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Leo&Ludwig. Dominique Anne Schuetz
Читать онлайн.Название Leo&Ludwig
Год выпуска 0
isbn 9783943941401
Автор произведения Dominique Anne Schuetz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
B É A T R I C E U N D CO N S T A N Z E
Adel und Médecins
Hundertsechsundfünfzig Jahre später unterhielt sich der Bourbonenkönig Louis XIV. mit seinem Lieblingsbildhauer François Girardon über den Stand der Arbeiten für den Schlossgarten von Versailles. Es handelte sich um die neuste Skulpturengruppe Apollon servi par les nymphes, ein Meisterwerk aus feinstem Carrara-Marmor, das den Gott inmitten von sechs spärlich bekleideten Meerjungfrauen zeigte, die ihm die göttlichen Hände und Füße wuschen. Während Girardon versuchte, ein ernsthaftes Gespräch über Bildhauerei zu führen, tänzelte ein aufgeregter Minister um den Sonnenkönig und seinen Künstler herum. Ihm war die heikle Aufgabe zuteil geworden, Majestät ausgerechnet jetzt über den Verlauf der Feldzüge gegen die Niederlande zu informieren.
Just zu dem Zeitpunkt, als sich der Herrscher über Europa mit Kunst und Krieg beschäftigte, der höchst mimosenhafte Hofbildhauer eine säuerliche Miene zog und der kleinmütige Minister mit seinen faulenden Zähnen an einem Fingernagel raspelte, schrie die Frau eines einflussreichen Herzogs vor Qual auf. Sie lag in den Wehen.
Ein staubigtrockener Sturm fegte über das Land, schlug gegen die Fensterscheiben des Châteaus, rüttelte an ihnen, als wollte er sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Es wurde Abend, noch immer zog es durch jede Ritze, und die Kerzen flackerten und warfen verzerrte Schatten an die Wände des prunkvollen Schlafgemachs. Der Gebärstuhl stand längst bereit, aber das Kind wollte nicht kommen. Die Duchesse litt nun schon seit über zwei Tagen und fieberte sogar, und der anwesende Geistliche witterte bereits die Anwesenheit des Höllenfürsten und drängte zur letzten Ölung. Die Gefahr, dass Madame samt der ungeborenen Frucht vom Tode dahingerafft würde, stieg von Stunde zu Stunde. Da Aderlasse, Arzneien, gutes Zureden und selbst die Gebete nichts genützt hatten und die Leibärzte mit ihrem dürftigen Latein längst am Ende waren, entschieden sie sich zu einem chirurgischen Eingriff. Allerdings waren ihre Kenntnisse in diesem Bereich dermaßen dürftig, dass sie den Kaiserschnitt mehr als kläglich durchführten. Nach einem blutigen Gemetzel – auf einem Schlachtfeld hätte es nicht wüster aussehen können – verblutete die Duchesse unter den Händen der Médecins. Was blieb, war ein schleimiges und blutiges Knäuel, ein Stück abartiges Fleisch mit gurgelnden Lauten, Zwillingsmädchen, aufs Schrecklichste aneinandergewachsen. Fassungslos glotzten die Ärzte auf dieses Ding, von dem sie noch weniger Ahnung hatten als von einer Entbindung mit dem Messer. Zwar hatten die studierten Herren schon einmal einen Kupferstich des berühmten Colloredo gesehen – dem Genueser Grafen Lazarro Colloredo wuchs ein halber Zwilling aus der Brust –, doch zwischen einem Kupferstich und der Realität lagen Welten.
Die Leibärzte befanden sich in einer heiklen Lage. Durch ihren Pfusch hatten sie die schöne Duchesse ins Reich der Toten befördert und dafür dieser Doppelmissgeburt zum Leben verholfen. Das würde ihnen der Duc sehr übel nehmen. Zudem waren die Zeiten unsicher. Womöglich würden sie, als Geburtshelfer dieser Teufelsbrut, noch der Ketzerei bezichtigt. Oh Gott, oh Gott, in was für eine Bredouille waren sie da geraten! Keine Frage, sie mussten einen Weg finden, um die Säuglinge loszuwerden. Wie die Wäscherinnen an den Ufern der Seine tuschelten und berieten sich nun die Médecins, bis ihre Allongeperücken stoben und schief über ihre geröteten Ohren rutschten. Nach längerem Hin und Her rangen sie sich zu einer etwas überspannten, aber doch einigermaßen plausiblen Erklärung durch, die sie gemeinsam dem Edelmann vortrugen. Mit bekümmerten Mienen machten sie ihm klar, dass er Vater von Zwillingen geworden sei, doch diese eine fürchterliche, leider unheilbare und überdies hoch ansteckende Krankheit hätten, weshalb die Kinder unmöglich in seinem Umfeld belassen werden könnten.
