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noch etwas zu sagen. Sie stand so groß und hoch und stattlich in der niederen Stube, aber sie hatte ein Glänzen in den Augen, aus dem man schließen mußte, daß sie geweint habe. Denn sie nahm ja freilich hundertfache Erinnerungen mit sich fort. Es war bei ihr nicht wie bei uns das Geschehen zu tragen, das im Gang des Menschenlebens von vornherein liegt, daß die Alten davongehen und zu den Vätern versammelt werden, sondern sie hatte die Unnatur des Zerreißens erlebt, der Trennung mitten auf der gemeinsamen Bahn. Die alte, leidende Mutter aber ging mit ihr und freilich auch die Kinder, das kommende Geschlecht, das hier seinen Ursprung genommen hatte.

      Man konnte aber mit keinem mitleidigen Gedanken an Lotte herankommen, obgleich man ihre Tränenspuren noch sah. Denn sie beherrschte ihr Gesicht und ihre Haltung vollständig und war dem Leben gewachsen, wie es auch verfahren mochte, man konnte in allem nur Respekt vor ihr haben. Als sie ihre Sache an Luise ausgerichtet hatte, sah sie mich lächelnd an, wie früher, da ich noch als lockiges Bürschlein neben ihr am Bügelbrett gestanden war und sagte: „Wie ist's, Ludwig, wird man dich auch noch hie und da zu sehen bekommen, wenn man eine Viertelstunde Wegs zueinander hat, oder müssen wir gleich ganz Abschied nehmen?“ Sie streckte mir aber dabei ihre schöne, kräftige Hand hin, und ihr Gesicht war so voll von einer unwandelbaren Güte und Zuversicht, daß es mich heiß durchfuhr, und ich in einem Augenblick die ganze Zukunft durchreiste, in der es immer eine Lotte Meister geben mußte, sie war nicht wegzudenken. Ich spürte, daß ich feuerrot wurde und daß mich ein ungestümes Verlangen packte, sie wieder für mich zu haben, wie einst, aber ich tat nicht dergleichen, sondern sagte nur, ich werde schon kommen, wenn ich Zeit habe und ich müsse jetzt so viel lernen, weil der Professor so streng sei. Darauf sah sie mich einen Augenblick prüfend an und erklärte dann, eigentlich habe sie fragen wollen, ob eins von uns den Rollstuhl mit der Großmutter in die neue Wohnung führen wolle. Die Kinder könnten es ja, aber die Großmutter vertraue sich ihnen nicht an, weil sie ohnehin vor dem fremden, entlehnten Rollstuhl und vor dem Fahren durch die Straßen eine entsetzliche Angst habe. Ich spürte, daß ich dazu vermeint sei, aber ich konnte mich nicht schnell entschließen, denn es konnte mir jemand begegnen, etwa der Stadtpfarrer, der dann sagen würde, so sei es recht, oder meine Kameraden, die lachen würden, wenn die alte Frau immer mit dem Kopf wackelte, und da war eines so schlimm, wie das andere. Es gab eine Verlegenheitspause, und in die Stille hinein sagte meine Schwester Helene ganz freundlich und bereitwillig, ja natürlich, das tue sie gern, und Lotte empfahl sich, ohne noch einmal etwas zu mir zu sagen. Sie mußte schleunigst hinter ihrem Möbelwagen, auf dem hoch oben die drei Kinder saßen, eng in dem geblumten Sofa aneinandergeschmiegt, lustig und lachend, weil ihnen das Fahren ein Fest war. Wir sahen ihnen nach, und dann gingen wir gleichfalls davon und ließen die Türen hinter uns offen, weil nichts mehr im Haus war, das man verschließen mußte. Aber nun hatte ich auch mein Teil an Abschiedsschmerzen, und es war mir vielleicht übler zumut als den andern allen, sie brauchten es aber nicht zu wissen.

      Die neue Wohnung, die wir bezogen, lag mitten in der Altstadt, in einer engen Gasse, in der die Häuser nah beisammen standen, und in der es mit Sonne, Mond und Sternen nicht besonders leuchtend zuging. Ich allein hatte in meiner Kammer hoch oben unter dem Dach Licht genug, und die Nelken des alten Heinrich Kilian, die meine Schwestern sorglich ausgegraben und in Töpfe gepflanzt hatten, führten vor meinem Fenster ein blühendes Leben, so lang die gute Jahreszeit währte. Unten im Haus, im Kellergeschoß, da war es fast den ganzen Tag dämmerig; es mußte gut gehen, wenn einmal ein wenig Sonne hereinkam. Aber es ging hell und heiter zu trotzdem. Da ging es mit glühenden Bügelstählen um und mit Lachen und Schwatzen und oft mit Singen daneben her. Sie schafften selbdritt oder viert, Luise und ihre Lehrmädchen. Sie hatten Kundschaft genug, denn schön gebügelte Kragen und Manschetten, das war etwas, das jedermann brauchte; auch der einfachste Mann wollte wenigstens am Sonntag glänzen und gleißen mit sauberer Wäsche.

