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unter Barbaren.

      An einem Montagmorgen, es war Anfang September, wartete Luise mit einer Reihe anderer Bewerberinnen vor dem Dienstboteneingang eines prächtigen Anwesens. Man suchte eine neue Küchenhilfe – Kartoffeln schälen, Hühner rupfen, Gemüse putzen, Geschirr spülen, Gläser polieren, Pfannen und Kessel schrubben. Der bescheidene Eingang für das Hauspersonal befand sich auf der unfreundlichen Rückseite des Gebäudes, war Ein- und Ausgang für all jene, die auf der Schattenseite lebten. Punkt halb acht öffnete sich die schmale Tür. Ein Diener mit salbungsvollem Gehabe lotste die Fräuleins durch die Villa und zuletzt – »Husch, husch, Madame hat nicht den ganzen Tag Zeit!« – in einen Salon. Luise konnte ihr Staunen nicht verstecken. Noch nie hatte sie solche Pracht gesehen und vor allem noch nie so viel Sauberkeit. Eine der Bewerberinnen, ein Mädchen mit Mundgeruch und hängenden Schultern, sagte leise: »Bist wohl det erste Mal in so ’nem Haus. Oje, ’n Landei, wat vonner Großstadt noch keene Ahnung hat. Pass nur uff, dass de nicht stolpern tust vor lauter Aufrejung.«

      Madame hatte alle Bewerberinnen nebeneinander aufstellen lassen und schritt die Reihe ab. Mit vorgezogenem Kinn und unerbittlichem Blick taxierte sie diese dürftige Armee, während die seidenen Draperien ihres Kleides nervös auf und ab wippten. Madame fragte nicht nach Referenzen, wollte selber prüfen, ob die Bewerberinnen nicht zu blass waren oder sonst einen Makel hatten, einen Buckel oder schlechte Augen etwa, wollte sich selbst davon überzeugen, dass sie nicht husteten, zitterten oder an Ausschlägen litten. Dann pickte Madame ein rotbackiges Bauernmädchen heraus und hieß den Diener mit einer despektierlichen Handbewegung, die übrigen sofort wieder zum Ausgang zu bringen.

      Enttäuscht tappten die jungen Frauen hinter dem Mann in Livree her, leise und auch etwas gebückt, wie man es in solchen Häusern von Leuten wie ihnen erwartete. Auf dem Irrweg zurück zum Dienstboteneingang, dort, wo es etwas eng wurde, stand er, der Sohn des Industriellen, locker an die Wand gelehnt und begutachtete amüsiert die Parade der erfolglosen Bewerberinnen. Die meisten hielten den Kopf verschämt nach unten, andere kokettierten mit ihren Blicken oder lächelten den jungen Mann an. Als sich Luise an ihm vorbeidrückte, flüsterte er ihr zu: »Wir sehen uns wieder.«

      Luise spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Unsicher ging sie weiter, drehte sich dann aber doch noch einmal um. Der junge Mann war verschwunden.

      Danach ging sie auf direktem Weg zum Frauenverein. Sie war am Boden und musste einfach mit jemandem reden.

      Ein paar Wochen nach der erfolglosen Bewerbung in der Villa sagte man Luise, in der Fischerstraße sei eine Stelle frei. Ein Gasthaus suche eine Hilfskraft.

      D E R N U S S B A U M

       Die Fischerstraße Nr. 21 und das Schicksal

      Die Fischerstraße ging vom Cöllnischen Fischmarkt ab und gehörte zu den ältesten Straßen Berlins. Wie kaum eine andere Schenke an der Spree hatte die Nummer 21 Kneipengeschichte zu erzählen, eine Inschrift im Keller verwies auf das Baujahr 1571. Bereits damals war an diesem Ort deftig gebechert worden, und die gierigen Kehlen hätten bis weit über die Dämmerung hinaus nach Gerstengebräu gekräht, wäre nicht der Trommler vorbeigekommen, der den Ausschankschluss verkündete, und der Amtsdiener, der auf jeden Zapfhahn einen Kreidestrich machte, um am nächsten Morgen zu kontrollieren, ob der Hahn nicht doch noch einmal betätigt worden war.

      Es war die Zeit der Doppelstadt Berlin-Cölln, Johann Georg war zum Kurfürsten ausgerufen worden, im Grauen Kloster richtete sich das erste Gymnasium ein, und die erste Wasserleitung nahm ihren Dienst auf. Aber es war auch jene Zeit, als dem kurfürstlichen Münzmeister und Juden Lippold wegen Ketzerei und angeblicher Vergiftung des alten Kurfürsten der Prozess gemacht wurde. Eine einzige Hetzjagd, die damit endete, dass der Unschuldige vom Scharfrichter (Meister Balzer genannt) vor dem Rathaus bestialisch gefoltert wurde, bis ihm das Bluet zum Halse ausgelauffen sey. Danach schleifte man den Gepeinigten durch die vornehmsten Straßen Berlins und Cöllns – zu denen die Fischerstraße schon damals nicht gehörte –, um ihn auf dem Neuen Markt vor johlendem Pöbel mit Zangen zu martern, zu rädern, aufzuschneiden, seine in Viertel geteilten Überreste an Galgen zu henken und seinen Kopf auf St. Georgens Tor aufzuspießen. Ein schrecklicher Justizmord, der zur Folge hatte, dass wie schon 1510 wieder einmal die Juden aus der Mark vertrieben wurden.

