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      Salafisten-Läden sind ein Renner in Kairos Bezirken wie dem von Rita. Zu den typischen Angeboten gehören auch salafistische Bekleidung, Umhänge für Frauen und Hemden für Männer. Regale voll mit salafistischer Literatur werden angeboten, etwa Bücher mit Orientierungshilfe bei der Kindererziehung oder bei der Behandlung von Frauen.

      Ich blättere diese Bücher durch. Zwischen kurzen Texten befinden sich Zeichnungen wie die von einem Mädchen unter einem Ganzkörperumhang. Die Augen sind bis zur Pubertät noch nicht verhüllt.

      In den Texten wird beschrieben, erklären mir die Verkäufer, dass ein Mädchen sich schon früh an den Umhang gewöhnen sollte. Die Heirat sei der Zeitpunkt, ihn überzustreifen und sich, so viel wie möglich, zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit. Die Wohnung bzw. die Küche wird die Welt der Salafistin, auch wenn nicht alle Religiösen dies vertreten. Sonst würden in Kairos Stadtvierteln nicht so viele Salafistinnen zu sehen sein, von Rita Schwestern genannt. Manchmal nennt sie auch mich so, unabsichtlich. Frauen sind Schwestern, Männer heißen Brüder.

      In allen Läden der Frommen sind verschiedenste Ausgaben des Korans, des wichtigsten aller Bücher, stapelweise ausgestellt. Koran-Ausgaben sind in den meisten ägyptischen Haushalten nichts Ungewöhnliches. Rita trägt die ihre in der Handtasche mit sich herum, um überall, wo sie ist, darin zu lesen. Sie sitzt neben mir im Taxi und zieht, während wir im Stau stehen, ihren Koran hervor. Auch eine Gebetskette hat sie mit, mit der sie eine Sure nach der anderen mit leiser Stimme vor sich hinbetet. Zwischendurch höre ich sie mit einem Seufzer Allah, Allah! sagen.

      An Ritas Eigenheiten kann ich mich schnell gewöhnen, außer an ihren Umhang. Ich bin nicht die einzige, die damit Schwierigkeiten hat. Ihrer Schwester Dina geht es genauso. Sie erzählt mir die Geschichte, wie sie Rita zum ersten Mal in der Tür mit dem Umhang auftauchen sah. Es war im Frühjahr 2001. Fast in Ohnmacht sei sie gefallen, meint sie, und damals habe sie noch gehofft, es sei eine vorübergehende Laune ihrer Schwester. Diese Hoffnung musste die Bauchtänzerin inzwischen aufgeben.

      Mit Umhang, Niqab genannt, wird im allgemeinen Sprachgebrauch ein über den Knöchel gehender Mantel plus Gesichtsschleier bezeichnet. Trägerinnen müssen ein rechteckiges Stück undurchsichtigen Stoff mit zwei Bändern hinter dem Kopf befestigen und je nach Schnitt und Modell den unteren Teil nach hinten werfen. Zusammengehalten wird der Schlitz zusätzlich mit einem dünnen Faden über der Nasenwurzel. Streng genommen heißt nur der Schleier vor dem Gesicht Niqab. Alles außer der Gesichtsbedeckung gehört zur Kleidung von religiösen, aber nicht-salafistischen Frauen: der Mantel, Abaya, dazu blickdichte Strümpfe, um die Haut bei den Knöcheln zu bedecken, und die Schuhe, für die es keine strikten Regeln gibt. Nur strenge Salafistinnen wie Rita ziehen sich in der Öffentlichkeit zusätzlich schwarze Handschuhe über. Sie dürfen nicht zu kurz sein. Bei Handbewegungen darf kein Stück Haut zu sehen sein.

      Jeder Zentimeter des Frauenkörpers ist auf diese Weise unsichtbar. Rita besteht darauf, dass ich wissen müsse, dass Umhänge nicht körpernah sein dürfen. Wenn ich nicht erfahren hätte, dass sie gerade fünfzig geworden ist, würde ich nicht einmal ihr Alter erraten können. Sie ist nichts als eine dunkle, relativ kleine Gestalt für mich. Bei unseren späteren Treffen draußen ging ich manchmal beinahe an ihr vorbei, so schwierig war es für mich, Rita zu erkennen. Besonders schwierig ist es, wenn Rita zwischen anderen Niqab-Trägerinnen steht. Es ist Rita, die mir den Tipp gibt, ich solle nicht nach dem Sehschlitz forschen oder Augenkontakt suchen, sondern nach ihrer Handtasche Ausschau halten. Das sei, sagt sie, das leichteste Erkennungszeichen, wie sie es auch praktiziere zwischen sich und ihren Freundinnen. Sie trägt eine schwarze Handtasche ohne besondere Kennzeichen an ihrem Handgelenk, was mir die Sache nicht erleichtert. Wenn wir miteinander sprechen, stelle ich mir vor, wie sie meine Reaktionen, einen Augenaufschlag oder einen kritischen Blick, genau verfolgt unter ihrem Gesichtsschleier. Es ist nutzlos, da etwas hineinzuinterpretieren oder gar nach ihren Gefühlen zu forschen. Die Salafistin öffnet sich, aber nur, wenn sie will.

