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Heinrich war die heikle Aufgabe zuteil geworden, passende Vorlagen für diese Drucke zu liefern. Gemeinsam malten sie jahraus, jahrein das, was sich am besten verkaufte: Helden. Helden in der Schlacht und Helden nach der Schlacht, blonde Helden mit blauen Augen und gelegentlich auch dunkelhaarige Helden mit braunen Augen, Helden in Heldenpose und heldenhafte Helden, Helden mit Heldenblick und sterbende Helden in den Armen barmherziger Samariter (ein nicht sonderlich begehrtes Sujet, das bald aus dem Angebot fiel), Helden auf Pferden und Helden neben Pferden, Helden, die keiner kannte, und Helden, die gar keine Helden waren. Ab und zu sorgten der Hl. Martin zu Pferd und Jesus als gütiger Hirte für etwas Abwechslung im üblichen Heldenprogramm der Malerwerkstatt.

      Eines aber war schon bald klar: Helden waren nichts für Heinrich.

      Es war schon spät, als Zille den Nussbaum verließ. Sein Kopf war voll mit Ideen, die er in den nächsten Tagen zu Papier bringen wollte. Er würde Antihelden beim Saufen und Antihelden nach dem Saufen zeichnen, Antihelden mit zerzaustem Haar und Antihelden ohne Haar, Antihelden mit dicken Bäuchen und Antihelden mit platten Bäuchen, Antihelden neben Dirnen und Antihelden auf Dirnen. Wenn es in dieser Stadt von etwas zuhauf gab, dann waren es Antihelden.

      Als Luise am nächsten Morgen durch die Gassen schritt, ihren Umhang fest um den Körper gezogen, lag Laub auf den Straßen. Nicht viel, denn in ihrem Viertel gab es kaum Bäume. Der übellaunige Oktober hatte den Sommer endgültig zur Stadt hinausgejagt, diesen Taugenichts, der nichts im Sinn hatte außer Leichtsinn und Muße. Luise schmeckte bereits den Winter. Sie brauchte so rasch als möglich Arbeit und eine neue Bleibe. Im jetzigen Loch würde auch ihre Lunge schon bald rasseln wie die ihrer Zimmergenossin.

      Der Nussbaum stand am Ende einer Häuserzeile. Es war ein bescheidenes Haus, nur drei Geschosse hoch und mit einem rußgeschwärzten Äußeren nicht anders als die Gesichter der Kumpels in den Bergwerken. Das Dach ragte steil auf, und ein paar kleine Fenster starrten von der Fassade. Davor gab es einen Eckgarten, kaum größer als ein halbes Zimmer, in dem ein kümmerlicher Baum wuchs. Es war kein Nussbaum. Über der Tür war der Name der Kneipe auf das Gemäuer gemalt. Schwarze Lettern mit roten Initialen auf hellem Grund erinnerten an bessere Zeiten: RESTAURANT ZUM NUSSBAUM. Aus dem Restaurant jedoch war längst eine Destille geworden.

      Die Tür stand offen. Unsicher ging Luise hinein. Es fiel nur wenig Licht in den Raum, in dem der Wirt die Tische säuberte und seine Frau Minna hinter der Theke hantierte.

      »Juten Morgen. Ick bin Luise Hartwich. Sie suchen ’ne Arbeitskraft?«

      Wirt und Wirtin sahen nicht auf. Luise wartete.

      »Aha. Bist det Mädchen vom Land?«, sagte plötzlich der Mann. Aber er sah nach wie vor stur auf seine geschäftigen Hände, die mit dem Lappen das grobe Holz bearbeiteten.

      »Ja. Komme aus er Uckermark. Habe auf ’m Feld jeholfen und auf ’m Hof, hab meene Geschwister versorgt und auf ’m Markt Waren verkooft. Ick kann anpacken.«

      »Aha«, sagte er wieder, hob nun endlich den Kopf und musterte sie kurz. Er war ein unkomplizierter Mann, auf Empfehlungsschreiben pfiff er. Die konnte man sich zur Not auch beschaffen. Er hatte mehr Menschenkenntnis als all diese Kakerlaken von den Stellenvermittlungsbüros zusammen. Er würde es merken, wenn eine vor ihm stand, die er gebrauchen konnte. Während der letzten Tage waren allerhand Frauenzimmer aufgekreuzt. Das war vielleicht ein Spektakel gewesen! Keine konnte man gebrauchen. Aber diese junge Frau da, die etwas schüchtern vor ihm stand, die machte einen anständigen Eindruck. Und sie war hübsch. An einem Ort wie diesem konnte etwas Schönheit nicht schaden. Wenn sie zudem nicht faul war, wär sie ein echter Glücksgriff.

      »Na denn, junges Fräulein. Kannst gleech anfangen, un wenn det jut machst, kannste bleeben. Es jibt zehn Mark im Monat, wenn de Jeschirr zerschlägst, wird’s dir vom Lohn abjezojen«, sagte er und putzte weiter.

