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sie es in der Finsternis und in ihrer Panik überhaupt sehen konnte, sei die Behinderte so misshandelt worden, dass sie, ihrer Auffassung nach, ins Krankenhaus müsste. Sie habe geblutet. Sie habe versucht, auf allen Vieren wegzurobben. Die Männer hätten sie wieder geschnappt und zu sich gezerrt.

      Wenn der Mutter Gewalt angetan wurde, so verliert sie kein Wort darüber. Sie schweigt, während die Tochter mir den Hergang ihrer sexuellen Nötigung in gebrochenem Englisch beschreibt. Zwischendurch sieht sie sich misstrauisch um in dem leeren, verglasten Raum des Hotel Hilton am Tahrir-Platz. Sie will nicht, dass unabsichtlich Zeugen lauschen. Außer ein paar Kellnern und mir ist ohnehin niemand mehr da. Das Abendbuffet ist längst abgeräumt und war es schon, als ich hungrig aufgetaucht bin. Das Personal servierte mir gerade ein aufgewärmtes Gericht, als die beiden Frauen hereingeführt wurden, damit die Polizei sie da finden könne. So kamen wir ins Gespräch.

      Mutter und Tochter sind westlich angezogen – sieht man von dem Kopftuch ab, das die Mutter locker um die Haare umgebunden hat, ein teuer aussehendes, schickes Kopftuch, was darauf hinweist, dass sie zwar religiös ist, aber wohlhabender als viele in Ägypten. Leute aus der ägyptischen Mittelschicht ziehen sich so an, weil sie mit einem Fuß in der modernen Welt, mit dem anderen noch in der Vergangenheit stehen. Frömmigkeit zeigen gehört dazu. Bei genauem Hinsehen merke ich, dass die Mutter leicht zittert. Die unterwürfige Tochter scheint schicksalsergeben.

      Sie sei Studentin, erzählt das Mädchen, während sie einen Schluck Wasser trinkt. Sie wartet nun auf den zweiten Teil der Qual in dieser Nacht: das Verhör.

      In den Quartieren der ägyptischen Polizei und der Armee ist es üblich, »Jungfrauentests« durchzuführen im Falle eines Verdachts der Prostitution, die in Ägypten verboten ist und mit sechs Jahren Freiheitsentzug bestraft wird. Vergewaltiger gingen in Ägypten hingegen bis zum Jahre 1999 straffrei aus, solange sie das Opfer heirateten. Seither gibt es Prozesse mit milden Strafen. Es sind endlose, bürokratische Verfahren mit einem voraussehbaren Ende. Die Akten werden ohne Urteilsspruch abgelegt – wie bei den Verfahren davor und denen danach.

      In den Polizeistationen getestet zu werden, wird gerechtfertigt mit dem Argument, so könne die Frau später nicht behaupten, sie sei von den Polizisten vergewaltigt worden. Das ist die kalte Logik der Sicherheitskräfte. Sich gegen diese erniedrigende Prozedur zu wehren, ist für eine junge Ägypterin zwecklos. Sie wird gleich vor Ort von einem Polizeiarzt, meistens ein Mann, gynäkologisch untersucht, außer sie hat Glück und die Sicherheitskräfte können keinen auftreiben.

      Nach Vergewaltigung, Polizei-Jungfrauentest und Entlassung aus der Haft beginnt das nächste schwierige Kapitel, die Rückkehr in die Familie. Es ist nicht leichter zu ertragen als die vorigen.

      Mädchen aus besserem Haus können die gesellschaftliche Schande mit dem Gang zu einem diskreten Arzt so weit als möglich rückgängig machen. Die operative Wiederherstellung des Hymens ist in Ägypten weit verbreitet. Bei Vergewaltigungen, oder auch in Fällen von freiwilligem Geschlechtsverkehr, einer unverheirateten Frau. Dies ist die einzige Garantie, damit das Opfer in der Hochzeitsnacht sicher sein kann, als Jungfrau in die Ehe zu gehen und damit ihren eigenen Ruf, den des Bräutigams und den der Familie zu erhalten. Ehre ist ein oft gebrauchtes Wort in Ägypten. Ehre des Ehemanns. Ehre der Familie. Die Ehre der Frau hängt in vielen Fällen von der Ehre der anderen ab.

      Jungfernhäutchen und damit Ehre wiederherzustellen, so lese ich, ist ein Riesengeschäft. Wegen der starken Nachfrage bietet eine chinesische Firma im Internet ein künstliches Hymen an, das mit Kunstblut beschichtet ist. Es löst sich bei Wärme und Feuchtigkeit auf und bildet einen roten Kunstblutfleck.

      Das ungeschriebene Gesetz der Jungfräulichkeit geistert durch alle Schichten, egal ob Mittelstand oder Slumbewohner. Pubertierende Mädchen nehmen nicht am Sportunterricht teil, weil das Hymen da angeblich verletzt werden könne. So etwas gehört sich nicht in einem Land des Islams, der Traditionen, einer Mischung aus allem. Eine Frau hat auf sich aufzupassen.