      Luise spielte so wenig wie Lotte Meister die hohe Vorgesetzte. Sondern sie zeigte, wie die Sache gemacht werden mußte, und da hieß es parieren, denn was aus dem Haus kam, das mußte tadellos sein; aber im übrigen war eine schöne und freudige Arbeitsgemeinschaft, und es war hier nichts von „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ und von bitteren Standesunterschieden. Um die Vesperzeit ging das jüngste Lehrmädchen, wie es ging und stand, mit aufgekrempelten Ärmeln und in weißer Schürze, über die Gasse zum Dreikönigswirt und holte so viel Gläser Bier, als Personen da waren, und dann gab es eine vergnügliche Pause, in der man sich von den Stadtneuigkeiten unterhielt und von den privaten Erlebnissen, etwa einem neuen Kleid oder einem Sonntagsausflug, oder auch, wenn man gerade recht in Stimmung war, von dem jeweiligen Schatz und den Zukunftsaussichten mit ihm.

      Das taten sie nicht gern vor mir, der ich mich oft um diese Stunde auch da unten herumdrückte. „Was braucht so ein Bub davon zu wissen?“, sagten sie und steckten wispernd die Köpfe zusammen. Aber gerade davon hätte ich gern gewußt. Es schienen mir lauter hübsche Mädchen zu sein, fast eine wie die andere. Sie hatten bloße Hälse und Arme und junge, frische Gesichter und meistens ein hübsches Band im Haar oder so etwas, und es mußte eine schöne Sache sein, mit solch einem Geschöpf einmal spazieren zu gehen oder gar zu tanzen. Daß sie Du zu mir sagten, störte mich hier im Hause, wo es niemand sonst sah und hörte, nicht, ich gab es ihnen heim und es war mir behaglich dabei. Ich saß auf einem umgestülpten Waschkorb oder einer Stärkekiste, trank gleichfalls mein Bier und machte billige Witze, bis Luise ihr leeres Glas wegstellte und sich die Hände wusch, was ihr die andern nachtaten, und was das Zeichen zum Wiederanfangen war. Dann ging ich mit meinem Bücherpack, den ich unter dem Arm getragen hatte, in meine Kammer hinauf und ließ den Eindruck zurück, als ob ich mich in meine Arbeit vergrabe. Das tat mir wohl, daß die Mädchen das von mir dachten; aber ich stand oft genug am Fenster und sah ins Wetter, denn es ging noch manches mit mir um, was ich unten gesehen und gehört hatte. Da war ein hübsches, weißblondes Mädchen namens Hermine, das ein so lustiges Gesicht und ein ganz schlankes, feines Hälschen hatte, und das schon einen Bräutigam besaß. Er war Feldwebel bei den Pionieren, und sie wollte um Geld bügeln, wenn sie verheiratet war, darauf freute sie sich, als ob es in ein lustiges Leben hinein ginge. „Den Tag über schaffen wir, und abends geht's zur Musik oder sonstwohin,“ sagte sie und zeigte alle ihre weißen Zähne. Da wäre ich auf einmal gern Feldwebel gewesen, denn man konnte nicht wissen, ob es nicht auf dem wissenschaftlichen Weg, den ich eingeschlagen hatte, viel langweiliger zuging, und ich wußte manchmal nicht recht, warum ich gerade studieren sollte. Da horchte ich hinunter in die enge Gasse, ob ich nicht einen Zipfel von dem vergnügten Leben da unten wahrnehmen könne. Aber nach einer Weile war die Anwandlung vorüber, und ich saß wieder an meinen Büchern und hielt mich ordentlich zur Arbeit, ohne besondere Begeisterung dafür, nur weil so eines aus dem andern folgte und ich nichts anderes vorhatte. So kam ich voran, wie andere auch und bestand, als ich etwas über das achtzehnte Jahr hinaus war, die Reifeprüfung für die Universität. Jetzt galt es aber, sich endgültig für ein Fach zu entschließen, denn das hatte ich bis jetzt immer noch hinausgeschoben, weil ich für keines eine besondere Liebe hatte und an jedem etwas auszusetzen war. Da fragte mich der Rektor, als ich mein Abgangszeugnis von ihm holte, ob ich nicht Lust hätte, in eine vornehme Universitätsbuchhandlung einzutreten und das Studium überhaupt zu unterlassen. Er sei von einem Freund, der der Inhaber sei, gefragt worden, ob er nicht einen tüchtigen jungen Menschen wisse, der eine gute Vorbildung habe und Lust zu den Büchern, aber auch zu einem soliden und praktischen Geschäftswissen, und der es bei ihm zu etwas Rechtem bringen könne. Er habe mich vorgeschlagen, weil er gemerkt zu haben glaube, daß ich Freude an der Literatur habe und auch nicht unpraktisch sei, und weil, – setzte er väterlich hinzu, – es vielleicht doch auch ratsam sei für mich, daß ich es in absehbarer Zeit zu einer Selbständigkeit bringe.

      Er kannte meine Schwestern und besonders Helene, die bei ihm im Hause nähte und seiner Frau die Kleider machte, und hatte einen hohen Respekt vor ihrer arbeitsamen Tüchtigkeit. Vielleicht ärgerte er sich auch im stillen, daß ich den braven Mädchen so ganz auf der Tasche lag, aber davon sagte er nichts, sondern fragte nur, ob ich vielleicht schon eine starke Vorliebe für ein besonderes Fach habe, was dann freilich die Sache verändern würde.

      Aber das hatte ich nicht, sondern es war gut für mich, daß mir jemand einen Schub gab von außen her, und ich sagte nach kurzem Zögern, daß ich morgen kommen und mit dem Herrn reden wolle, der gerade in der Stadt zum Besuch war, und daß es vielleicht ganz gut für mich passe, ein Buchhändler zu werden, weil es

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