      Obwohl ich längst weiß, dass sie Rokkaya heißt, sagt sie mir erst einige Monate nach unserem Kennenlernen, dass sie nicht mehr Rita heiße. My name ist Rokkaya – like the daughter of the prophet!

      Eine Geste der vorsichtigen Annäherung.

      2 Eine ägyptische Kindheit

      Fotos über Fotos. Mehrere Schachteln voll und dazu noch einige Alben. Ich nehme ein Foto nach dem anderen in die Hand. Rita und Dina. Die Mutter. Weihnachten Mitte der Sechzigerjahre.

      Auf einigen der vergilbten Schwarz-Weiß-Aufnahmen hocken die beiden Töchter aus der muslimischen Mittelstandsfamilie ausgerechnet neben einem überreich geschmückten Weihnachtsbaum, die etwas jüngere Dina ist heller, Rita hingegen hat dunkle Augen und einen niedlichen Krausekopf. Die beiden Schwestern müssen um die vier bzw. fünfeinhalb sein. Rita ist um knapp anderthalb Jahre älter als Dina. Die Aufnahme muss kurz vor dem Zeitpunkt gemacht worden sein, als der Vater nach einigen Jahren im römischen Büro der ägyptischen Nachrichtenagentur zurück nach Kairo versetzt wird. Laut Dina war er Journalist und nicht besonders gläubig. Weihnachtsdekor aber ist heute bei vielen Muslimen nichts Ungewöhnliches. Zur Weihnachtszeit ist Kairo geschmückt wie ein Christbaum, den es in ein arabisches Land verschlagen hat.

      Wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Europa für Kleinkinder Mode, tragen die Schwestern auf den meisten Aufnahmen eng am Oberkörper anliegende Kleider, die an der Taille extrem bauchig werden. Rüschen in allen Größen und Formen haben es ihnen angetan. Die Mädchen, wohlgenährt, sitzen auf Teppichen oder Fauteuils. Nirgendwo ist etwas Besonderes zu erkennen, sieht man davon ab, dass manchmal Rita ernst dreinsieht, und manchmal ist ihre Schwester die mit einer Trauermiene. Mädchen halt, die fotografiert werden und daher ruhig halten müssen.

      Neben den Fotos in den Schachteln von mehreren Weihnachten finde ich in den Alben ähnliche Aufnahmen von Geburtstagsfeiern oder Familienzusammenkünften, alles aufgehoben von Dina in einem Schrank in ihrer zweistöckigen Eigentumswohnung in Doqqi. Wenn Dina mich in diese hineinlässt, was sie bereitwillig tut, ist das wie eine Reise in Ägyptens Vergangenheit.

      Ein Apartment, ausgelegt mit dicken Perserteppichen, ausgestattet mit Stilmöbeln, Kommoden und verschnörkelten Kästen ebenso wie mit orientalischem Kitschdekor, und dazu ein rund um die Uhr eingeschaltetes Radio in der Küche, um mögliche Einbrecher zu täuschen. Dina erlaubt, dass ich mich hier umsehe, denn sie lebt nicht mehr in der herrschaftlichen Wohnung in dem Viertel entlang des Nils. Früher war es eine der besten Adressen für Geschäftsleute und Botschafter. Es gibt hier Wohnungen, weitläufig wie ein Fußballplatz. Dinas Wohnung ist der Größe nach einer mehrköpfigen Familie würdig. Ich zähle acht Zimmer, neben Dinas Kammer mit den Bauchtanzkostümen, angesammelt in Jahrzehnten, an denen sie genauso sentimental hängt wie an den Kindheitserinnerungen. Sie scheint nichts wegzuwerfen. Alles wird aufgehoben. Sie hätte die Wohnung, die sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem bekannten Regisseur Samah al-Baghuri, und dem gemeinsamen Sohn bewohnte, längst für gutes Geld an den Mann bringen können. Die Bauchtänzerin behält sie.

      Auffallend sind die Ölgemälde an den Wänden, die teurer aussehen, als sie sind: Es sind friedliche Naturszenen von Alpengegenden. Untypisch wie die Familienfotos, jedenfalls verglichen mit dem chaotischen Moloch Kairo von heute. Ich sehe all die gelblichen Aufnahmen durch, auf der Suche nach einer Frau, wie ich sie heute überall sehe, einer mit Kopftuch. Ich finde keine einzige. Dafür blickt mir eine ausgesprochen gutaussehende Frau entgegen, die Mutter, eine schlanke Gestalt, mit einem damals modischen Kurzhaarschnitt und völlig westlich gekleidet, soweit ich das nach den Bildern beurteilen kann.

      Dinas und Ritas Vater ist hingegen wie weggezaubert auf den meisten Fotos, obwohl er überall bei den Aufnahmen mit dabei war. Er existiert nicht mehr. Aus Weihnachtserinnerungen, aus allen Fotos ist seine Gestalt sorgfältig mit einer Schere herausgeschnitten. Aus einigen Bildern wurde er herausgerissen, als hätte es jemand in einem Wutanfall getan.

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