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1857. Wolfgang Matz
Читать онлайн.Название 1857
Год выпуска 0
isbn 9783835345911
Автор произведения Wolfgang Matz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Viermal setzte Flaubert zu seiner eigenen Geschichte an: 1837 mit dem Fragment La dernière heure, das vor den lebensentscheidenden Momenten abbricht, 1838 mit den Mémoires d’un fou, 1842 mit Novembre und 1843 mit der Éducation sentimentale, die ihn zwei Jahre lang, bis 1845, beschäftigen wird. Die drei letzten zählen dann bereits zum engeren Kreis von Flauberts Werk, doch bei keinem hat er einen Versuch zur Veröffentlichung unternommen. Umstritten ist schon das Genre: Sind es autobiographische Zeugnisse oder literarische Werke? Kann man, wie häufig geschehen, das Berichtete als Tatsachen aus Gustave Flauberts Leben verstehen? Die Antwort ist eindeutig: Der Leser hat vor sich drei Romane, deren Hintergrund nur durch Flauberts eigenes Leben verständlich wird, doch der Zirkelschluss, man habe es mit unmittelbaren Lebenstatsachen zu tun, verbietet sich trotzdem. Die Verwandlung von Leben in Literatur, das bestätigen Flauberts frühe Versuche, ist ein ästhetischer Transformationsprozess, dessen Umkehrung unmöglich ist; im Gegenteil: Nicht das Aufsuchen von nachweisbaren Lebenstatsachen, die selbstverständlich gerade in diesen Texten zu finden sind, gibt Aufklärung über das, was literarisch hier geschieht, sondern nur der Transformationsprozess selber, seine Variationen, Durchführungen, Reprisen des gelebten Lebens, das jetzt zum Stoff geworden ist. In keiner der drei frühen Erzählungen, die sich im Tatsächlichen zudem auch bedeutend unterscheiden, ist das empirische Individuum Gustave Flaubert zu entdecken; aber offen stellt sich der Schriftsteller Flaubert dar, wie er selbst sich sehen, verstanden wissen, als Schreibender konstituieren will. Autobiographisch ist nicht so sehr der Realgehalt von Literatur, autobiographisch ist das literarische Verfahren selbst.
Verblüffend wirkt nun vor allem eines, nämlich wie aus dem jungen Gustave in diesen Jahren endgültig etwas anderes geworden ist, der erwachsene Flaubert. Man staunt, wie ein Neunzehn- und Zwanzigjähriger die Rolle des abgeklärten, ironischen Misanthropen bereits so ausgezeichnet beherrscht, und man findet in seinen Tagebüchern Sätze, die man eher in den späteren Briefen aus dem »gueuloir« von Croisset gesucht hätte: »Bescheidenheit ist von allen Niedrigkeiten die überheblichste«, »Was die Moral im allgemeinen betrifft, ich glaube nicht an sie; sie ist ein Gefühl und keine notwendige Idee«, »Vom Menschen erwarte ich jedes erdenkliche Übel«, »Die Menschheitsgeschichte ist eine Farce«. Alle drei Erzählungen beginnen in diesem Ton, die Mémoires d’un fou aber bereits mit einer fast Cioranschen Beschwörung der »letzten Grenzen der Verzweiflung«. Dieser Grundton ist es, was alle Werke dieser Jahre miteinander verbindet, die autobiographisch getönten wie die anderen, denn Flauberts Arbeit ist durchaus nicht konsequent und zielgerichtet, ist vielmehr ein Suchen und Versuchen in verschiedene Richtungen, in verschiedenen Genres und verschiedenen sprachlichen Registern. So entsteht zwischen den Mémoires und Novembre neben anderem auch Smar, der erste Vorläufer des lebenslangen Schmerzenskindes Tentation de saint Antoine, also ein groß orchestriertes Mysterienspiel, mit seiner allegorischen Bildhaftigkeit dem versuchten Realismus der Selberlebensbeschreibungen vollkommen entgegengesetzt. Dieses Schwanken zwischen ganz und gar verschiedenen Schreibweisen mag bei einem jungen Schriftsteller am Anfang seines künstlerischen Weges normales Zeichen sein für den noch nicht gelungenen Durchbruch zum Eigenen, bei Flaubert, einem Autor, dessen vollendete und reifste Werke Madame Bovary, Salammbô, L’Éducation sentimentale, La Tentation de saint Antoine und Trois contes heißen werden, reicht diese Erklärung kaum aus. Nein, im Nebeneinander von Smar und Novembre, der frühen Éducation sentimentale und des ersten Saint Antoine zeigt sich bereits die Konstante von Flauberts Lebenswerk; das Entscheidende seiner Ästhetik wird weder in der Handlung als solcher liegen, in ihrer Nähe oder Ferne zur Gegenwart, noch im realistischen oder allegorischen Wesen des Erzählens.
