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nehmen, wenn sie einen Weg zurückzulegen habe, etwa zur Universität. Ein Viertel wie das um den Tahrir sei ihr unbekanntes Territorium. Sie kenne sich überhaupt in Kairo wenig aus.

      Die junge Frau wäre verschwunden, hätte ich sie nicht überredet, im Hotel zu übernachten. Der Rezeptionist findet ein Zimmer für sie. Die Nacht über wird draußen geschossen, während die Hoteleingänge verbunkert werden. Niemand wird eingelassen. Keine Demonstranten, keine Verletzten.

      In den Tagen darauf wird es noch unruhiger, aber meine Übersetzerin wird es nicht mehr so hautnah miterleben. Gleich am nächsten Morgen ruft sie daheim an. Ihre Familie ist besorgt. Bald ist der Wagen des Vaters mit Chauffeur unterwegs zum Hotel, um sie abzuholen und in Sicherheit zu bringen. Sie solle, sagt ihr die Familie, nur ja kein Taxi nehmen.

      Als der Fahrer vor dem Hoteleingang parkt und ihr die hintere Wagentür aufhält, treffen zwei Welten aufeinander. Eine junge Frau, die nicht gewohnt ist, Befehle entgegenzunehmen. Eine aus Heliopolis. Eine, die ungeduldig wird, wenn der Fahrer nicht sofort spurt. Sie will so schnell wie möglich zurück in die Villa. Die Wohnung des Fahrers liegt vermutlich in einem der weit entfernten Stadtteile, Ain Schams oder im Viertel Imbaba. Sicher hat er eine Ehefrau mit Kopftuch. Eine, die oft beten geht, weil sie glaubt, es würde helfen, Miete und Strom zu bezahlen.

      Der Fahrer muss, während er den Autoschlüssel hervorholt, jeden einzelnen harten Tag vor Augen haben, den Menschen wie er schon hinter sich liegen haben, und die Tage, die noch bevorstehen. Bis in alle Ewigkeit. Bis sich vielleicht etwas daran ändert, dass er, wie fast die Hälfte der Bevölkerung Ägyptens, unter dem Existenzminimum lebt, trotz seines Jobs als Fahrer. Jedes Pfund umdreht, bevor es ausgegeben wird. Jede Preiserhöhung als Bedrohung empfindet. Auch wenn er, wie viele Ägypter, vielleicht nicht einen, sondern zwei Jobs hat. Tagsüber fahren, nachts in einem Restaurant arbeiten, von zehn Uhr abends bis drei Uhr morgens.

      Der Fahrer tritt das Gaspedal durch.

      Ich blicke dem Wagen nach, der die junge Frau zurückbringt in ihre gutbehütete Welt, dorthin, wo sie sicher ist vor allen Übeln des unberechenbaren Kairo.

      1 Die Unnahbare

      Niemand in der Familie kann mir genau sagen, warum aus der Nachtclubsängerin und Kettenraucherin ausgerechnet eine Salafistin geworden ist. Salafistin, ein Schreckenswort. Salafismus ist eine der radikalsten Strömungen des Islams. Die Sängerin hätte sich nichts Schlimmeres aussuchen können. Aber das war ihre Wahl und daran hält sie seit Jahren fest.

      Das Datum ihrer Bekehrung ist allen wie eine Wunde ins Gedächtnis eingebrannt. Es war 2001. Jeder erinnert sich noch daran. Es war vor mehr als dreizehn Jahren, als die in Kairos Unterhaltungsszene bereits gut etablierte Sängerin namens Rita sich von der Welt abwandte, um von da an die von Salafisten vorgeschriebene Bekleidung anzulegen und die Trennung von Männern und Frauen strikt einzuhalten. Seither verbringt sie den Großteil ihrer Tage mit Gebeten. Sie folgt ausnahmslos allen vorgeschriebenen Regeln. Nur mit den Fingern essen, was einige Salafisten praktizieren, tut sie nicht. Alles andere, merke ich selbst mehr als mir recht ist, befolgt die Salafistin Rita bis ins letzte Detail.

      Ihr dunkler Ganzkörperumhang ist das sichtbarste Anzeichen ihrer strengen Religiosität. Der Gesichtsschleier mit dem Schlitz, durch den jeder, auch ich, Ritas Augen nur erahnen kann. Riesige, dunkle Augen mit überlangen Wimpern, die den Rand des Gesichtsschleiers berühren, sobald Rita mit den Augen klimpert. Niemand kann umhin, sofort daran zu denken, dass diese Frau dieselbe religiöse Richtung eingeschlagen hat wie der berüchtigtste Salafist der Welt, Osama bin Laden. Und sie trägt, auch bei den höchsten Temperaturen in Kairo, Handschuhe. Schwarze Handschuhe, die so weit reichen müssen, dass man bei keiner Bewegung ein Stück ihrer weißen Haut sehen kann.

      Mein ursprüngliches Interesse gilt nicht der Salafistin, sondern ihrer Schwester, der berühmtesten Bauchtänzerin Ägyptens: Dina Talaat.

