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Kleidchen, und ich schlüffelte mit meinen Kameraden an ihr vorbei, ohne sie mit mehr als einem halbverlegenen Zunicken zu begrüßen. Sie nahm mir das weiter nicht übel, „weil Buben halt so sind,“ und stellte ihre Jugend ebenso fraglos in den Dienst der strengen Pflicht, wie Luise es vor ihr getan hatte und immer noch tat.

      Sie war zufrieden, etwa am Sonntag ein paar Stunden in einem billigen Fähnchen, mit einem hellen Band oder Spitzenkrägelchen geschmückt, mit der Schwester oder einer Freundin in die Au hinunter zu wandern, der Musik zuzuhören und die heiteren Bilder des Lebens an sich vorbeiziehen zu lassen und vielleicht dabei den einen oder anderen Gedanken daran auszuspinnen, daß auch ihr einmal irgendeine bescheidene Frucht und ein paar farbige Blumen in dem reichen Garten des Daseins zuwachsen würden. Sie entwickelte sich aber in den dürftigen Sonnenstrählchen, die ihre Jugend trafen, wie ihre Schwester zu einem schlanken, hübschen, blühenden Geschöpf, dem auch eine natürliche Fröhlichkeit nicht fehlte, und es tönten in diesen Jahren oft aus der Giebelkammer, in der die beiden Schwestern schliefen, am frühen Morgen oder am Abend, wenn sie ihre Ruhestätten aufsuchten oder verließen, die schwermütigen Lieder, die das Volk singt, wenn es fröhlich ist, oder es ging ein Geplauder und Lachen die steile Treppe hinunter, wenn ich an dunklen Wintermorgen noch im Bett lag. Dann drehte sich der Schlüssel in der Haustür, und die Schritte und das Lachen ertönten auf der Straße, der Stadt und der Arbeit zu.

      Es war alles gut und schön. Aber eines Tages, als ich beim Dunkelwerden von einer Streife durch den Frühlingswald nach Hause kam, einen großen Busch hellblauer Scillablüten in den Händen, da fand ich die beiden Schwestern und die Mutter miteinander um meinen guten alten Freund Heinrich Kilian herumstehen, der auf dem harten Sofa mit dem blumigen Zitzüberzug lag mit geschlossenen Augen und schwer atmete.

      Sie flüsterten miteinander, und als ich fragend von einem zum andern sah, da legten sie die Finger an die Lippen: „Still, Ludwig, stör' ihn nicht,“ und sagten, daß der Doktor bald kommen werde.

      Ich legte meine Scillablüten auf den Tisch und fühlte eine dumpfe Beklommenheit in mir. Wie konnte das sein, daß auf einmal etwas anderes war, als sonst? Es war so fremd und merkwürdig, daß Heinrich Kilian da auf dem Sofa lag und die Augen geschlossen hielt. Er war sonst immer irgendwo herumgegangen oder auf der Bank am Fenster gesessen und hatte ein Späßchen für mich gehabt oder eine Geschichte, die ihm in der Stadt über den Weg gelaufen war.

      Die andern machten so ernste und bestürzte Gesichter; es roch in der Stube nach Hoffmannstropfen und Kräuteressig, und Lotte Meister kam herüber und wurde ganz still, als sie in die Stube trat, Sie hatte ihr Mariele auf dem Arm und hielt ihm das Mäulchen zu, als es anfing, Heinrich zu rufen, und sie schüttelte den Kopf, als ob sie nichts Gutes von der Sache denke.

      Der Doktor kam, und ich wurde hinausgeschickt und bekam das Nachbarskind mit. Da standen wir im Vorgärtchen, das der Heinrich erst gestern umgegraben hatte. Es roch nach frischer Erde, in der Rabatte guckten schon da und dort grüne Spitzen heraus, und in der Ecke am Zaun war ein runder Fleck ganz blau von Veilchen. Es strich ein frischer Wind an den Häusern hin, und alles war so lebendig da draußen, aber drinnen im Haus war es anders. Ich hatte vor zwei Jahren Friedrich Meister tot daliegen sehen, still und bleich und mit wächsernen Händen; alles war mir noch gegenwärtig: Glockengeläute, Gesang und Schluchzen bei seiner Beerdigung. Nun war es mir, als trete der Tod durch unsere eigene Tür, und das war schauerlich genug. Aber daß der Heinrich Kilian dann nicht mehr da sein könnte, das konnte ich mir noch nicht denken, denn er war immer dagewesen, schon lang vor mir.

      Der Doktor kam wieder aus dem Haus und ging rasch weiter, und ich dachte hinter ihm drein, daß ich kein Doktor sein möchte, denn überall, wo er hinkomme, sei etwas Arges im Haus, und helfen könne er doch nicht. Das machte, daß bei uns armen Leuten da herum der Doktor meistens nur in ganz schweren Fällen geholt wurde, wo dann freilich gegen den Tod kein Kraut gewachsen war. Ich stand noch trübsinnig herum und sah ins Wetter, da kam meine Mutter zu mir heraus und sagte: „Du sollst zum Kilian kommen, er will dich.“

      „Stirbt er?“ fragte ich, und sie nickte kummervoll mit dem Kopf: „Wird wohl so sein,“ sagte sie. Und dann erfuhr ich, daß er in der Stadt von einem Lastwagen überfahren worden sei, grad über den Leib seien ihm die Räder gegangen. Man sehe gar keine Verletzung, es sei alles innen, aber da sei es auch bös. Sie wußte nicht, wie es hatte zugehen können, aber das wußte sie, daß er noch heim verlangt hatte, nicht ins Spital. Das erzählte sie in den nächsten Tagen mit traurigem Stolz noch oft, wenn die Nachbarn kamen, denn das durfte man wohl wissen, daß der Kilian hier eine Heimat gehabt hatte.