      »Deene Schlafkammer is unterhalb vom Dach, schön trocken, un zu essen jibts jenuch«, fügte die Wirtin an, die aus ihrer gebeugten Haltung in die Gerade übergegangen war und nun groß wie ein Luftschiff dastand. »Könntest wat um die Hüften vertrajen, Mädchen. Hier haste ’ne Schürze, un dann mach de Gläser ordentlich sauber!«

      Luise arbeitete nun schon seit einem halben Jahr im Nussbaum. Wirt und Wirtin waren anständige Leute, es gab gutes Essen und regelmäßig Lohn.

      Der April war ein verdrießlicher Monat, ganz und gar nicht zu Freundlichkeiten aufgelegt, und in Berlin wartete man ungeduldig auf den Mai. Doch das hatte weniger mit dem Wetter zu tun als mit der bevorstehenden Vermählung zwischen Prinzessin Marie von Preußen und Prinz Albert von Sachsen-Altenburg.

      Ach, sagte Luise, Hochzeiten seien so was von romantisch, sie müsse weinen, wenn sie nur schon daran denke, während die Wirtin murrte, bei den ganzen Blaublütern gehe es doch nie um Liebe und am allerwenigsten um Romantik, sondern lediglich um Namen, einen von Soundso und eine von und zu Irgendwas. Der Wirt ignorierte diesen ganzen Klatsch. Es gab wichtigere Dinge. Fußball zum Beispiel. Wie er gehört hatte, sollte der erste Berliner Fußballverein gegründet werden. Ein Fußballverein, der sinnigerweise Berliner Fußballclub Frankfurt heißen sollte und in dem nicht Fußball, sondern Rugby gespielt wurde. Doch solche Details scherten den Mann nicht.

      Noch bevor die adlige Verbindung und die sportliche Gründung vollzogen waren, betrat ein junger Mann den Nussbaum. Es waren nur wenige Gäste in der Schankstube. Ein paar Arbeiter ohne Arbeit spielten Karten, eine alte Jungfer schlürfte ihren Tee – Tee wurde im Nussbaum so gut wie nie bestellt –, der Schuster von nebenan debattierte mit dem Wirt über Fußball und Rugby, und Zille, der unauffällige Beobachter, saß diesmal schon am Tage an seinem Stammplatz.

      Der Fremde war eindeutig zu gut gekleidet für den Nussbaum, und die Gäste hielten kurz inne und drehten ihre Köpfe. Doch nach ein bisschen Glotzen widmete man sich wieder dem Sport, dem Spiel und der Teetasse.

      Luise kam der Gast irgendwie bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal hier gewesen wäre. Er bestellte Wein. Als sie ihm das Glas an den Tisch brachte, fixierte er sie mit sichtlichem Wohlgefallen.

      »Hab ich nicht gesagt, dass wir uns wiedersehen?«

      Vor Luise tauchten schemenhaft Bilder auf: Madame, die Villa, die Bewerberinnen und der junge Mann mit seinem Grinsen. Was wollte er hier? Und vor allem, was wollte er von ihr?

      »Ich erinnere mich. Se war’n in dem herrschaftlichen Haus. Aber warum sollten wir uns wiederseh’n? Braucht Madame ’n neues Dienstmädchen oder noch ’ne Küchenhilfe?«, fragte sie spitz.

      Der junge Mann ging nicht auf ihre Stichelei ein. »Sie können sich also erinnern. Ich weiß, dass ich bei Frauen stets einen bleibenden Eindruck hinterlasse.«

      »Se war’n ja nich zu überseh’n, damals.«

      Er zuckte nur mit den Schultern.

      Luise sah ihm ins Gesicht. Er war schön, aber er wirkte fordernd und überheblich, und eine seltsame Kälte umgab ihn.

      »Was wolln Se denn von mir?«, fragte sie so gleichgültig wie möglich.

      »Ich weiß noch nicht. Das Schicksal ist erfinderisch.«

      Sie schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an. So viel Arroganz war ihr noch nie begegnet.

      »Wie hamn Se mich jefunden?«

      »Wozu hat man Personal? Es war nicht schwierig für unseren Stallburschen, Ihnen zu folgen. Er schätzt solche Abwechslung. Im Frauenverein hat man mir auch gern Auskunft gegeben.«

      Luise drehte sich ab und ließ ihn allein am Tisch sitzen. Sie tat, als würde sie weiter ihre Arbeit machen, aber sie spürte, wie er sich zurücklehnte und sie beobachtete. Er tastete ihren Körper mit seinen Blicken ab, ein Schneider, der Maß nimmt. Sie gefiel ihm, mehr, als er sich eingestehen wollte. Ohne Eile trank er den Wein und dann, ganz plötzlich, stand er auf und warf einige Münzen neben das leere Glas. Er ging zur Ausgangstür, drehte sich aber im letzten Moment noch einmal um und sah Luise in die Augen.

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