      Kaum dass der arme Lippold hingerichtet worden war, fraß sich die Pest durch Berlin und Cölln und nahm viertausend Seelen mit, gleichgültig, ob sie noch an der Nabelschnur hingen oder bereits mit einem Fuß im Grab standen. Dumm nur, dass keine Juden mehr da waren, denen man wie üblich die Schuld an diesem Sterben hätte zuschieben können.

      Hinrichtungen, Seuchen und allen anderen Nöten zum Trotz wurde im Gasthaus in der Fischerstraße Nummer 21 stets tüchtig gebechert und gejohlt, auf dass man für ein paar Stunden die schweren Zeiten vergessen konnte.

      Jahrhunderte später gab es in Berlin einige Wasserleitungen mehr und auch wieder zahlreiche Juden. Zwar waren Pest, Scharfrichter und Marter längst Vergangenheit, die industrialisierten Leiden waren anderer Natur, aber das Leben war immer noch hart.

      Die Schenke nannte sich seit einiger Zeit Restaurant zum Nussbaum. Jetzt, am Abend, war die Gaststube randvoll mit Hinz und Kunz, mit dem kleinen Mann und mit der alten Schlampe, mit dem gemeinen Volk, mit Pöbel und auch mit etwas Gesindel. Es wurde geschwatzt und geschnattert, und manch eine Berliner Schnauze lief zur Höchstform auf.

      »He, Minna, ollet Haus, bring janz schnell ’ne Molle un ’n Korn rüba, sonst tu ick hier noch uff ’m Trockenen verreck’n wie ’n Fisch an ’m Ufer vonner Spree, tu ick, hicks!«, rief ein runzliger Alter, mehr Lücken als Zähne im Mund, und hielt seinen gekrümmten Arm, der einige Gemeinsamkeiten mit einem morschen Ast aufwies, in die Höhe. Hinter dem Tresen stand Minna, Übermutter und General in Personalunion, ihre stämmigen Arme angriffig in den Seiten. »Mach nich so ’n Wirbel, Männeken. Hast schon jenug jehabt.«

      In seiner Ecke saß wie gewohnt der sechsundzwanzigjährige Heinrich Zille. Er war ein unauffälliger Gast. Meist trank er ein Schultheiss, das es nun auch in diesen praktischen Flaschen gab. Doch es war nicht nur das Bier, es waren die Hinterhofgesichter, die ihn in den Nussbaum zogen. So wie etwa die grobe Visage, die in Plötzensee elf Monate lang Striche in die narbige Zellenwand geritzt hatte und ihm nun gegenübersaß. Das Gesicht des Mannes erinnerte ihn irgendwie an den Eisbock am Schlesischen Tor, dieses Unding von einem Gebäude, kaum größer als ein Felsblock, geschundene Fassade und zwei Fenster, stumpf und ausdruckslos wie die Augen des Exsträflings, und mittendrin eine Tür, schief und krumm wie dessen gebrochene Nase.

      Zille war Karikaturist und ein scharfer Beobachter der Berliner Randgesellschaft. Er studierte das Leben, wie es soff, johlte und feierte, wie es schluchzte, rumhurte und fluchte. Er zeichnete Faltige und Narbengesichter, das Alter und die verkaufte Jugend, kleine Leute in rauem Zwirn, Dirnen und Wäscherinnen mit fetten Hinterteilen, Kinder mit Zahnweh, Mütter ohne Bleibe, Straßenköter beim Pinkeln, den Mann mit dem Leierkasten, Trockenwohner beim Umzug, Waschweiber beim Tratschen und ausgebuffte Spitzbuben beim Mopsen – die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die vornehmen Herrschaften interessierten ihn nicht. Die würden alle gleich aussehen, sagte er, ihre Gesichter hätten nichts zu erzählen, seien Bücher mit leeren Seiten.

      Ursprünglich sollte Heinrich Schlachter werden, Hammel und Kälber zerlegen und Koteletts aus Schweinen schneiden. Ein blutiges Metier, aus dem er floh wie ein Deserteur von den Schlachtfeldern. Das Schicksal hatte ein Einsehen mit ihm, und er kam zu Meister Hecht in die Lehre, wo er das Handwerk des Kunstmalers erlernte. Das Atelier in der Alten Jakobstraße lag zwei Stockwerke über dem stadtbekannten Ballhaus Orpheus, wo reichlich sonderbare Gestalten ein- und ausgingen. Seltsame Herrschaften, die der junge Zille nicht nur aufmerksam beobachtete, sondern in seiner Freizeit auch mit Hingabe zeichnete.

      Im Atelier Hecht konnte man mit derlei Figuren nichts anfangen, denn das deutsche Volk dürstete mehr nach dem Heroischen. Da sich kaum jemand Originale leisten konnte, wurden billige Reproduktionen in ansehnlichen Stückzahlen gedruckt. Das Bedürfnis war tatsächlich groß, denn die deutschen

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