      Ich schlich auf den Zehen in die Kammer, in der mein Freund jetzt im Bett lag. Er sah zum Erschrecken elend aus. Der schwarze Bart, der ihm sonst ganz fröhlich um sein heiteres Gesicht herumstand, sah düster und wild aus, weil das Gesicht selber so fahl und eingesunken dazwischen lag. Er ließ seine Augen mühsam nach mir hingehen, als ich zu ihm trat und regte die Lippen, um etwas zu sagen, aber es kam nichts Deutliches heraus, und das leise Flüstern, das er hervorbrachte, verlor sich in seinem Bart. Noch ein- oder zweimal probierte er es, dann ließ er's sein und schickte noch einen Blick zu mir herüber, der deutlich sagte: „Da ist nun eben nichts mehr zu machen; ich habe dir noch etwas mitteilen wollen, aber das muß ich nun für mich behalten.“

      Mich packte ein ängstliches Grauen, das war noch größer als das Leid, das ich empfand über sein Hingehen, und kam davon, daß ein Mensch daliegen mußte mit einem Gedanken in sich, den er gern aussprechen wollte, und für den es keine Brücke mehr gab heraus zu den andern. Ich wollte der Mutter rufen, aber ich brachte keinen Ton heraus, es war mir, als ob ich nun auch stumm sein müsse, weil es das gab. Da sah ich auf einmal, wie sich die Hände meines Freundes, die fest verschlungen ineinander auf der Bettdecke lagen, auseinander taten. Das geschah nicht wie von einem Willen diktiert, sondern es sah aus, als ob sich mit den Händen auf einmal alles Leben löse und nun still und müde daliege, weil es nicht mehr weiter könne, und als ob von jetzt an ein anderer zu dirigieren habe in allem, was den alten Heinrich Kilian betreffe. Währenddiesem kam meine Mutter herein mit einem geöffneten Champagnerfläschchen, mit dessen Inhalt sie den Sterbenden erquicken wollte. Als sie aber einen Blick auf sein Gesicht geworfen hatte, stellte sie es still zur Seite, denn sie sah, daß hier nichts mehr zu stärken sei.

      Das Glas floß über von dem schäumenden Wein, und die Mutter, die das doch nicht mitansehen konnte, tauchte ihre Hand in die kleine Lache, die sich auf dem Tisch bildete, und bestrich Stirn und Hände ihres alten Pfleglings mit dem Naß, vor dem sie um seiner Kostbarkeit und Seltenheit willen eine große Ehrfurcht hatte, und unter ihren netzenden Händen verging er vollends und atmete tief und leise aus.

      Ich aber durfte mich nicht dem reinen Gefühl des schmerzlichen Abschieds hingeben, wie die Mutter und die beiden Schwestern, die in ein herzliches Weinen aus der Tiefe ihrer guten Gemüter ausbrachen. Ich mußte mich damit quälen, was es wohl gewesen sei, das er zu mir hatte sagen wollen, und ich wußte nicht, sollte ich froh oder traurig sein, daß er es nicht mehr hatte aussprechen können, denn ich hatte ein schlechtes Gewissen von seinetwegen, das wachte nun mächtig auf.

      Der Tag, an den ich denken mußte, lag um vier Wochen zurück. Ich hatte dem Kilian am Abend vorher abgebettelt, daß ich seine große silberne Uhr in der Schule tragen dürfe, weil alle andern Buben auch Uhren hatten. „Am Sonntag allemal, da kriegst du sie wieder, da gehört sie dir,“ hatte ich gesagt; denn am Sonntag trug er sie selber an einer dicken Nickelkette. Er war nicht recht damit einig gewesen. „Du wirst mir doch nicht großartig werden, Ludwig,“ hatte er gesagt, „silberne Uhren am Werktag, behüte Gott, das ist für Herrenleut', aber nicht für unkonfirmierte Buben von unserlei Leuten.“

      Aber ich hatte es dann doch durchgesetzt, er konnte mir nichts abschlagen.

      Und nun trug ich die Uhr recht sichtbar an der Kette und hatte den Kittel offen, daß man sie deutlich sehen mußte und ging mit meinen Kameraden nach der Schule in einen Laden, wo man Bleistifte und dergleichen kaufen konnte. Zwei oder drei waren drin, ein paar andere, zu denen ich auch gehörte, standen unter der Ladentür und warteten auf ihr Herauskommen. Es war einer dabei, den ich schon lang gern zum Freund gehabt hätte, ein kleiner, gewandter Kerl, blond und witzig und aus einem Künstlerhause stammend, der tat allerlei Sprüche über die Vorübergehenden und brachte uns so zum Lachen,

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