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und sie zum Tanz baten oder mit ihr spazierengehen wollten, wurde ihr klar, dass etwas an ihrem Äußeren war, das dem anderen Geschlecht gefiel. Nur, für Luise gab es keine munteren Tänze, keine Volksfeste und keine Spaziergänge unter lauschigen Linden. Mutter sagte, Tanzen und ähnliche Vergnügen seien nichts für anständige Mädchen.

      Trotz allem hatten die tristen Jahre im freudlosen und bigotten Elternhaus Luise nicht stauchen können. Sie war froh über die Marktfahrerei, die sie aus der Gleichförmigkeit ihres Lebens riss, wurde offener und entwickelte eine ansteckende Lebenslust. Ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht wuchsen, ihrem vermeintlich vorgezeichneten Lebensweg womöglich doch noch eine andere Richtung geben zu können.

      In jener Nacht, als die Siebzehnjährige den elterlichen Hof verließ, hatte sie nichts im Kopf außer einem Namen, einer Vision, einem Traum: Berlin. Zwar kannte sie dort keine Menschenseele – bei den engstirnigen Hartwichs pflegte man keinerlei Beziehungen. Und auch die reiche Witwe konnte ihr keine Unterstützung bieten. Schon zu lange lebte sie zurückgezogen in ihrer Oase abseits der großen Veränderungen, und was sie zu erzählen hatte, waren nichts weiter als Anekdoten aus einer weit zurückliegenden Zeit. Doch das alles schreckte Luise nicht. In Berlin, das wusste sie, pulsierte das Leben. Und sie verlangte nicht viel. Nur ein winzig kleines Stückchen Glück.

      F A B R I K E N

       Schornsteine, Kamine, Schlote und Firmenschilder

      Im Jahr eins des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin eine einzige Maschinenfabrik, die ganze vier Arbeiter beschäftigte. Während in England und Frankreich bereits die Schornsteine qualmten, döste die Stadt an der Spree noch vor sich hin. Doch das Knattern und Kesseln des europäischen Fortschritts wurde immer lauter, und schon bald wucherten auch in Berlin die Fabrikschlote in den Himmel und spuckten Dampf und Rauch aus. Immer mehr puffte es aus allen Rohren, und die schwarzgrauen Zeichen der Zivilisation nieselten als rußiger und klebriger Nebel über die Stadt. Feuerland und Birmingham der Mark wurden die Industriegebiete am nördlichen Stadtrand hinter dem Oranienburger Tor genannt. In der Mörderhitze der Hochöfen und in den stumpfen Werkhallen schufteten ganze Armeen von Arbeitern und legten Hand an, damit das Deutsche Reich nie wieder zum Stillstand kommen solle. Lokomotiven und Eisenbahnwaggons, Ventilatoren, Kreiselpumpen, Dampfkräne und Dampframmen, Bergwerks- und Fördermaschinen, Schwingpflüge, Minen, Torpedos und Gewehre verließen die Fabriken mit einer Geschwindigkeit, wie andernorts Rüben aus dem Boden gezogen wurden. Der Hunger auf billige Arbeitskräfte war groß, und die ländlichen Gebiete versorgten die Großstadt zuverlässig mit Kartoffeln, Obst, Gemüse, Eiern und jeder Menge jungen Fleisches.

      Fabrik hieß das Zauberwort der Zeit, es versprach Wohlstand und Fortschritt. Die Namen der Fabrikanten hatten mehr Klang als jene des alten Adels, rochen nicht mehr nach dem Staub der Geschichte, sondern nach Dynamik und Veränderung. Eine Welle von beherztem Unternehmertum hatte die Hauptstadt ergriffen. Immer mehr Firmenschilder klebten an den Fassaden, um in fröhlichen Lettern den Anbeginn einer neuen, glorreichen Epoche zu verkünden, und kein Geschäft war zu klein, um sich nicht stolz Fabrik zu nennen.

      Da gab es die großen Fabriken, deren Namen so roh klangen wie der Lärm, der durch ihre Mauern drang: Maschinen- und Waggonbau-Fabrik, Eisengießerei und Maschinenfabrik, Artillerie-Werkstätten und Gewehrfabrik. Und da gab es die kleinen Fabriken, die ihren Firmensitz oft in einem stickigen Schuppen oder einem verwinkelten Hinterhof hatten. So etwa die Blusen und Rock Fabrik, in der sich sechs Frauen für ein Butterbrot die Finger wund nähten. Oder die Wurst-Fabrik, bestehend aus vier kräftigen Oberarmen (Meister und Metzgergeselle) und einer halben Portion (Lehrling). Über dem Ladenlokal der Strumpfwaren & Trikotagen Fabrik hing ein besonders schönes Schild. Der Familienbetrieb gehörte einer geschäftstüchtigen Matrone, die drei Mitarbeiterinnen beschäftigte, alle drei ihre Töchter und alle drei minderjährig. Man musste zusehen, wie man über die Runden kam, nachdem sich der Vater dünnegemacht hatte, dieser Schuft.

