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Bilderrahmen, dachte Luise.

      »Ich möchte nach Berlin«, sagte sie.

      »Die Berlin-Stettiner-Eesenbahn fährt Se über Eberswalde jeradewegs in de Hauptstadt. Se landen direkt im Stettiner Bahnhof, un det mit preußischer Pünktlichkeet, meen Fräulein«, sagte er mit dem Charme eines Fahrplans.

      »Na, dann nehm ich ’n Billett Berlin einfach, vierte.«

      Der Staatsdiener zog seine Stirn in Falten und spitzte die Lippen. Hätte sie wenigstens dritte Klasse verlangt, wäre er noch zu gewissen Freundlichkeiten bereit gewesen. Indes, bei jenen, die lediglich vierte kauften, war jedes Lächeln zu viel. Vierte, immerzu vierte! Alle wollten sie nach Berlin, und alle hatten sie nichts in den Taschen, die waren ebenso leer wie ihre Bäuche. Er nannte den Fahrpreis. Nachdem sie ihre Münzen abgezählt hatte, lauter Kupfer, schob er ihr missmutig die Fahrkarte hinüber. Dann sah er zur Uhr hoch, die einsam an der Wand hing, und ergänzte: »De Bahn fährt in jenau neun un eener halben Minute ein.« Das Leben des Schalterbeamten war eingeteilt in Ankunfts- und Abfahrtszeiten, Pünktlichkeit das Einzige, was in ihm Glücksgefühle auszulösen vermochte. Verspätungen waren eine Katastrophe, Grund genug, sich an der Bahnhofsuhr zu erhängen.

      Luise sah auf das Billett in ihrer Hand. Die Farbenlehre der Preußischen Staatsbahn war unmissverständlich. Die Billetts der ersten Klasse waren gelb, eigentlich goldgelb, um genau zu sein, jene der zweiten waren grün und erinnerten ein wenig an saftige Viehweiden, die der dritten waren immerhin braun, wie Leder oder Kartoffelpellen, und die der vierten, die hatten dieses schmutzige Grau, nun ja, die Farbe von Mäusen und Ratten war schöner. Die weitaus größte Zahl der Passagiere löste Grau, fuhr Holzklasse. Ein Begriff aus besseren Zeiten, als es in dieser Reisekategorie noch Holzbänke gab. Doch das Holz war vor ein paar Jahren entfernt worden. Wer Vierte fuhr, der hatte zu stehen.

      Die Eisenbahn rollte in einem Wirbel aus Schall und Rauch in den Bahnhof ein, und manch einer dachte, die Hölle hätte sich wahrhaftig geöffnet und schickte nun ihre stinkigen Dämpfe in die Welt der Sünder, um sie an ihre wahre Bestimmung zu erinnern. Der Wagen der vierten Klasse hing am Schluss des Zuges, dort, wo die Funken stoben und die Reisenden Ruß und Staub schluckten. Während es in der Plüschklasse kaum Fahrgäste gab, war es im hintersten Wagen gerammelt voll, die Passagiere standen wie Korn zwischen Mühlsteinen, und Luise fand sich in einem wirren Gewühl aus Taschen, Säcken und Bündeln wieder, war eingeklemmt zwischen Lausbuben, Hunden, Hühnern und Wanzen, zwischen Zahnlücken, zottigen Bärten und verfilzten Locken, zwischen fleckigen Beinkleidern, abgeschabtem Leinen und ausgefransten Röcken. Sie klammerte sich an den Riemen, der von der Decke herunterhing, momentan der einzige Halt in ihrem Leben. Der Gestank menschlicher wie technischer Ausdünstungen stach ihr in die Nase, ein Gemisch aus schweißenden Füßen und nässenden Achseln, aus gärenden Säften und aus jenen Elementen, die die Welt bewegten – Eisen, Flugrost und Kohlenstaub.

      Neben dem Einstieg hing ein Schild: Nicht in den Wagen spucken.

      Zischend und ratternd setzte sich das Gefährt in Bewegung und durch die glaslosen Fenster, wo in den Wintermonaten Schnee und Kälte hereinwirbelten, wehte nun ein angenehmer Fahrtwind. Wie ein übergroßer Pflug räderte die Bahn durch die Landschaft und geriet am späten Nachmittag in den Sog von Berlin. Äcker und Wälder verschwanden aus dem Bild, dafür wurde das Netz aus Schienen und Straßen immer dichter, wie die Flussarme in einem Delta, und die Häuser wuchsen höher als jeder Baum. Spuckend und schnaubend fuhr die Bahn im Stettiner Bahnhof ein, kam mit einem heftigen Rucken zum Stehen, und die Passagiere ergossen sich aus den Waggons. Luise hielt sich immer noch krampfhaft an ihrem Riemen fest. Nun hatte sie doch die Angst gepackt vor diesem Moloch Stadt und der Ungewissheit, die darin lauerte.

