Скачать книгу

der andern Seite der Straße mein Heinrich Kilian daher, schwer mit Bücherpaketen beladen, deren eines ihm unbequem auf der Achsel saß, so daß er den Kopf stark auf die Seite legen und immer wieder drehen mußte, um eine erträgliche Stellung zu gewinnen. Das fiel dem Spaßmacher sogleich auf, er fing in seiner sprühenden Laune an, den Gang und die Haltung des alten Mannes nachzumachen, und der Zufall kam ihm noch mit weiterem Material zu dieser Vorstellung entgegen, indem dem Schwerbeladenen ein anderes Paket, das er unter dem Arm getragen hatte, entglitt, und er sich unter starken Verrenkungen bücken mußte, dasselbe aufzuheben. Bei dieser mühsamen Bewegung nun geschah es, daß die alte, geflickte Hose, die ihm meine Mutter längst hatte wegsprechen wollen, hinten nachgab und einen großen, klaffenden Riß bekam. Er befühlte den Schaden verdutzt und kopfschüttelnd und ging dann, überschüttet von dem Bubengelächter, das von der anderen Straßenseite herüberscholl, weiter bis zu einem schmalen Nebengäßchen, in dem er verschwand, wahrscheinlich um sich dort in irgendeinem Hause notdürftig ausbessern zu lassen. Das war nun ein großes Gaudium für den Witzbold und die ins Lachen geratene Bubenschaft. Mir aber war übel zumute. Da stand ich, hatte Kilians Kette über meine Schülerbrust gespannt und trug seine Uhr in der Tasche und lachte mit den andern über ihn, denn ich konnte es nicht lassen, ich mußte lachen, so schändlich ich mich auch empfand, und tat, als ob er mich nichts anginge. Als er verschwunden war, machte ich mich unter irgendeinem Vorwand von den andern los und schlich mich nach Hause, wo ich kaum den Kopf aus den Büchern erhob, als Heinrich Kilian am Feierabend kam und gut und freundlich wie immer war. Er hatte mich nicht gesehen, das merkte ich gleich, und ich schüttelte, so gut es ging, mein übles Empfinden ab durch allerlei Entschuldigungen, die ich in mir selbst vorbrachte.

      Aber nun lag er da und hatte die Augen für immer geschlossen, und vorher hatte er sich noch gemüht, mir etwas zu sagen; wer konnte wissen, ob es nicht doch das gewesen war?

      Und es gab keine Gelegenheit mehr, miteinander ins Glatte zu kommen, keine; ich mußte nun mein Leben lang so an ihn denken, und wer weiß, wie er an mich dachte? Denn es war doch eine recht unsichere Sache mit dem Totsein, es gab da so allerlei Möglichkeiten, und vielleicht war er nun auf einmal irgendwo fein heraus, sah alles und verachtete mich. Das war eine schwere Sache.

      Zwei Tage lang ging ich mit bösem Gewissen herum, stumm und bedrückt. Ich muß bleich ausgesehen haben, denn meine Mutter fragte mich, ob ich krank sei, und ich hörte sie zu Lotte Meister sagen: „Es geht ihm näher als er zeigen mag; er hat auch viel verloren, es ist kein Wunder.“ Und dann fügte sie mit einiger Befriedigung bei, daß ich doch ein gutes Gemüt zu haben scheine, und daß sie froh sei, es zu sehen, denn sie sei manchmal in Sorgen meinetwegen, ob auch alles gut ablaufe mit mir und ich nicht an meiner Seele Schaden leide durch die Standeserhöhung, in die sie mich selber hineingestellt habe durch die höhere Schule.

      „Ich weiß nicht, wie lang ich noch da bin,“ sagte sie, „und weiß oft nicht, ob ich nicht etwas Dummes angerührt habe mit dem Buben; ich habe gemeint, es müsse so sein, weil ich's dem Mann versprochen habe, daß ich alles tun will für ihn. Jetzt geb's der liebe Gott, daß er recht wird, denn ich muß ihn grad laufen lassen, er ist einen halben Kopf größer als ich, und ich bin ein einfältiges Weib.“

      Was Lotte darauf sagte, hörte ich nicht mehr, denn beide Frauen gingen miteinander zur Türe hinaus, und ich saß in dem Alkoven hinter dem alten Vorhang auf einem Stuhl und wußte nicht recht, was mit mir anfangen.

      Die Mutter kam wieder herein und setzte sich auf die Bank, die am Fenster hinlief; sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah still vor sich hin mit einem Ausdruck von Müdigkeit und Ergebung, wie ihn Menschen bekommen, die sich ein ganzes, langes Leben hindurch immer in das, was ihnen auflag, schicken mußten und denen dieses Sichschicken die einzige Waffe war im Lebenskrieg. Mich aber überkam es, ihr zu sagen, daß ich recht werden wolle und gut und daß sie meinetwegen ohne Sorge sein solle. Ja, es trieb mich ein starkes Verlangen dazu, auf ihren Schoß zu sitzen, wie als kleines Kind und ihre Hände um mich herum zu spüren, warm und gut. Dann hätte ich vielleicht auch von mir getan, was mich Heinrich Kilians wegen beklemmte, denn ich fand nicht recht den Weg daraus heraus.

