er fast ein Jahrzehnt lang eine leidenschaftliche und höchst problematische Liaison führen wird. Der Flaubert der Jugendwerke und -briefe existiert nicht mehr. Die Katastrophe, die unmittelbare Erfahrung des Todes, hat den romantischen, pubertären Weltschmerz pulverisiert; durch die folgenden Briefe klingt die wirkliche Verzweiflung; an die Stelle der fernen Anbetung der imaginären Geliebten tritt eine wirkliche Frau. Flaubert führt von nun an das Leben eines Schriftstellers, und er wird, zumindest in Paris, als ein solcher behandelt – und hat doch nicht ein einziges Werk vorzuweisen. Flaubert hat, darüber hinaus, auch gar keinen Versuch unternommen, eines seiner zahlreichen Manuskripte, unter denen sich nun auch bereits drei umfangreichere Romane befinden, zu veröffentlichen, der erste Ansatz zu einem solchen Versuch wird erst die berühmte, in einem vollkommenen Fiasko endende Vorlesung der Tentation de saint Antoine im Jahre 1849, dann herrscht bis zum Erscheinen der Madame Bovary wiederum acht Jahre Schweigen. Diese erstaunliche Zurückhaltung ist das negative Zeichen für Flauberts Entscheidung zu einer radikal ästhetischen Existenz, in der nicht die Öffentlichkeit, nicht die Darstellung nach außen zählt, sondern nur das künstlerische Bewusstsein vom Gelingen oder Scheitern selbst. Und Flaubert war es vollkommen bewusst, den eigenen Kriterien nach war noch keines seiner Werke gelungen.

      Diese Kriterien müssen für Familie, Freunde und Bekannte nach wie vor schwer begreiflich gewesen sein, denn noch immer war Flauberts Schaffen bestimmt durch extrem gegensätzliche Tendenzen. In einem berühmten Brief an Louise Colet wird er am 16. Januar 1852 im Rückblick analysieren, wie er seine Situation nach Abschluss der Éducation sentimentale empfand: »Es gibt, literarisch gesprochen, zwei deutlich unterschiedene Burschen in mir: Der eine ist begeistert von Brüllerei [gueulades], von Lyrismus, von hohen Adlerflügen, von allen Wohlklängen des Satzes und den Gipfeln des Gedankens; der andere wühlt und gräbt, so tief er kann, in das Wahre und liebt es, das kleine Faktum ebenso kräftig herauszuarbeiten wie das große, er möchte die Dinge, die er reproduziert, fast materiell spüren lassen; dieser liebt das Lachen und gefällt sich im Animalischen des Menschen. Die Éducation sentimentale war, ohne mein Wissen, ein Versuch, die beiden Tendenzen meines Geistes zu verschmelzen (es wäre leichter gewesen, in einem Buch das Menschliche zu gestalten und in einem anderen den Lyrismus). Ich bin gescheitert. […] Zusammengefasst: Man müsste für die Éducation das ganze neu schreiben oder wenigstens neu abstützen, man müsste zwei oder drei Kapitel neu machen und, was mir am allerschwierigsten scheint, ein fehlendes Kapitel schreiben und in ihm zeigen, wie der Stamm sich zwangsläufig hat verzweigen müssen, das heißt, warum eine bestimmte Handlung bei einer Person ein bestimmtes Ergebnis gehabt hat und nicht eine andere. Die Ursachen werden gezeigt, die Ergebnisse auch; aber die Verkettung von Ursache und Wirkung keineswegs. Da liegt der Fehler des Buches, und deshalb straft es seinen Titel Lügen.« Flaubert ist hier in seiner Selbstkritik nicht wirklich konsequent. Zum einen erkennt er sehr genau den Mangel an präziser Analyse der Figuren und vor allem ihrer äußeren Bedingungen, aus denen er, beinahe deterministisch, ihr Schicksal ableiten will. Zum anderen sieht er aber in der Éducation etwas, was eher Novembre gewesen ist, nämlich die Verbindung von Analyse und Lyrismus, und genaugenommen hatte sich Flaubert noch nie so weit vom puren Lyrismus entfernt wie mit der Éducation. Auch der Begriff der »Verschmelzung« – »un effort de fusion« – trifft nur begrenzt, stehen doch die beiden Tendenzen in den frühen Schriften noch einigermaßen unverbunden einander gegenüber.

      Als Flaubert seinen Brief an Louise Colet schreibt, liegt die Erfahrung der größten »gueulade« bereits hinter ihm, und auch sie ist von Scheitern gekrönt: »Ich habe Dir gesagt, dass die Éducation ein Versuch gewesen ist, Saint Antoine ist ein weiterer. Da ich ein Thema gewählt hatte, das mir für Lyrismus, Bewegungen, Verwirrungen völlige Freiheit ließ, befand ich mich mit meinem Wesen ganz in Übereinstimmung und brauchte nur vorwärtszugehen. Nie wieder werde ich solche Berauschungen am Stil erreichen, wie ich sie mir hier achtzehn Monate lang gönnte! Mit welcher Begeisterung schliff ich die Perlen meines Colliers! Ich habe nur eins vergessen, den Faden. Zweiter Versuch und schlimmer noch als der erste. Jetzt bin ich an meinem dritten. Es ist Zeit, etwas zu schaffen oder aus dem Fenster zu springen.« Der Saint Antoine aber ist genauso wenig, wenn auch in anderem Sinne, wie die Éducation eine »Verschmelzung«, ist vielmehr der radikalste Ansatz, die »gueulade« zum Stilprinzip eines gesamten Werkes zu machen, den Flaubert

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