Noch in jener stürmischen Nacht wurden die verwachsenen Mädchen – ohne dass sie der Vater je zu Gesicht bekommen hätte – ins Hinterland verbracht, wo sie zuerst einer Amme und später einem kinderlosen Bauernpaar übergeben wurden. Die armen Leute erhielten zwar einen Beutel, mehr schlecht als recht mit Münzen gefüllt, aber vor allem wurde mit Folter in den Kerkern der Bastille gedroht, falls die Herkunft der Kinder nicht geheim bliebe.
Jahr um Jahr ging ins Land. Der König führte ausnahmsweise keinen Krieg, sondern unterschrieb Friedensverträge, die Königin bekam einen weiteren Zwerg geschenkt, der sie in ihrer Langeweile etwas aufheitern sollte, und der verwitwete Duc hatte seine Frau und die Kinder längst vergessen, vermochten ihn doch die liebestollen Kurtisanen am Hofe bestens von seinem Verlust abzulenken.
Die Zwillingsmädchen indes, die auf die Namen Béatrice und Constance hörten, wuchsen, versteckt vor der Außenwelt, auf dem entlegenen Bauernhof heran. Das Unglück geschah kurz nach ihrem sechsten Geburtstag – da verließen sie trotz Verbot ihre eingezäunte Welt, um zu sehen, was draußen so vor sich ging. In Anbetracht ihrer körperlichen Behinderung ziemlich tapsig und nur unter großer Anstrengung gelangten sie auf eine Landstraße. Zwei Stunden später lagen sie in ihrem Blut, waren, weil man sie für Ausgeburten der Hölle hielt, zu Tode geknüppelt worden. Natürlich im Namen Gottes, dem man wie immer die Verantwortung für derlei Schandtaten zuschob.
»… ein Theil der Sammlung ist nicht aufgestellt, auf den ich einen gewissen Werth lege. Das ist nämlich das, was man im wissenschaftlichen Sinne die Teratologie nennt, d. h. die Lehre von den ›Wundern‹. Terata sind im alten Sinne das, was die Lateiner Monstra nennen: jene ganz unerhörten und unbegreiflichen Sachen, welche gelegentlich am Menschen entstehen.«
Professor Rudolf Virchow anlässlich der Eröffnung des Pathologischen Museums der Charité am 27. Juni 1899. Das Museum enthielt zum Zeitpunkt der Einweihung 20 833 Präparate. Darunter eine Reihe siamesischer Zwillinge.
L U I S E
Der Traum von der großen Stadt
Die Entbindungsanstalt, eingerichtet im ehemaligen Pockenhaus, befand sich in der Dorotheenstraße 31 und war bereits für den Abbruch vorgesehen. Doch vorerst hielt sich das zweiflügelige Gebäude noch auf seinem porös gewordenen Fundament, mit bröckelnder Außenhaut, knarrend und ächzend. Der Bau stand gegenüber der Artillerie-Kaserne und in unmittelbarer Nähe von Finanzministerium, Friedrich-Wilhelms-Universität und Singakademie, war also umrahmt von all dem, was dem preußischen Bürgertum wichtig war: Militär, Geld, Wissenschaft und Kultur.
Die Nacht hatte den Lärm, der diese Stadt tagsüber beherrschte, in den Hintergrund gedrängt, und abgesehen vom Rauschen des Regens gab es in den Straßen, Hinterhöfen und Gassen fast so etwas wie Stille. In der Entbindungsanstalt war es ausnahmsweise mehr als nur still, man konnte die Mäuse husten hören und das Gurgeln des Wassers in den Leitungen zwischen den Wänden. Die leeren Gänge des Altbaus verliefen sich in einem Dunst aus Düsternis, nur hinter einem Schreibtisch saß im Lichtkegel einer Petroleumlampe eine Nachtschwester und machte eifrig Notizen. An der Wand hinter ihr hing ein zerzauster Kalender. Er zeigte das Jahr 1886. Doch es war nicht der neunte Juni, wie das Kalenderblatt behauptete, sondern bereits der zehnte, denn Mitternacht war schon seit über einer Stunde vorbei.
Eine junge Frau, ärmlich gekleidet und mit verzweifeltem Blick, schleppte sich durch den Flur. Als sie endlich vor der Nachtschwester stand, reagierte die Pflegerin gelassen.