      Jene, die weder in den großen noch in den kleinen Fabriken unterkamen, nähten in der Enge ihrer Stuben für ein paar Pfennige Mäntel, immer unter Druck, damit sie die Raten für die teuren Nähmaschinen bezahlen konnten. Oder sie fertigten Ballonmützen, Damenhüte, Uhrketten, billigen Schmuck, Stoffblumen und anderen Tand. Eine Ära der Eitelkeiten war angebrochen, und man konnte beinahe alles verkaufen, was den Menschen ein wenig ansehnlicher machte.

      Während die Mädchen Socken im Akkord strickten oder in den Textilfabriken an den rumpelnden Maschinen standen, krochen die Knaben durch die Maulwurfgänge in den Kohlengruben und Minen, verdingten sich als Laufburschen oder Stalljungen, versuchten den Passanten irgendwelchen Kram aufzuschwatzen oder stahlen, was das Zeug hielt.

      In Berlin drehten sich die Räder immer schneller, die Stadt wurde fetter und fetter, ein unersättliches Weib, das aus dem Korsett zu platzen drohte. Obwohl längst der Kollaps drohte, drängten immer mehr Zuwanderer vom Land in dieses dampfende und schnaubende Ungetier. Im Eilzugstempo wurden Mietskasernen aus dem Boden gestampft, Geschoss um Geschoss wurde aufeinandergeschichtet, Wohnkomplex an Wohnkomplex gereiht, massig und grau wie Berge. Wohnfabriken ohne Luft und Licht, ein einziger Irrgarten aus Hinterhöfen – erster Hof, zweiter Hof, dritter Hof, vierter Hof, durchnummeriert wie Soldaten beim morgendlichen Abzählen. Die Armut zog in die Mietskasernen, und ihr Geruch klammerte sich an die Wände und ließ sie nicht mehr los.

      Trockenwohner zogen mit ihrer armseligen Habe in feuchte Neubauwohnungen, bis diese für reichere Leute bewohnbar waren. Sie blieben nie lange, jene, die eigentlich Feuchtwohner heißen sollten, schauten sich bald nach dem Einzug wieder nach was Neuem um, das noch nass und billig war. Zehntausende hatten gar kein Obdach, verkrochen sich in elenden Kellerwohnungen oder teilten sich die Flohkiste mit einem anderen armen Schlucker. Arbeiten im Sechzehnstundentakt. Schlafen in Schichten.

      Das Bürgertum schlief gut in jenen Zeiten.

      D I E E I S E N B A H N

       Billetts, Gepäck und der Komfort der Preußischen Staatsbahn

      Es war heiß, als Luise Richtung Südwesten unterwegs war. Am wolkenlosen Himmel loderte die Sonne mit einer solchen Intensität, als wollte sie ganz Brandenburg in Flammen setzen. Stunden über Stunden folgte die junge Frau den Landstraßen, die sich an Feldern vorbeischlängelten, auf denen sich Bauern und Tagelöhner unter der sengenden Sonne abplagten, sie durchquerte verschlafene Dörfer, in denen die Zeit rückwärts ging, und kam an Kirchen vorbei, deren Turmspitzen in Richtung Paradies zeigten, einen Ort, der unendlich weit weg lag von jeglicher irdischen Realität und von dem man, wie Luise vermutete, nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, ob er auch wirklich existierte.

      Als sich die Sonne gegen den Nachmittag schob, kam sie kaum noch vorwärts. Die bleierne Glut setzte ihr zu. Der mehlige Staub von den Schotterstraßen hing in ihrer Kleidung und in ihrem Haar, sie glich einer Siedlerin, die seit Wochen auf einem Planwagen unterwegs war, nichts vor sich als die unendliche knochentrockene Weite des Westens und der abgemagerte Hintern ihres Pferdes. Sie fühlte sich ausgelaugt und entschloss sich, den Rest der Strecke mit der Eisenbahn zu fahren.

      Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, wahrscheinlich hatte sie auch ein paar Umwege gemacht, und deshalb erkundigte sie sich bei einem verfilzten Etwas von schätzungsweise neun Jahren, ob es hier in der Nähe einen Bahnhof gebe. Der Bengel zeigte mit seinem hageren Ärmchen nach Süden und kratzte sich mit dem anderen eine Laus aus dem wirren Haar. »Da runter musste jehn. Da is der Mündesee, und gleich da is de Station von Anjermünde.«

      Wie die meisten Bahnhöfe der Preußischen Staatsbahn war auch der von Angermünde ein normierter Reißbrettbau aus roten Ziegeln, mit Aufenthaltsräumen für die Bahnwärter und Bürodiener, mit einem geräumigen Güterschuppen für den wichtigen Warentransport und mit den Wartesälen der ersten und zweiten Klasse.

      Im Billettverkaufsbureau roch es nach Leinöl, und bis auf das aufgeregte Surren der

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