      Sie hat wenig mehr zu verlieren als ihre Ehre.

      Das Mädchen, das ich treffe, verliert die ihre in der Nacht auf den 2. Februar 2011 am Ende eines Protesttages, an dem für Freiheit demonstriert wird. Wie viele andere Frauen an diesem Tag dasselbe Schicksal ereilt, ist unbekannt. Es würde mich wundern, wenn die Polizei Buch führen würde über Vergewaltigungen oder erzwungene Jungfrauentests.

       An einem der Tage davor

      Abenddämmerung bricht an, als eine andere junge Frau, ungefähr im selben Alter, vor meinen Augen auf eine Absperrung zuläuft und ein Polizist eine Pistole in die Luft streckt, um sie zu erschießen.

      Während sie weiterrennt mit wehenden Haaren, verliert sie einen ihrer Flipflops und ich sehe, wie sie der Länge nach, nicht weit von mir entfernt, zu Boden stürzt. In der ersten Sekunde sieht es aus, als hätte der Sicherheitsmann abgedrückt und die junge Frau getroffen.

      Jeder, der aus Ägypten berichtet, weiß, dass Vorwarnungen unüblich sind bei ägyptischen Sicherheitskräften. Dass geschossen wird, muss nicht angekündigt werden. Im Nachhinein gibt es keine Rechtfertigung, weder von Uniformierten noch von den Männern in Zivilkleidung, die, auf Dächern stationiert, eine Menschenmenge mit ihren Scharfschützengewehren in Schrecken versetzen können, indem sie einmal abdrücken. Nur ein Schuss genügt und jeder verschwindet in einem Hauseingang, allein aus Angst, er könnte der Nächste sein.

      Hier gelten nicht dieselben Regeln wie in westlichen Ländern, wo der Einsatz von Scharfschützen bei Protesten nicht üblich ist. Im Westen müssen Sicherheitskräfte erkenntlich sein. Nicht so in Kairo. Polizei, Geheimdienste und Armee bestimmen die Regeln. Sie sind allmächtig, ein unberührbarer Staat im Staat.

      Bei Polizeieinsätzen verletzte Demonstranten liegen oft stundenlang in Hauseingängen, bevor sie ein Krankenwagen aufnimmt. Eine Bergung der Opfer hat für die Polizei keinen Vorrang. Der gesamte Staatsapparat ist ein Musterbeispiel an Willkür, beginnend bei den Jungfrauentests und endend beim Erschießen von unschuldigen Zivilisten.

      Das kommt mir unwillkürlich in den Sinn in diesem Bruchteil von Sekunden. Die junge Frau liegt noch immer auf dem Boden.

      Ich hätte sie zurückgehalten, wäre ich nicht abgelenkt gewesen vom Lärm in einer Seitenstraße. Die Katastrophe ist beinahe schon geschehen, als ich die Szene schließlich sehe.

      Jetzt steht sie wieder auf. Sie erhebt sich genau vor dem Mann mit der Pistole. In einer Mischung von Unterwerfung und Trotz sagt sie: Law samaht! Bitte! Wir wollen zum Hotel Hilton! Der Polizist kann seine Augen nicht von ihr lösen, beinahe legt er seine Hand um ihre Taille, während er ihr erklärt, wir müssten auf die entgegengesetzte Seite des Platzes und das gehe nur über einen weiten Umweg, weil es überall Polizeisperren gebe. Da sei ein direktes Weiterkommen unmöglich. Die junge Frau geht los. Alle Männer sehen ihr nach. Die Blicke sind verstohlen, aber eindeutig.

      Alle Regeln des Zusammenlebens in Kairo sind gerade im Begriff zu kollabieren. Nebel hängt in der Luft, der von Tränengas, das die Polizei wild verschießt, egal in welche Richtung. Die Horden von jungen Vorstadt-Jugendlichen bringen sich in den Seitengassen in Sicherheit, um sofort wieder aufzutauchen. Wir geraten ihnen in den Weg. Sie kommen auf uns zu. Schreie, Warnungen, Polizeisirenen sind in der Ferne zu hören. Männer mit Holzstöcken tauchen auf, die uns begleiten wollen – so seien wir sicherer. Wir hauen so schnell wie möglich ab.

      Weiter entfernt, unter der Autobahnbrücke, lungern die Vergewaltiger herum. Hungrig nach Freiheit, Streit, Einbrüchen oder Frauen, alles, was das chaotische Kairo in der aufbrechenden Revolution anbieten kann, ohne dass sie dafür bestraft werden.

      Erschöpft erreichen wir das Hotel. Wir setzen uns in das gläserne Restaurant, weil wir Hunger verspüren und dort gerade damit begonnen wird, das Buffet für das Abendessen aufzubauen. Zuerst bestellen wir Getränke.

      Und unmittelbar danach bricht es aus ihr heraus in einem nicht enden wollenden Wortschwall. So würde sie normalerweise

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