      Sie stieg als Letzte aus, musste sich durch die neuen Passagiere schieben, die bereits wieder in den Zug drängten. Unsicher sah sich Luise in der Halle um, hob ihren Kopf und staunte in das mächtige Gewölbe des riesigen Bahnhofes, in dem man ihr ganzes Dorf mitsamt der Kirche hätte unterbringen können. Sie kam sich verloren vor in diesem Eisenbahnpalast, ging schnell zum Ausgang und schlüpfte durch eines der hohen Portale ins satte Licht. Sie trat auf einen weiten Platz, schaute nach rechts, schaute nach links und dann zurück auf die hohen Rundbogen und die kantigen Türme des Bahnhofs.

      Luise hielt ihr Bündel fest umklammert, als könnte es ihr ein wenig Halt bieten. So sehr sie auch nach einem Anhaltspunkt suchte – nichts als Straßen, Fassaden, Räder, Pferde und Menschen, und dann der Rauch, der sich nicht weit von hier durch die Fabrikschlote zwängte und über den Dächern waberte.

      Luise wollte jemanden fragen, welche Richtung sie einschlagen solle, doch sie wusste nicht, wonach sie hätte fragen sollen, kannte nicht einmal den Namen einer einzigen Straße. Sie war auf einem fremden Planeten gelandet.

      D E R S O H N D E S I N D U S T R I E L L E N

       Geld, sehr viel Geld und das Milljöh

      Der Industrielle und seine Familie saßen beim Abendbrot. Auf der Tischdecke aus weißem Damast stand das Meissener Porzellan mit klassischem Zwiebelmuster, die Servietten hatten ein persönliches Monogramm, Kristall und Tafelsilber waren in korrekter Gangreihenfolge millimetergenau platziert. Wenn Preußen etwas hassten, dann die Unregelmäßigkeit der Dinge. Die Tischmitte dominierte ein silberner Tafelaufsatz mit einem dramatischen Blumenbouquet. Neben den mit reichlich drapiertem Brokat dekorierten Fenstern standen Marmorstatuen in griechischer Manier, von den Decken wölbte sich der Stuck, Teppiche dämpften die Schritte, und die Kristallklunker an den Kronleuchtern klimperten und strahlten.

      Die purpurroten Tapeten waren mit allerlei Gewalttätigem behängt. Da gab es wuchtige Schlachtengemälde, auf denen man jeden Blutstropfen erkennen konnte, und die in historisch richtiger Abfolge nebeneinander hingen, namentlich die Bataillen von Dessau, Nördlingen, Fehrbellin, Waterloo und Königgrätz. (Waterloo übrigens nicht wegen der Franzosen oder der Engländer, sondern wegen der tapferen Preußen unter Marschall Blücher, die den Briten zu Hilfe gekommen waren, und ohne die dieser grässliche kleine Franzose natürlich nie und nimmer besiegt worden wäre.) Kostbare Gobelins mit akribisch genau dargestellten Jagdszenen bereicherten die Wände. Auf dem Prunkstück verblutete ein Hirsch im Abendrot, und auf einem anderen rissen Schweißhunde einen Fuchs in Stücke.

      Zwischen all diesen Gemetzeln gab es immerhin noch Platz für ein paar nette Familienfotos. Vater als Ehrengast während der Parade zur feierlichen Einweihung der Siegessäule am 2. September 1873, daneben sein Vetter Christian, der vor einer achtzehnpfündigen Haubitze posierte, und unter den beiden hingen Onkel Ferdinand in der Uniform des Kürassier Regiments 2 und seine unverwüstliche Frau Hildegard in voller Safarimontur neben einem ausgestopften Tiger, aufgenommen im tiefsten Winter 1876 im Atelier von Herman Koch – Hofphotograph Ihrer Majestät der Königin von Rumänien – in Neuwied, Engerser Straße 86.

      An einer kleinen, unscheinbaren Wand zwischen zwei Türen waren auch noch die Aufnahmen der drei Töchter und der Ehefrau zu bewundern und sogar ein paar bereits etwas verblasste Lichtbilder mit den ungeliebten Verwandten. Nur vom Sohn gab es kein Foto, und das hatte seine Gründe.

      Unter dieser beeindruckenden Sammlung preußischen Kulturgutes ließen sich der Industrielle, seine Frau und ihre vier erwachsenen Kinder das Essen von der Dienerschaft servieren. Der Hausherr saß reglos da, seine Gattin saß reglos da, die drei Töchter im heiratsfähigen Alter saßen reglos da. Kein Ton wurde gesprochen, und als sie zu essen begannen, waren ihre Bewegungen kaum wahrnehmbar. Es war eine Tafelrunde lebender Toten. Einzig der Sohn, dreiundzwanzig, Student und Lebemann, lümmelte sich in seinem Stuhl und grinste. Er ignorierte das Hofzeremoniell seines alten Herrn und passte so gar nicht in diese Familie, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie es in jeder Situation verstand, den Schein zu wahren. Nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber sich selbst.

      Der Junior scherte sich keinen Deut um die Regeln der oberen Tausend, wollte sich nicht von Konventionen einschnüren lassen. Er wollte Spaß. Wenn Mama die Hautevolee zu einer Abendveranstaltung einlud, langweilte er sich zu Tode. Steif wie gefrorene Heringe saßen die Gäste in ihren

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