      Bei einem Dreh mit ihr bei einer ihrer Tanzvorführungen Ende 2012 erfahre ich von der Existenz ihrer salafistischen Schwester. Während Dina vor einer Gesellschaft in einem Luxushotel tanzt, erzählt mir eine Bekannte, die mich zu ihr gebracht hat, von der religiösen Schwester, als wäre das etwas Normales hier.

      So habe ich zunächst noch keine konkrete Vorstellung von der Salafistin Rita. Früher gab es in Ägypten eine westlich orientierte Alltagskultur. Seit mehr als einem Jahrzehnt gehört die zur Vergangenheit. Heute wird das Land nicht nur von Revolten und Protesten erschüttert, sondern es durchlebt eine zunehmende Islamisierung. Kairo, das Hollywood arabischer Unterhaltung mit seinen Kinos im Zentrum, den großen Film-Hits und nicht zuletzt den angehimmelten Bauchtänzerinnen, ist eine zerrissene Stadt. Hier Freizügigkeit, dort religiöser Fanatismus. Nötigung von Frauen in Seitenstraßen, und eine Tänzerin wie Dina, in ein und demselben Viertel.

      Die Vorstellung, dass es in derselben Familie zwei so unterschiedliche Schwestern gibt, liegt weniger nahe. Eine Salafistin wie Rita würde normalerweise in eine arme Familie gehören, eine Frau wie Dina in eine reiche, so glaubt man in Europa.

      Meine Bekannte kennt beide Schwestern gut. Während Dina vor der Hochzeitsgesellschaft tanzt, erzählt sie mir so einige Einzelheiten. Etwa, dass die Schwester offenbar von niemand Konkretem bekehrt wurde. Niemand hat ihr den Salafismus aufgezwungen. Schließlich sei sie Sängerin gewesen. Sie habe mit ihrer tiefen Mezzosopranstimme Erfolge gehabt, sei zusammen mit ihrer Schwester jahrelang auf Tournee durch Europa unterwegs gewesen. Dann habe sie plötzlich mit allem gebrochen, von einem Tag auf den anderen. Kaum vorzustellen, sagt sie, wo doch Rita früher arabische Stars wie Umm Kulthum und Fairuz geliebt habe. Frank Sinatra und Céline Dion seien damals ihre Vorbilder aus dem Westen gewesen.

      Seit ihrer Bekehrung zum Salafismus, so die Bekannte, sei Dinas Schwester insofern unzugänglich, als sie das bei Religiösen übliche abgeschirmte Leben führe. Man könne versuchen, einen Kontakt herzustellen. Wenn Dina mir einen Draht zu ihrer Schwester legen würde, müsste es klappen. Immerhin seien die beiden nicht zerstritten.

      Das macht die Sache in meinen Augen noch eine Spur ungewöhnlicher. Ich versuche mir die beiden nebeneinander vorzustellen. Die eine, Dina, in einem ihrer umstrittenen Bauchtanzkostüme, die für den Geschmack vieler Ägypter allzu offenherzig sind. Sie sind eines von Dinas Markenzeichen. Die andere, Rita, mit Gesichtsschleier und Ganzkörperumhang. Da sagt mir die Bekannte, die Schwester habe sich auch umbenannt. Sie heiße nicht mehr Rita. Ihr neuer Name laute Rokkaya, nach einer der Töchter des Propheten Mohammed. Ich erfahre, dass ihre salafistischen Freundinnen ihr diesen Namen nahegelegt hätten. Rita klinge zu christlich, eine Salafistin dürfe so nicht heißen.

      So, wie sie eines späten Morgens neben mir steht, nichts als ein schwarzer, unnahbarer Schatten, so werden die meisten unserer Begegnungen ablaufen. Wie sich unterhalten mit einer Frau ohne Gesicht? Lächelt eine Salafistin jemals? Wie sieht so eine aus, wenn sie zornig wird? Die unwirkliche Szenerie, überflutet von einer grellen Sonne, die uns blendet, erweckt bei mir den Eindruck, eine solche Frau gehöre nicht ins Kairoer Verkehrschaos. Altersschwache Autos fahren zwischen von Eseln gezogenen Karren, Staubwolken hinter sich herziehend, die einem das Atmen schwer machen. Als würde das nicht genügen, begleiten Schreie von Kleinhändlern und unentwegtes Hupen die Szene. Jedes Hupen klingt wie ein Wutausbruch.

      Und mittendrin die Salafistin, die vorsichtig, wie eine Blinde, versucht, die dichtbefahrene Straße zu überqueren. Ich beobachte sie, wie sie ihren ganzen Körper nach rechts dreht, um überhaupt etwas zu sehen mit ihrem eng um die Augen liegenden Gesichtsschleier. Normalerweise haben wir mit beiden Augen ein Gesichtsfeld von etwa 180 Grad, bei Rita ist es nicht einmal halb so viel. Sie hat ein echtes Handikap in dieser unübersichtlichen Verkehrslage.

      An den Füßen trägt sie ausgerechnet Crocs. Bequeme Schuhe, sagt Rita später, seien das Um und Auf. Damit könne sie besser gehen als in Schuhen mit Absätzen. In diesem Verkehrsgewirr geht sie nur einen kleinen Schritt nach vorne und muss sofort wieder zurück, weil ein Taxifahrer aufs Gas steigt

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