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Viertel der unteren Mittelklasse. Dichtbevölkert wie alle Bezirke der Stadt, außer man lebt in Oasen der Ruhe wie Heliopolis, Heimat der oberen Zehntausend. Dort ist nicht jeder Meter entweder verbaut mit einem Netz von halbfertigen Straßen oder von zum Teil unverputzten Gebäuden. Hier schon. Nicht berücksichtigt sind dabei die unzähligen Karren mit Obst, Gemüse oder sonstigen Waren auf den Gehsteigen. Andere bieten auf Kohleöfen gegrillte Fleischspieße an. Keiner der Händler besitzt eine Lizenz. Kairos Polizisten sind nicht dazu da, Genehmigungen zu überprüfen, sondern um nebenbei etwas zu verdienen. Dazu sind die polizeilichen Kontrollen da. Damit die Händler bleiben dürfen, wo sie sind, müssen sie zahlen. Damit die ganze Maschinerie überhaupt funktioniert. Die Millionenstadt Kairo hat keinen Bürgermeister. Sie wird von mehreren Gouverneuren regiert, alle sind Militärs im Ruhestand. Und was in den oberen Etagen geschieht, geschieht unten auf der Straße. Es ist ein strukturloses, wildes Durcheinander.

      Trägerinnen von Niqabs, wie man den Schleier nennt, hinter dem Rita ihr Gesicht versteckt, sind hier normal. Niemand gafft ihr nach. Selbst Kindern sind die schwarz gekleideten Gestalten vertraut. Ihnen nachzulaufen, um sie zu verspotten, gehört sich nicht. Sie hinter vorgehaltener Hand als Tod, der spazierengeht, zu bezeichnen, würde Rita in ganz Ägypten niemals hören. Der Ausdruck stammt von dem französischen Schriftsteller Guy de Maupassant, aus einer Welt ohne den gebührenden Respekt vor der Religion. Dort, im Westen, hält man religiöse Menschen für Hinterwäldler. Hier nicht.

      West ist West und Ost ist Ost.

      Ungläubiges Kopfschütteln gibt es hier, das ja. Eine strengreligiöse Frau zu beleidigen, das ist jedoch ausgeschlossen, und sei es nur aus Furcht vor Todesdrohungen von radikalen religiösen Gruppen.

      Ägypter gelten in der arabischen Welt als die Frommsten unter allen. Die meisten von ihnen sind noch dazu extrem abergläubisch.

      Zu ihrem Alltag gehört, neben der Angst vor bösen Geistern, vor allem der Respekt vor Allah, den sie täglich mit fünf verschiedenen Pflichtgebeten ehren. Wer sie vergisst, riskiert in Ägypten, von den Nachbarn schräg angesehen zu werden, weil er damit zeigt, dass er seine Prioritäten nicht kennt. Hinter seinem Rücken wird getratscht. Die soziale religiöse Kontrolle ist in einigen Vierteln stärker, in anderen schwächer. Aber es gibt sie überall.

      Selbst Ritas Schwester, immerhin eine Bauchtänzerin, betont mir gegenüber mehrmals, sie sei religiös. Die Bauchtänzerin meint nicht die Religiosität ihrer salafistischen Schwester, doch ohne religiöses Bekenntnis zu sein, könne sie sich nicht leisten.

      Wie wichtig die Religion ist, spiegelt sich in offiziellen Dokumenten wider. In ihnen ist die Religion eines jeden vermerkt: muslimisch, wie beinahe 90 Prozent der Bevölkerung, koptisch, wie ungefähr zehn Prozent der Ägypter. Die dritte anerkannte Religionszugehörigkeit ist die jüdische. Dazu gehört nur eine verschwindend kleine Minderheit. Die Bezeichnung ohne religiöses Bekenntnis ist in Ausweisen nicht vorgesehen.

      Insofern fällt Rita nicht wirklich auf, wenn sie mit ihrem Umhang unterwegs ist. Wenn auch wie überall in der Stadt Kopftücher überwiegen und Umhänge in der Minderheit sind, ist Rita hier zumindest mehr die Norm als ich. Mit meinen unbedeckten Haaren bin ich die Ausnahme. Blicke treffen eher mich als sie. Eine Frau an ihrer Seite ohne Kopfbedeckung ist Rita nicht recht. Sie spricht es nicht eindeutig aus, doch ich merke, dass es ihr lieber wäre, ich würde weniger auffallen.

      Die Arbeit mit Rita ist von Beginn an kompliziert. Misstrauen prägt unser Verhältnis. Bevor sie mich in ihrem Viertel herumführt, treffen wir einander zu einem allerersten Gespräch auf so etwas wie neutralem Boden, in der Wohnung ihrer Tochter, ausgerechnet einer Visagistin, die in einer TV-Anstalt Talkshow-Gäste vor den Auftritten schminkt. In ihr eigenes Heim will mich Rita lange nicht einlassen. Zuerst wolle sie ein klärendes Gespräch mit mir führen, sagt sie. Allein das zu organisieren, dauert mehrere Wochen. Es kommt erst nach zahlreichen Telefonaten zustande.