Diese Flaubertsche Eigenheit führt zu einer paradoxen Tatsache: Die Mémoires d’un fou sind von den frühen autobiographischen Versuchen das am wenigsten realistische Buch und zugleich dasjenige, in dem am meisten aufzufinden ist von dem wirklichen Flaubert jener Jahre. Diese Erzählung eines Siebzehnjährigen ist zunächst der poetische, literarisierte Ausdruck einer Seelenverfassung, wie sie die romantische Epoche liebte: Der Überdruss an der Trivialität des Alltags und die Faszination durch Byron, Shakespeare und Goethes Werther, das Leiden an der Abwesenheit von Liebe und die herrische Verwerfung derselben Liebe, nichts davon ist originell. Doch die traditionelle jugendliche Lebensmüdigkeit steigert Flaubert noch durch seine eigentümliche Betonung des verfrühten Alterns: »Später werde ich Ihnen all die Phasen dieses trübsinnigen und meditativen Lebens erzählen, das ich mit verschränkten Armen neben dem Kaminfeuer verbrachte, mit einem ewigen Gähnen der Langeweile« – dies die Worte eines Siebzehnjährigen, der in der Haltung eines desillusionierten, eine lange und große Vergangenheit kontemplierenden Zynismus seiner »alten, verdorbenen Gesellschaft« und dem »Misthaufen, den sie ihre Schätze nennt«, das Urteil spricht: »Alles verlangt die totale Zerstörung.« Und auch die Ausweitung in einen kosmologischen, metaphysischen Nihilismus, die Metaphorik von Tod und Vergänglichkeit, nichts davon ist unbekannt in Flauberts Jugendschriften. Was jedoch neu ist in den Mémoires d’un fou, das ist ein Motiv aus der eigenen Biographie: die unmögliche Liebe. Ein anderes Bild des Eros wird es in Flauberts Lebenswerk nicht geben, und hier, im Jahre 1838, erscheint es zum ersten Mal.
Während der Sommerferien 1836 machte Flaubert im Seebad Trouville die Bekanntschaft der sechsundzwanzigjährigen, also elf Jahre älteren Élisa Foucault, die mit dem Musikverleger Maurice Schlésinger und der gemeinsamen Tochter zusammenlebte, als seine Ehefrau galt und selbst den Namen Élisa Schlésinger führte. Diese Begegnung, ihre Folgen und mehr noch ihre ausgebliebenen Folgen, ist die eigentliche Schlüsselszene all jener Werke Flauberts, die irgendwie durch autobiographische Motive geprägt sind – von den Mémoires d’un fou bis hin zur großen Éducation sentimentale des Jahres 1869; und Splitter, Bruchstücke werden sich verfremdet selbst in Madame Bovary und Salammbô finden. In jenem Sommer entbrannte der junge Mann nun in einer Leidenschaft für Élisa Schlésinger, die nur noch verstärkt wurde durch ihre Unmöglichkeit. Die Hauptszenen dieser Liebe zwischen Sommergästen in Trouville genießen bei Biographen und anderen Flaubertiens höchsten Ruhm: Élisas am Strand vergessener Bademantel, den Gustave vor der Flut rettet, und ihr Dank für den galanten jungen Herrn; Gustaves Blick auf den üppigen Busen der stillenden Mutter, die auf immer sein Schönheitsideal bestimmen sollte; der Eifersüchtige, der sich nächtens unter dem ehelichen Schlafzimmerfenster seinen wollüstigen und hassvollen Träumereien hingibt; der Abschied und die Rückkehr ein Jahr später in ein Trouville ohne Élisa. All das wird sich wirklich zugetragen haben, doch all das kennen wir nur aus der Literatur. In Flauberts unendlichem Briefwechsel gibt es verborgene Anspielungen auf Élisa; die Liebe selbst und ihre Wirklichkeit jedoch hat er anderen gegenüber nie erwähnt. In der Literatur aber erfährt seine Geschichte so viele Veränderungen, Verfremdungen, Verdichtungen, dass nicht viel mehr zu erschließen ist als die äußeren Fakten und Daten. Élisas eigentliche Bedeutung für Flaubert, ihre Stilisierung zu seiner unmöglichen Liebe, zum lebenslangen Wunschbild, zur vollkommenen Inkarnation weiblicher Erotik, all das ist durch die Literarisierung so stark gefiltert, dass die Erzählungen selbst, die Bildlichkeit der Szenen, die Dialoge, die Empfindungen des Helden, seine Reflexionen nach dem Abschied, unmöglich – wie dennoch allzu oft geschehen – als biographische Tatsachen genommen werden können. Élisa wurde für Flaubert zugleich zu einer realen und zu einer literarischen Figur. Denn als er ihr wenige Jahre später in Paris wiederbegegnete und zu ihr und Maurice Schlésinger einen durchaus regelmäßigen gesellschaftlichen Verkehr aufnahm, da stand er vor einer Frau, die inzwischen, und selbstverständlich ohne ihr Wissen, bereits »Maria« geworden war, Hauptfigur eines Romans mit dem Titel Mémoires d’un fou. Gewiss lebte Flauberts Verliebtheit auch in der empirischen Realität einige Jahre weiter, doch kann man sicher sein, dass die literarische die wirkliche Frau langsam verdrängte.
Die Liebe Flauberts kam erst zu sich selber, als sie den– biographisch gesehen denkbar geringen – realen Auslöser hinter sich gelassen, als sie sich verwandelt hatte in Erinnerung, ins Imaginäre. Das Imaginäre des Schriftstellers aber ist seine Literatur, und so kann man im wörtlichen Sinne sagen, dass die eigentliche Liebe Flauberts nicht die wäre, die man am Strande von Trouville biographisch rekonstruiert wiederfinden würde,