      Aber ich war nicht gewöhnt, zärtlich zu sein und fand auch das Wort nicht, das ich gern gesagt hätte. Ich schob mich langsam aus dem Alkoven heraus in die Stube, und als mich die Mutter sah, sagte sie: „Bist du da drin gewesen und hast alles gehört?“

      Das bejahte ich mit einem Kopfnicken, und als ich in ihr Gesicht sah, da war es so voll von einer großen Liebe und Sorge und so himmelgut, wie ich glaubte, es noch nie gesehen zu haben, und ich legte meinen Kopf auf den Tisch und ließ meine Tränen, die ich bisher immer noch verschlossen gehabt hatte, laufen, wie sie wollten. Aber es wurde mir so wohl dabei, wie schon lange nicht mehr. Es war, als ob ein Bach aus meinem Innern breche und alles mit sich fortnehme, was übel und schwer darin gelegen war, und als ob meine Mutter alles wisse, was mich angehe, ohne daß ich ein Wort sage, bloß weil sie meine Mutter sei. Und das wird ja wohl auch so gewesen sein.

      *

      Ich wollte, ich hätte sie länger gehabt, es hätte meiner Jugend gut getan.

      Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich alle meine Torheiten dennoch begangen, auch wenn sie dagewesen wäre, denn sie hätte mich nicht davor behüten können, wenn ich in der Welt draußen war. Und vielleicht hätte ich ihr weh getan, wie den andern. Ich möchte so gerne denken, daß ich den Weg zu ihr gefunden hätte, wenn ich mir verweht und verlaufen vorgekommen wäre, und daß ich ihr zuliebe manches besser gemacht hätte, als ich es tat. Es ist umsonst, daß ich mich darüber besinne.

      Es muß ja alles so recht sein, wie es ist.

      Als ich konfirmiert war und am Sonntag in einem neuen dunklen Anzug und mit einer gestärkten Hemdbrust auftrat, machte ich zum ersten- und einzigenmal in meinem Leben einen Ausflug mit ihr. Er geschah zu einem entfernten Vetter auf der Alb, der mein Pate war, und der uns eingeladen hatte. Wir zogen am frühen Maimorgen aus und sahen die Stadt und die Türme und den Fluß im Nebel liegen und schritten selber durch den Nebel, der bald rosig durchleuchtet wurde von der durchbrechenden Sonne. Da wurde uns ganz reiselustig zumute, und meine Mutter machte Schritte neben mir her wie ein junges Mädchen vor lauter Freude am Dasein und an der Reise mit mir.

      Dann saßen wir in der Bahn und fuhren nach Blaubeuren, und sie hatte tausend Dinge zu bestaunen und wurde ganz redselig mit den Fahrtgenossen, deren Reiseziel und Heimat sie unverzagt erfragte, und mit denen sie sich ohne weiteres einig fühlte, als mit solchen, die einen seltenen, schönen Sonntag in der Freiheit genießen.

      Es war auch ein altes Bauernweiblein im Wagen, das saß mit einer scheuen Glückseligkeit im Schatten eines mächtigen, breitschultrigen Mannes von exotischem Äußern, der an allen erdenklichen Stellen von goldenen Knöpfen, Ketten und Ringen erglänzte. Er hatte ein gutes Gesicht und fing bereits an, sein anglo-amerikanisches Deutsch, das er „drüben“ angenommen hatte, wieder mit schwäbischen Brocken zu vermischen. Sie war seine Mutter und war ihm auf seinen Wunsch entgegengefahren, weil er jetzt auf Besuch heimkam, und sie fühlte sich wie auf einer Himmelfahrt, da sie nun mit dem stattlichen Sohn ihrem Dorf entgegenfuhr. Mit ihr kam meine Mutter bald ins Gespräch und sagte mit hoffnungsvollem Stolz, daß sie ihren Ludwig auch etwas Rechtes werden lasse, er müsse nur sagen, was er im Sinn habe, und daß es freilich, wenn es auf sie ankomme, nicht grad Amerika sein müsse, indessen, wie es Gottes Will' sei, wenn er nur brav werde und recht. Da sah mich das alte Weiblein, das sein Schaf im Trocknen hatte, kopfnickend an und dachte wohl, freilich, so einer, wie ihr Johann, wachse nicht an jedem Hag, aber recht werden könne ich immerhin, schon der Mutter zulieb, und der mächtige Amerikaner sagte: „Well“ und strich sich den Bart, daß die Ringe an seinen Fingern erglänzten. Ich war froh, als wir ausstiegen und wieder für uns waren.

      Die Mutter freilich konnte noch nicht so schnell von den beiden abkommen. Sie waren am Bahnhof von einem stattlichen Fuhrwerk mit zwei schweren Gäulen abgeholt worden und verschwanden vor uns in einer weißen Staubwolke, als wir sachte, Schritt vor Schritt die Steige hinanstiegen, die hinter dem Blautopf auf die Höhe der Alb hinaufführt.

      „Das Gefährt ist nicht ihr eigen,“ sagte meine Mutter. „Es gehört ihrem Nachbar. Der hat es entgegengeschickt, weil er einen Respekt hat vor dem Amerikaner. Sie hat es auch mühsam gehabt vorher,

Скачать книгу