      Ritas geheimste Ängste stellen sich bei der abendlichen Zusammenkunft bald heraus. Sie fürchtet, sie würde notgedrungen nur in der zweiten Reihe hinter ihrer bekannten Schwester erwähnt werden, und wenn, dann würde ich sie in einem schlechten Licht darstellen. Dass der Salafismus in Europa gefürchtet ist, weiß sie. Sie kennt alle herrschenden Regeln wie das Umhang-Verbot in einigen europäischen Ländern. Das sei nur auf die negative Presse zurückzuführen, meint sie. Mit der Wirklichkeit habe das nichts zu tun. Zwischen den Zeilen lautet Ritas Botschaft, der Salafismus müsse nur richtig verstanden werden. Er sei nicht radikal. Sie lässt durchklingen, dass sie bereit wäre, ihn mir darzulegen.

      Mein Vorhaben sieht anders aus. Ursprünglich plane ich, eine Reportage über die Bauchtänzerin in einem zunehmend islamisierten Ägypten zu realisieren. Als ich von ihrer Schwester, der Salafistin, erfahre, wird aus der Geschichte über eine Frau eine Geschichte über zwei Frauen.

      Dazu gehört, dass ich mehr darüber erfahren will – nicht nur über den Salafismus, sondern über eine Frau, die früher Sängerin war. Zu diesem Zeitpunkt besitze ich noch nicht ihr Vertrauen. Nicht allein mir, niemandem in ihrer Familie verrät sie, warum sie so fasziniert ist vom Salafismus.

      Zusätzliche Hürde: Als Salafistin will Rita keinen Mann in ihre Wohnung lassen. Der Kameramann ist bei ihr schon allein aus religiösen Gründen unerwünscht. Mein Übersetzer Walid ist Ägypter. Er ist Muslim. Er hat jedoch einen Makel: Er ist kein Salafist.

      In Ritas Kreisen gilt schwarzer Kümmel als Wundermittel gegen jede Art von Krankheiten, lerne ich von ihr in dem Salafisten-Spezialitätenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Genauso wie Honig, den ein Bärtiger in dem vollgeräumten, engen Geschäft in Gläsern verschiedener Größe als das bei Salafisten beliebteste Süßmittel anbietet. In den Regalen stehen Behälter mit Kräutern, dazu Döschen mit alternativen Kosmetika, Naturreis, und in einer Schachtel verkauft er eine Art Wurzel. Damit putzen sich Salafisten die Zähne, anstatt eine Zahnbürste zu verwenden. Es gibt auch eine Alternativmedizin der Salafisten, Hegama genannt. Nichts fasziniert Rita mehr als diese Glasbehälter, die im Sechserpack angeboten werden. Sie sagt mir, sie sei in deren Anwendung von einer salafistischen Deutsch-Ägypterin ausgebildet worden. Sie zeigt mir, wie man die Kugel auf der Haut ansetzt, mit einer Handpumpe so lange pumpt, bis die Hautstelle rot anläuft. Daraufhin wird die Haut genau da angeschnitten, damit laut Rita verschmutztes Blut ablaufen könne. Sie glaubt fest daran, verschmutztes Blut sei der Grund aller Schmerzen. Diese Prozedur muss laut der Salafistin so lange wiederholt werden, bis der Kranke geheilt ist – wie bei dem im Mittelalter in Europa üblich gewesenen Aderlass.

      Mit dieser alternativen Heilmethode verdient sich Rita einen Teil ihres Lebensunterhaltes. Sie hat insofern keinen festen Job, als sie die meiste Zeit des Tages für ihre Haupttätigkeit braucht, das Beten. Salafismus sei eben kein Hobby. Es sei eine Vollzeitbeschäftigung, sagt mir Rita.

      Neben Beten und Koran-Studium gelten Kümmel, Honig, Glaskugeln und nur mit der rechten, der sauberen Hand zu essen bei Salafisten deshalb als Pflicht, weil all das bereits in der Zeit des Propheten Mohammed existierte – also um das Jahr 600 – und laut Salafisten wohl noch in den folgenden drei Jahrhunderten. Woran sie festhalten, wird in der einen oder anderen Form entweder im Koran erwähnt oder in den überlieferten Schriften des Propheten Mohammed und seines engsten Kreises, der sogenannten Sammlung der Hadith. All diese Regeln gelten selbst nach 1400 Jahren bzw. sollen noch ihre Wirkung haben. Sie hätten sich bewährt.

      Das ständige Bemühen, im Koran zu erforschen, wie ihre islamischen Ahnen gelebt haben, und ihnen nachzueifern, ist der Kern dieser Lehre. Alles dreht sich um das Wort Vorfahre, Salaf. Daher der Name Salafismus. Eine zweite, ähnliche Strömung ist der Wahabismus in Saudi-Arabien, der aber zugleich eine Konkurrenz zum Salafismus darstellt. Die Mehrheit der Muslime jedoch lehnt diese extremen Interpretationen

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